USA 2023 · 117 min. · FSK: ab 12 Regie: A.V. Rockwell Drehbuch: A.V. Rockwell Kamera: Eric Yue Darsteller: Teyana Taylor, Aaron Kingsley Adetola, William Catlett, Terri Abney, Delissa Reynolds u.a. |
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Diese raren Momente familiärer Nähe... | ||
(Foto: Universal) |
I will take the sun in my mouth
and leap into the ripe air
Alive
with closed eyes
to dash against darkness (...)
- e.e. cummings, i will wade out
Nach den zahlreichen filmischen Neuschreibungen afro-amerikanischer Geschichte in Filmen wie Barry Jenkins’ Underground Railroad, Kasi Lemmons Tubman-Filmbiografie Harriet oder auch Liesl Tommys Ella Fitzgerald-Film Respect, in denen konsequent historische Großereignisse- und Figuren afro-amerikanischer Selbstermächtigung dem Vergessen entrissen wurden, tut es gut, einen Film zu sehen, der wie Steve McQueens großartige Serie Small Axe auf nichts Großes, sondern die kleine Alltagsmisere, aber auch die lodernde Resilienz schwarzer Kultur fokussiert.
Ist es bei McQueen das London der späten 1960er und frühen 1980er, das wie eine Lebenstapete die Grundierung für die Lebenslinienmaserung bildet, sehen wir in Rockwells Debüt das New York zwischen den frühen 1990ern bis in die 2000er, ist es die unheimliche Transformation des New Yorks von Bürgermeister Rudy Giuliani zu dem von Michael Bloomberg, der wir durch die immer wieder überragend von Großaufnahme zu Detail schraubenden Kamera von Eric K. Yue beiwohnen. Sehen zuerst den wilden Zeiten angemessene, fast schon impressionistische Handkameramomente, die mehr und mehr durch einen elegischen Fokus abgelöst werden, sehen wie das Auge der Regisseurin über grandiosen Dächeransichten, die mit den politischen und kontroversen Reden der Bürgermeister unterlegt werden, und sehen wie sich die Kamera immer tiefer ins alltägliche Leben bohrt, bis wir – immer wieder von neuem – in einem veränderten Harlem und New York ankommen, und mit der Geschichte von Inez (Teyana Taylor) und Terry (Aaron Kingsley Adetola, Aven Courtney und Josiah Cross mit 6, 13, bzw. 17 Jahren) konfrontiert werden. Einer Geschichte von vielen, einer von tausendundeiner.
Teyana Taylor, die bislang ausschließlich als Sängerin, Tänzerin und Model arbeitete, gibt hier ein faszinierendes schauspielerisches Debüt, das ähnlich signifikant singulär und den Film strukturierend ist wie Leonie Beneschs Auftritt in İlker Çataks Lehrerzimmer. Auch in Rockwells Drama steht eine Frau im Mittelpunkt, die für eine sehr persönliche, nicht immer nachzuvollziehende Gerechtigkeit kämpft, mehr noch nach ihrer Entlassung aus dem Strafvollzug und einem Erfahrungshorizont, der sie zu einer unnahbaren, latent aggressiven Persönlichkeit hat werden lassen, die so intuitiv wie berechnend versucht, das in ihrem Leben zu retten, was noch zu retten ist. So nähert sie sich nach ihrer Haftentlassung wieder ihrem sechsjährigen Sohn an, der in einer Pflegefamilie lebt, und entführt ihn, statt den wohl kaum gangbaren Behördenweg zu nehmen und baut sich über die Jahre eine neue Existenz, eine neue Familie auf.
Rockwell zeigt dieses Aufbegehren gegen die eigene Kriminalisierung und ein afro-amerikanisches Schicksal in der üblichen Armutsspirale in einem ruhigen, mäandernden Erzählfluss, fokussiert auf den Alltag mit dem neuen Freund Lucky (Will Catlett), der ein wenig unfreiwillig zum Stiefvater von Terry wird.
Das sind Bilder, wie sie auch in den Vaterfigur-Sohn-Szenen in Barry Jenkins’ Moonlight zu sehen sind, aber Rockwell blendet nicht so konzentriert und kontinuierlich auf das Coming-of-Age wie Jenkins es tut, sie verliert den Jungen dann und wann auch fast aus den Augen, um dann plötzlich wieder ganz bei ihm und seinem Stiefvater zu sein. Dabei gelingt es Rockwell durch fast schon beiläufige Szenen zu erklären, wie sich die Stadt um sie herum verändert, und die Menschen sich mit ihr, wie etwa Lucky irgendwann Terry nicht mehr anweist, auf der häuserzugewandten Seite des Bürgersteigs zu gehen, und man kurz danach durch einen verzögerten Blick auf die andere Seite der Straße den Beginn der Gentrifizierung miterlebt, die auf perfide Weise irgendwann auch eine tragische Rolle im Leben von Inez und Terry spielen wird.
Doch bis dahin erzählt Rockwell afro-amerikanischen Alltag in einer hyperrealen Art und Weise, mit Leerstellen, die genau richtig gesetzt sind, weil sie dem grundsätzlich erratischen Charakter von Alltag nicht besser entsprechen könnten. Doch Rockwell nimmt sich auch Zeit, um die amerikanische Ungleichgesellschaft zu demonstrieren.
Das geschieht nicht nur über die faszinierende Darstellung eines fast akribisch geschlossenen Ghettos, das sich erst mit der Gentrifizierung zu öffnen beginnt, sondern auch über die vignettenartigen Lebenserzählungen der Protagonisten, Erinnerungen, Begegnungen, die Rockwell in ihre Erzählung so überraschend und scheinbar »intuitiv« fallen lässt, wie Jackson Pollock sein Drip-Painting-Verfahren praktizierte.
Verstärkt und abgerundet wird diese Methode durch ein kontrapunktisch eingesetztes Score, Musik, die wie die in die Erzählung »fallengelassenen« traumatischen Erlebnisse, die Szenen verblüffend verändern, transformieren und hinterfragen und dabei immer wieder auch mit der Kamera kooperieren, die ebenfalls auf der Suche ist, die Stadt und ihre Menschen durch neue Perspektiven so transformiert wie die Musik und der Erzählung damit eine weitere Rezeptionsebene anbietet.
So ambivalent, uneindeutig, grausam wie zärtlich, wuchtig und zurückgenommen, ist dann auch das Ende, in dem sich der Bogen zwar schließt, aber in einer letzten wunderbaren Kamerafahrt und einem musikalischen Finale, bei dem man sich wünscht, dass es über den Abspann hinausragen und so lang wie die Märchen aus 1001 Nacht währen möge, man einmal mehr in diesem Film erkennt, dass in jedem Ende immer auch ein Anfang liegt. Und Widerstand dann doch immer belohnt wird. Aber nie so, wie wir es erwarten.