Deutschland/Ö/CH 2023 · 118 min. · FSK: ab 6 Regie: Timm Kröger Drehbuch: Roderick Warich, Timm Kröger Kamera: Roland Stuprich Darsteller: Jan Bülow, Olivia Ross, David Bennent, Hanns Zischler, Gottfried Breitfuß u.a. |
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Was sehen wir, was wir nicht wissen? | ||
(Foto: Neue Visionen) |
Eine Talkshow, offensichtliches Vorbild ist der legendäre Club 2, damit beginnt Timm Krögers Die Theorie von Allem. Es sind die Siebzigerjahre. Unter großgemusterter Tapete wird im Studio geraucht, die Männerrunde meint es lustig, auf Kosten des eingeladenen Gastes. Er ist der Autor eines Romans mit dem Titel: »Die Theorie von Allem«. Die Studio-Kamera zeigt das Cover in Großaufnahme. »Also, Sie fragen darin, in welcher Welt wir leben?«, beginnt der Moderator. »Sie gehen von mehreren Universen aus?« Gelächter. Der Roman sollte eine Fortführung seiner Dissertation in Physik mit den Mitteln einer Liebesgeschichte sein, stammelt der Gast. Noch größeres Gelächter. »Karin, wenn du das siehst: Wo bist du? Melde dich bei mir!«, ruft der Gast mit wirrem Blick in die Fernsehkamera und stürzt aus dem Studio.
Ein Close-up auf eine künstliche Fernsehsituation, ein Roman, der ein PhD in Physik werden sollte, ein direkt in die Kamera gerichteter Blick. Danach: Wechsel in kontrastreiches Schwarzweiß, ein zeitlicher Sprung, es geht zwölf Jahre zurück, es geht in die Berge. Timm Kröger beginnt seinen aufsehenerregenden, in Venedig mit dem Bisato d’Oro der unabhängigen Filmkritik ausgezeichneten Film mit einer subtilen Verschachtelung verschiedener medialer Ebenen. Mit der Eingangssequenz werden wir auf äußerst unterhaltsame Weise in eine komplexe Welt geschubst, um die es im weiteren gehen wird: ins Multiversum, in die kollabierenden Sphären der Weltgewissheit. In die Gleichzeitigkeit der Wirklichkeitsabschattungen – real, irreal, potential – und in die spatialen Unmöglichkeiten.
An der Theorie des Multiversums hat der hinausstürzende Gast des Prologs in den Sechzigerjahren als Promovend der Physik geforscht. Jan Bülow verkörpert diesen Johannes Leinert als Mischung aus spätem Pennäler, unsicherem Jungwissenschaftler und einem, der es wissen will. An der Seite seines unnahbaren Doktorvaters Dr. Strathen (Hanns Zischler in einer Paraderolle) reist er zu einem Physikerkongress hoch in den verschneiten Schweizer Alpen. Weiß ragen die zackigen Berggipfel in den Himmel, dunkel schieben sich die Nadelbäume ins Bild. Ohnehin schon eine Kulisse in Schwarzweiß, wird sie, derart filmisch gebannt, zum Einfallstor für den Heimatfilm und Luis Trenker, wenn es später auf Skiern rasant die steilen Berghänge hinuntergeht.
Kröger hat zuletzt als Kameramann bei Sandra Wollner gearbeitet, die in Das unmögliche Bild und The Trouble with Being Born perfekte Illusionen der Vergangenheit und KI-Virtualität geschaffen hat. In seinem zweiten Spielfilm öffnet er jetzt selbst seine Bilder fortwährend in andere Sphären hinein. Unter der Gestaltung seines Kameramanns Roland Stuprich beginnen diese zu oszillieren, zwischen dem Jetzt auf der Leinwand, und dem, was sie als Bildzitate aus der Filmgeschichte mittransportieren. Mit verschobenen Kameraperspektiven und Schattenwürfen gleiten sie in den Expressionismus hinein, mit den Katakomben, in denen die Figuren in Paralleluniversen gelangen, in den Film noir und in Carol Reeds Nachkriegskrimi Der dritte Mann. Die Wiederkehr von verschwunden geglaubten Figuren, das Auftreten von Doppelgängern, ein Telefonat unter höchster Anspannung, das sind Einfallstore für Hitchcocks Vertigo und North by Northwest. Aber auch Alain Resnais' Nouveau-Roman-Film L’année dernière à Marienbad und Chris Markers Zeitreisenfilm La Jetée klingen an. Und überhaupt der Score: Er legt sich in großartiger Symphonik unter den Film, schwillt an und ebbt ab, dräuend und raunend. Filmkomponist Diego Ramos Rodríguez lässt hier große Bernard-Herrmann-Reminiszenzen anklingen, als Verbindungslinien zu den heimgesuchten, irregehenden Figuren Alfred Hitchchocks. Dies wird, während man im Kino sitzt, ständig mitverstanden, mitgehört, als glücklich machendes Sprungbrett zu anderen Filmen, anderen Zeiten, anderen Geschichten.
Doch zurück in die erste Erzählebene, den »Realis«.
Die im Kongresshotel eintreffenden Gäste wirken sehr erwachsen, wie man es nur in den Sechzigerjahren sein konnte. Strathen hatte seinen trinkfreudigen Kollegen und Konkurrenten Professor Blumberg (Gottfried Breitfuß) bereits im Zug ausgemustert, an der Hotelrezeption wird er mit einem spontanen »Heil Hitler« begrüßt. Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren… Und Blumberg, ist das nicht ein jüdischer Name? Karin, die Barpianistin, in die sich Johannes verlieben wird (Olivia Ross), wird im Epilog vom Off-Erzähler zu Grabe getragen werden, auf einem jüdischen Friedhof.
Dominik Graf spricht diesen Erzähler, man hat seine Stimme noch aus seinem Weimar-Film Die geliebten Schwestern im Ohr, und vielleicht sogar noch aus München – Geheimnisse einer Stadt. Die Projektionen seines Erzähltexts von damals, die imaginierten Szenarien über die Geheimnisse in den Häusern der Menschen übernimmt Timm Kröger nicht nur im charakteristischen Dominik-Graf-Sprechduktus. Den Text des vermeintlich wissenden Erzählers verschieben er und sein Co-Autor Roderick Warich ganz in die temporale Möglichkeitsform des Potentialis: »…würde«, so schwächt der Erzähler seinen Blick in die Zukunft ab… Karin würde Johannes meiden, sie würde gefahren sein, er würde glauben, sie sei verschwunden. Mit der Sprache eröffnet der Film auch die Sphäre des Spekulativen. Was wäre gewesen? Was würde passiert sein?
Der Hitlergruß in der Hotellobby, der jüdische Grabstein, später Ermittler in langen dunklen Mänteln, die dem (vermeintlichen?) Tod von Blumberg hinterherspüren (ein Skiunfall?), die verkrusteten Strukturen der Wissenschaft, durch die der Promovend Johannes Leinert nicht hindurch kann – willkommen im nächsten Universum. Kröger macht das Undurchschaubare, das Bodenlose der Gegenwart als verschüttete Geschichte deutlich, als allgegenwärtige Präsenz der Vergangenheit: Es ist die unter den Schichten des Verdrängens und Verleugnens vergrabene Nazizeit. Die aber wie in einem artesischen Brunnen mit Hochdruck aus den unterirdischen Gesteinsschichten an die Oberfläche gepresst wird. Das ist die politische Ebene des Films, die heute, mit den Gespenstern und Wiederkehrern der Vergangenheit, höchst aktuell ist.
Immer tiefer taucht der Film ins Rätselhafte, überlässt sich der gewaltigen Kraft der Natur, die pysikalische Gesetze aushebeln kann wie in Son of Frankenstein. Ein heftiges Gewitter spaltet den Bergfelsen, Uranium tritt aus, die Objektpermanenz wird ausgesetzt, Doppelgänger treten auf. Das ist soghaft-abgefahren, man verliert sich bereitwillig in den diffusen Hinweisen der Geschichte wie Johannes zwischen den mathematischen Formeln seiner ins Romaneske gewendeten Doktorarbeit.
Die Teleskopie des Medialen, die das Entfernte und Diskontinuierliche zusammenbringt, die mathematischen Formeln, die Telefonate, die Züge, die Quantenphysik, Heisenbergs Unschärfe und Schrödingers Katze, das historisch Verdrängte, das Wahre, das Mögliche und die Unerbittlichkeit einer Gesellschaft, die unter dem Hochdruck des Simulierens steht: All das vereint Timm Kröger in Die Theorie von Allem zu einem hypnotischen Filmsog, der selbst sein eigenes Thema ist – ein vielschichtiges, ein undurchschaubares und faszinierendes Multiversum aus Geschichten, Stimmungen, Tönen, Assoziationen, Erkenntnissen und Verwirrungen.
Mit anderen Worten: Das Multiversum kann nur ein Film sein. Ein Filmfilm, der wie Die Theorie von Allem ist. Timm Kröger hat es bewiesen.
Was ist das für ein Film? Es ist der Film eines Regisseurs, der es ernst meint und der sein Publikum nicht unterschätzt. Der außerdem – und vielleicht hängt beides zusammen – eigenwillig ist.
Das heißt, dies ist natürlich kein Film für jedermann. Dies ist ein Film, der voraussetzt, dass man entweder die Filmgeschichte kennt oder sich von ihr faszinieren lässt. Dass man unter »aktuell« nicht zeitgeistig und zeitgemäß versteht.
Sondern dass man versteht, dass auch der Blick in die Vergangenheit, in eine Vergangenheit mit anderen Werten, einer anderen Art zu denken, mit anderen Erfahrungen, uns alle weiterbringen kann. Dass vielleicht gerade dieser Blick ein Blick ist, mit dem wir die Komplexität der Gegenwart bändigen können und viele Probleme der Gegenwart einer Lösung näherbringen.
Insofern ist der Film von Timm Kröger nicht nur eine ästhetische, sondern auch eine politische und moralische
Lektion. Und zugleich geht es diesem Regisseur um Lektionen am allerwenigsten. Es geht ihm ohne Frage um Ernst, um einen Ernst, der das Pathos nicht scheut, aber es doch immer wieder ironisch und manchmal auch satirisch bricht. Denn ganz ernst nehmen kann man diese Charaktere natürlich nicht.
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Eine Erinnerung aus dem Reich der Schatten. Ganz traurig und sehr sehr schön. Dass das Kino nicht etwa die Fakten vor den Geistern errettet, sondern umgekehrt die Geister am Leben erhält oder wiederauferstehen lässt, das hat Friedrich Kittler, der genial-versponnene Medienwissenschaftler, schon vor vielen Jahren geschrieben, und an die Nähe des frühen Films zu spiritistischen Sitzungen erinnert.
Dies ist eine Geschichte über die Toten, die sterben wollen. Über Erinnerungen, die nicht vergehen können. Über das Verdrängte, das immer wiederkehrt. Über Untote.
Über geliebte Geister, die mit uns im Raum sitzen.
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Wir auf artechock, wir dürfen stolz sein: Wir haben Timm Kröger entdeckt. Als einzige in Deutschland haben wir schon 2014 über ihn und seinen Debütfilm Zerrumpelt Herz geschrieben. Jetzt kennen ihn alle; jetzt schreiben alle von seinem soghaften Erzählen und den Multiversen – und ganz zurecht. Denn es ist eine großartige, formbewusste, elegante Art und Weise, wie hier erzählt wird. Insbesondere große Komplimente machen muss man dem Kameramann Roland Stuprich, einem Meister der Bildgestaltung bei beiden Filmen.
Schon in seinem Erstling zeigte sich Kröger als ein eigenwilliger Filmemacher, der genau weiß, was er will – und was nicht.
Zerrumpelt Herz erzählte von drei Bildungsbürgern im Wald der späten 20er-Jahre und verband spätromantische Musik mit dem Bild einer immer undurchschaubareren, immer geheimnisvolleren Welt. Das Ergebnis war eine Gothic-Novel aus der Vorgeschichte des Nazismus, der sich aufs Subtilste durch den Film zieht – in Kleidung, Gesten, Sprache, Themen – , und ihn zugleich ins Surreale wendet. Wie eine Kurzgeschichte von E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe, in der Filmsprache von Antonioni. Bei den italienischen Filmkritikern machte Zerrumpelt Herz Furore, sie sogen diesen Film auf, sahen darin die Mythen der Heimat von »Doktor Faustus«, das Land der Dichter und Denker.
Bereits zur gleichen Zeit erzählte Kröger von seiner Idee einer »Trilogie zum deutschen 20.Jahrhundert« und ergänzte, er plane einen Film über Physiker während der Kuba-Krise 1962. »Ich habe das Gefühl, die Vergangenheit spricht bis heute mit uns.« Es gebe »unverdaute Geister« der Historie zu Hauf. Und zugleich trotz aller Filme über vergangene Zeiten keinen Sinn für das eigentlich Historische: »Was mich oft stört, ist, dass bei uns eine falsche Vorstellung darüber herrscht, wie Menschen früher gedacht haben und wie sie geredet und gefühlt haben.«
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Dieser Film hat eigentlich drei Anfänge und mindestens ebenso viele Enden. Dazwischen liegt eine Geschichte, die sich gradlinig vollzieht, obwohl sie an der Oberfläche zunächst chaotischer und verworrener erscheinen kann, als sie es tatsächlich ist. Das liegt daran, dass Chaos und Verwirrung, dass »Wahrscheinlichkeitsgeschwurbel« – so eine Figur – einer quantenmechanischen »Vielweltentheorie« selbst in ihrem Zentrum stehen.
Doch wer sich dem von Regie und
Drehbuch ausgelegten Erzählfaden vertrauensvoll überlässt, wird mit sicherer Hand ins frühe Nachkriegsdeutschland des Jahres 1962 geführt; in ein Land, in dem die Gespenster der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts noch überaus präsent sind.
Es beginnt zunächst mit der einzigen Farbpassage dieses Schwarz-Weiß-Films: Eine kurze Szene aus einer frühen Fernsehtalkshow im Jahr 1974: Johannes Leinert, ein mittvierzigjähriger Schriftsteller und studierter Physiker, tritt auf, um seinen ersten Roman vorzustellen. Dessen Titel: »Die Theorie von allem«. Leinert macht klar, dass es sich aus seiner Sicht um viel mehr handelt als um einen Roman; dass nämlich das, was dort zu lesen ist, nicht phantastisch, sondern wahr sei. Schnell wird dieser Auftritt daher zu einem Spießrutenlauf, und der der öffentlichen Lächerlichkeit preisgegebene Leinert verlässt die Talkshow vorzeitig.
Es folgt eine Schwarzblende, die Leinwand zeigt nun – in Schwarz-Weiß und »12 Jahre zuvor...« – ein prachtvolles Alpenpanorama im verschneiten Schweizer Graubünden. Vordergründig ein idyllisches Bild, wäre da nicht die beunruhigende Musik, die ahnungsvoll darauf verweist, dass diese Welt nicht lange heil bleiben wird. Zwei knapp zehnjährige Kinder, Toni und Susi, spielen im Schnee und nach einer steilen Schlittenfahrt scheint das Mädchen plötzlich verschwunden. Sie hatte in einem Heuschober Zuflucht gesucht, doch in diesem Bretterschuppen verbirgt sich offensichtlich noch mehr: Ein Schacht, aus dem Licht und merkwürdige Geräusche dringen, die die Neugier der Kinder wecken. Sie trauen sich zögernd immer tiefer hinein, die Musik schwillt bedrohlich an, und plötzlich finden die Kinder etwas, das uns das Bild noch nicht enthüllt...
Nun erst setzt wieder nach einer kurzen Blende in einem dritten Anlauf die eigentliche Filmhandlung ein: Johannes Leinert, jetzt 12 Jahre jünger und noch Student am Hamburger Institut für Theoretische Physik, packt im Haus der Mutter seine Sachen. Die Mutter ist um den Sohn besorgt, zugleich ermutigt sie ihn, auf der bevorstehenden Reise mit seinem Doktorvater gut zu studieren. Das ganze, zwischen Realismus und Märchenhaftem changierende Setting – ein begabter junger Mann, der voller Hoffnung aufbricht in die weite Welt, um dort das Fürchten zu lernen und erwachsen zu werden – erinnert nicht zufällig an Die zweite Heimat von Edgar Reitz und deren Hauptfigur des Hermännchen, der ebenfalls 1962 ähnlich optimistisch in die Welt hinausgeht.
Diese drei Anfänge sind wichtig und keineswegs zufällig gewählt, denn sie schon stimmen den Zuschauer ein in einen Film, in dem die Ebenen sich immer wieder überlagern und einander konterkarieren.
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Gemeinsam mit seinem Doktorvater Professor Julius Strathen reist Johannes dann nach Graubünden. Dort versammeln sich Physiker zu einem Kongress über neueste Fragen der Elementar-Physik, nebenbei läuft man Ski. Am ersten Tag lernt Johannes die für ihn ungewohnte Welt des Wissenschaftsbetriebs kennen. Er trifft den von Strathen offensichtlich ungeliebten Kollegen Professor Heinrich Blumberg und andere ausländische Physiker.
Besonders gespannt erwartet man den Vortrag eines
iranischen Wissenschaftlers, dessen Ankündigung verspricht, alle bisherigen Widersprüche der konventionellen Quantenmechanik beizulegen und eine »Theorie von Allem« vorzulegen. Bald nach Johannes' und Strathens Ankunft wird dieser Vortrag allerdings wegen Ausreiseproblemen abgesagt.
Vor allem über das spannungsreiche, konkurrierende Verhältnis zwischen Strathen und Blumberg und ihre Gespräche gibt Regisseur Timm Kröger auch einige präzise Einblicke in die realhistorische politische und sozio-kulturelle Situation der Nachkriegs-Bundesrepublik: So wird über Strathen wie Blumberg gesagt, sie hätten beide »gemeinsam unter Heisenberg gedient«. Gemeint ist der weltberühmte Quantenphysiker Werner Heisenberg. Während über Strathen erzählt wird, dieser sei erst 1955 aus den USA zurückgekommen – vermutlich also war er während des Dritten Reichs im Exil – heißt es über Blumberg, dieser habe im Dritten Reich »die hebräischen Strömungen in der deutschen Wissenschaft bekämpft«. Blumberg wiederum bezeichnet Strathen als »Rechenschieber von Heisenberg« und einen »frischgebackenen Judenfreund«.
Über allem schweben unausgesprochene Erfahrungen von Weltkrieg und Bombenangriffen, Vertreibung und Völkermord, neuer Demokratie und uraltem Antisemitismus.
Strathen ist ein phlegmatischer Skeptiker, der jeden »spekulativen Quatsch« verachtet, Blumberg wiederum ermuntert solche Spekulationen bei Johannes und dessen »potentiell revolutionäre Ideen«. Gerade dadurch wird er für den unter seinem für solche Ideen komplett ignoranten Doktorvater leidenden Studenten zur
Inspiration. Mehr und mehr streift der junge Doktorand seine anfängliche Schüchternheit ab.
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Das liegt auch an seiner Bekanntschaft mit der Pianistin Karin, von der er sofort fasziniert ist, zumal diese über rätselhaftes Wissen verfügt, insbesondere über ihn Dinge zu wissen scheint, die nur er selbst kennen kann, oder die gar in der Zukunft liegen.
Als an einem der nächsten Tage Blumberg erst abreist, dann tot aufgefunden wird und später wieder lebend erscheint, als Karin, nachdem sie eine Nacht mit Johannes verbracht hat, unversehens wieder kühl und abweisend wird,
steigert sich Johannes' Verwirrung zusehends. Er glaubt, einer Verschwörung auf der Spur zu sein. Oder wird er verrückt? Oder wird hier und jetzt einfach die »Vielweltentheorie« der Quantenphysik wahr?
Auf dieser Ebene erscheint Die Theorie von Allem nicht weniger als die deutsche Antwort auf Christopher Nolans Oppenheimer zu sein. Und der »Nolan-neskere« der beiden Filme. Beide handeln von der Verbindung von Wissenschaftsgeschichte, Atomphysik, und der Situation des Kalten Kriegs. Im Gegensatz zu Nolans Film erzählt Kröger aber nicht gradlinig, sondern verschachtelt, ambivalent, auf mehreren Ebenen – und zeigt eben damit die einmalige Macht des Kinos: Die Leinwand gibt auch kompliziertesten physikalischen Formeln unmittelbar sinnliche Gestalt, sie hält Widersprüche aus, und fragt nicht nach Wahrheit, sondern nach Überzeugungskraft.
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Filmhistorisch und stilistisch ist Die Theorie von Allem eine Fundgrube für Filmkenner, die ihre soghafte Wirkung auch dadurch entfaltet, dass Zitate und Anspielungen integraler Teil des Bildertextes sind. Dies ist ein Paranoiathriller mit Mysteryelementen, stark vom Kino der 40er und 50er Jahre beeinflusst, namentlich von Carol Reeds Der dritte Mann und Nachtzug nach München, ebenso wie von anderen Film-Noirs, sowie von polnischen Filmen des Kalten Kriegs (etwa Jerzy Kawalerowicz' Nachtzug). Kameramann Roland Stuprich gelingt ein prachtvolles Schwarzweiß, das Erinnerungen an den Film-Expressionismus wachruft. Einflüsse von Hitchcock sind auch über die Verwendung bestimmter Musik-Stücke von Bernard Herrmann
erkennbar, der Einfluss von Reitz' Zweiter Heimat ist so offensichtlich wie die der Filme von Helmut Käutner und Wolfgang Staudte, aber auch jener von David Lynch. Viele andere Bezüge wird man ebenfalls finden. Die Charaktere, die diesen Film bevölkern, sind aber weniger Archetypen als moderne Menschen.
In der besonderen Sensibilität für wie
dem Einsatz von Musik, als auch in den Verbindungen klassisch-zeitloser wie moderner Stil-Elemente zeigt sich bereits im zweiten Spielfilm Timm Krögers die unverwechselbare Handschrift dieses Regisseur, der mit diesen beiden Filmen zu allen Hoffnungen Anlass gibt.
Das liegt daran, dass dieser Regisseur, der aber keiner Schule oder erkennbaren Gruppe angehört, sein Filmemachen offensichtlich ernst meint, viel ernster, als einige andere deutsche Kollegen.
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Wie jedes gute Kino stellt dieser Film Sinnfragen. Er versucht in unterhaltsamer Form die Wirklichkeit zu begreifen und uns Auskünfte über sie zu vermitteln. Und er versucht die Vergangenheit zu verstehen. Kröger, der diesen Film schon vor Jahren als zweiten einer Trilogie zum deutschen 20. Jahrhundert beschrieben hatte, holt geschichtsphilosophisch weit aus. Er lässt vergangene Zeiten im Kino wiederauferstehen, aber als soghafte sinnliche Erfahrung, nicht nur historisch
bebildert.
Es ist die Logik des Traums, die hier dominiert und die aus Leitmotiven ein immersives Gesamtbild komponiert.
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Am Ende von Die Theorie von Allem schreibt sich Kröger dann auf sehr originelle Weise in die deutsche Kinogeschichte ein, wie in die des europäischen Autorenfilms. Das Publikum hört dann einen Off-Text, der die Geschichte des Protagonisten in einer möglichen Weise weitererzählt und der von dem Regisseur Dominik Graf gesprochen wird. Eine Art Nouvelle-Vague-Moment, ein Truffaut-Echo, zugleich in einer spezifisch deutschen Version.
Es lohnt sich übrigens unbedingt, diesen Film mehr als einmal zu sehen – man wird immer wieder einen neuen Film entdecken, eben die Vielweltentheorie. Timm Kröger betreibt Filmemachen als das, was Nelson Goodman die »Weisen der Welterzeugung« nannte; er ist ein Welterzeuger, ein Weltenbauer.
Es gibt einfach unendlich viele Welten und in irgendeiner ist dies eben wahr. Das ist im Prinzip die Magie des Kinos.
Man darf diesen Film nicht nur ernst nehmen, auch wenn es wie gesagt Timm Kröger ganz ernst meint.
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Dem naheliegendem Vorwurf, Die Theorie von Allem wolle zu viel, sei zu ehrgeizig, muss man entgegnen, dass das deutsche Kino allzu lange ambitionslos darniederlag und einen Film, der endlich mal viel, oder gar »alles« will, unbedingt begrüßen müsste. Kleinere Schwächen, ein erzählerisches »Durchhängen« im Mittelteil ist vor diesem Hintergrund mehr als verzeihlich. Man kann gar nicht ehrgeizig genug sein.
Insgesamt gelingt Kröger und seinem Team mit Die Theorie von Allem ein Werk von bestechender Schönheit und einer der ungewöhnlichsten deutschen Filme seit Jahren.
Dies ist wenigstens ein Film. Herausstehend im Einerlei, nicht nur dem deutschen.