Großbritannien 2018 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Tom Harper Drehbuch: Nicole Taylor Kamera: George Steel Darsteller: Jessie Buckley, Julie Walters, Sophie Okonedo, Jamie Sives, Craig Parkinson u.a. |
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Ergreifend real (Foto: Entertainment One Germany) |
»People like me don’t write books – or so my head keeps telling me.« – Darren McGarvey, Poverty Safari – Understanding the Anger of Britain’s Underclass
Es geht also doch anders als wie sonst in den letzten Jahren, als eine Filmbiografie nach der anderen das Coming-of-Age von Musikern jeder Façon behandelte. Walk the Line (2005), La vie en rose (2007), Bohemian Rhapsody (2018) und Rocketman (2019), um nur einige zu nennen, waren alles der Wahrheit nachempfundene Lebenslinien. Dass es also endlich mal wieder auch ohne die Wahrheit geht, zeigt so überraschend wie überzeugend der britische Regisseur Tom Harper.
Harper, der in den letzten Jahren vor allem für britische Serien wie Peaky Blinders und War & Peace Regie geführt hat, erzählt über das hervorragende Drehbuch von Nicole Taylor eine Geschichte, die zwar immer wieder an Ken Loachs gnadenlosen Blick auf die Misere der sozial schwachen Klassen Englands erinnert, doch anders als etwa in Loachs neuestem Film Sorry We Missed You, setzt Harper einen dezenten Hoffnungsschimmer ans Ende seiner Geschichte. Damit triggert er zwar die großen Gefühle, die das „A Star is Born“-Genre ja inzwischen fast fließbandmäßig abliefert, und die vom Publikum so hilflos wie erwartungsfroh auch eingefordert werden. Doch Harper zeigt auch, dass dieses Genre bei weitem noch nicht auserzählt ist, dass man neben eingelösten Erwartungshaltungen auch noch überraschen kann.
Das beginnt schon bei Harpers düsterem, deprimierenden Glasgow und seiner zwiespältigen Heldin Rose-Lynn Harlan (Jessie Buckley), die, nach einjähriger Haft aus dem Gefängnis entlassen, sich wieder um ihre beiden Kinder und ihre musikalische Karriere als Country-Sängerin kümmern will. Harper zeichnet dafür einen komplexen Frauencharakter, der mal egomanisch die eigenen Kinder vergisst, dann aber wieder alles tut, um sich und ihre Familie über die Musik aus ihrer desolaten, sozialen Lage zu befreien. Harper fügt über Freunde, die Mutter und dann auch ihre Putzstelle ein gesellschaftliches Mosaik der britischen Gesellschaft zusammen, dass nicht nur die tiefen Gräben aufzeigt, sondern auch einen fast stoischen Pragmatismus der Unterschicht, der zwar immer wieder auch den Wunsch nach Befreiung ausbremst, aber auch Potenzial für eben diesen Freiheitsdurst sein kann.
Diese so unterschiedlichen Seiten der gleichen Medaille zerreißen auch Rose-Lynn, ihren Alltag genauso wie ihre Träume von einem anderen Leben und einer Musik, die ihr eben nicht als Musik taugt, sondern auch Leitbild und moralisches Zentrum ist. Nicht nur die Eigenkompositionen, die für Harpers Film von Jessie Buckley eingesungen worden sind, überragen dabei, sondern auch das bekannte Fremdmaterial, das über die Neu-Kontextualisierung – statt Südstaaten Südschottland – eine völlig überraschende Bedeutung erhält und über diesen verqueren Umweg auf die Ursprünge der Country-Musik, fern allen Glamours, verweist.
Zwar geht Rose-Lynn tatsächlich nach Nashville, um eben diesem Traum von Glamour zu folgen, und auf ihre Weise im legendären Country-Tempel Grand Ole Opry zu singen, doch wird ihr schnell klar, dass sie hier so fremd ist wie in den reichen Vierteln Glasgows und ihrer Crowd-Funding-Moral, dass es zwischen der Grand Ole Opry in Nashville und der kaschemmeartigen Kopie des Grand Ole Opry in Glasgow tatsächlich noch einen dritten Weg gibt. Ein Weg, der die Unversöhnlich- und Unveränderbarkeit der Klassen in England über so etwas simples wie Selbstbewusstsein und Mut dann doch umgeht und sei es nur für einen Abend auf einem der größten Folk-Festivals überhaupt, dem Celtic Connectons in Glasgow. Diesen dritten Weg, der Rose-Lynns so schwer zu kontrollierende Wut in Kreativität kanalisiert, deutet Harper zwar nur an, doch über Jessie Buckleys großartige Verkörperung dieser ambivalenten Persönlichkeit wird er ergreifend real.