Deutschland 2021 · 96 min. · FSK: ab 6 Regie: Lars Montag Drehbuch: Murmel Clausen, Lars Montag, Sathyan Ramesh, Ellen Schmidt Kamera: Sonja Rom Darsteller: Shan Robitzky, Annlis Krischke, Murali Perumal, Sushila Sara Mai, Anne Ratte-Polle u.a. |
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(Un-)freiwillig in Berlin gelandet. | ||
(Foto: Wild Bunch) |
Über die Initiative Der besondere Kinderfilm und ihr Ziel, Kinder- und Jugendfilme zu fördern, die sich nicht an Bestseller anlehnen oder Franchises etablieren, sondern denen originäre und originelle Drehbücher zu Grunde liegen, habe ich immer schon gern geschrieben, wenn es denn ein neuer, besonderer Kinderfilm auch in die Münchner Kinos geschafft hat, sei es Ente gut! Mädchen allein zu Haus (2016), Invisible Sue – Plötzlich unsichtbar (2019) oder erst kürzlich Madison – ungebremste Girlpower (2021).
Auch Träume sind wie wilde Tiger wird dem Ruf der Initiative gerecht, neues Terrain für den Kinder- und Jugendfilm abzustecken, ohne sich bei bestehenden Konzepten anzubiedern, und dabei immer wieder zu überraschen.
Das beginnt schon bei der Geschichte, die auf einer Vorlage von Katharina Resche basiert und von Ellen Schmidt, Sathyan Ramesh, Murmel Clausen und Regisseur Lars Montag in ein wildes Drehbuch überführt wurde, in dem es beileibe nicht nur um Culture Clash, also Migration, Assimilation und Begegnung mit dem Fremden, sondern auch um ganz banale familiäre Identitätssuche geht.
Lars Montag, der den Grimme-Preis für seine Regiebeteiligung an der deutschsprachigen Coming-of-Age-Comedy-Serie How To Sell Drugs Online (Fast) erhielt, zeigte auch schon in dem Netflix-Serien-Format, wie leichthändig er ein Erwachsenenformat, in diesem Fall Breaking Bad, in eine ähnliche, aber jugend-konforme Geschichte überführen kann. Mit all dem Dreh und Drive und vor allem der Empathie, die es braucht, um nicht nur komisch, sondern auch ehrlich und glaubwürdig zu sein und seine Charaktere nicht für die erzählte Geschichte zu kannibalisieren.
Das gelingt Montag auch in Träume sind wie wilde Tiger, in dem der 12-jährige Ranji (Shan Robitzky) einen ganz normalen indischen Großstadtjugendalltag in Mumbai lebt, mit der üblichen Begeisterung für Bollywood und dem Traum, irgendwann Teil dieser gigantischen Traumfabrik zu werden, eine Autopilotenmotorik, der der große Mumbaier Autor Kiran Nagarkar in seinem Roman »Die Statisten« ein melancholisches Denkmal gesetzt hat. Deshalb erwischt es Ranji umso mehr eiskalt, als seine Eltern plötzlich beschließen, wegen eines lukrativen Jobangebots für den Vater nach Deutschland auszuwandern. Das bietet sich auch deshalb an, weil die ganze Familie mehr oder weniger gut Deutsch spricht, denn Ranjis Großvater ist niemand anders als der Darsteller des Indianerhäuptlings (Irshad Panjatan) in Der Schuh des Manitu und ein echter Deutschland-Fan. Dass Irshad Panjatan der tatsächliche Darsteller des Indianerhäuptlings in Bully Herbigs Komödie ist, zeigt schon, dass Montag und sein Film nicht nur die normale Culture-Clash-Komödie im Sinn haben, sondern grundsätzliche Migrations- und Identitäts-Debatten hinterfragen, so wie sie etwa auch in Mithu Sanyals Roman »Identitti« angedeutet werden, in dem eine vermeintlich indische Professorin für Postcolonial Studies plötzlich ihrer deutschen (Geburts-)Identität überführt wird.
Auch Träume sind wie wilde Tiger spielt mit diesen Identitäts-Paradoxien und forciert dies noch einmal, nachdem die Familie ohne den kränklichen Großvater nach Berlin kommt und der Hausmeister sie mit der einfachen Integrationsformel begrüßt: Seit doch bitte so deutsch wie es geht und so indisch wie möglich. Und Ranji nicht nur deshalb am liebsten gleich wieder weg will, sondern auch, weil er kurz nach seiner Ankunft nicht nur den zu erwartenden Rassismen im Klassenzimmer ausgesetzt ist, sondern dann tatsächlich für das Casting bei seinem Bollywood-Idol eingeladen wird. Ähnlich wie der jugendliche Held in Shahrbanoo Sadats Kabul Kinderheim bietet auch Ranji Bollywood den Rettungsanker, den er braucht, um sich in der Fremde zu wehren und letztendlich seine neue Identität zu verwurzeln und die Fremde als das zu begreifen, was sie dann überraschenderweise auch ist. Eine neue Heimat, die sich im Grunde gar nicht so sehr von der alten Heimat unterscheidet, in der Freundschaften und Träume ebenfalls möglich sind.
Um diese deutsche Realität zu zeigen, scheut Träume sind wie wilde Tiger nicht, eine dysfunktionale Trennungsfamilie zu zeigen, die mit einer großartigen Anne Ratte-Polle und Simon Schwarz fast furchteinflößend gut besetzt ist und zeigt, wie leicht Kinder von Eltern instrumentalisiert werden können, die Be- und Erziehungskompetenzen der Eltern zu übernehmen, und wie nachhaltig die Folgen, in diesem Fall für Toni (Annlis Krischke), ihren Alltag und ihre Träume, sind und über die ihr Vater irgendwann dann tatsächlich nur noch erschüttert sagen kann: »Ich muss wachsen, damit Toni klein bleiben kann!« Und dementsprechend seine Träume neu skaliert. Überhaupt die Schauspieler! Gerade den Deutschen mit migrantischem (indischem) Hintergrund merkt man nicht nur den Spaß am Spiel an, sondern auch ihre eigene Beschäftigung mit dem Thema. Denn nicht nur ein Integrations-Koloss wie Roberto Blanco und der Alt-»Inderianer« Irshad Panjatan haben sichtlich ihren Spaß daran, die Doppelbödigkeit ihres Daseins zu hinterfragen, auch Murali Perumal (der mehrere deutsche Dialekte fließend spricht, hier aber die deutsche Sprache mit Hochgenuss verschwurbelt und veräppelt) als Vater von Ranji merkt man seinen Aktivismus im wirklichen Leben an, etwa seinen Einsatz für die Gleichberechtigung und geltende Besetzungspolitik von Schauspielern mit Migrationshintergrund, den er etwa in einem offenen Brief an die Süddeutsche Zeitung formulierte.
Dadurch wird Träume sind wie wilde Tiger zu gelebter Integrations- und Familientherapie, mit praktischen Anregungen, Selbstironie und immer wieder auch derbem Klamauk, der damit die an sich schwierige Thematik auf beste Weise an alle Altersgruppen verkauft, die nach einem eigenen Probe-Screening tatsächlich von 11 bis 19 Jahren bestens funktioniert und auch ganz Erwachsene auf ihre Kosten kommen sollten.