Frankreich 2019 · 105 min. · FSK: ab 16 Regie: Ladj Ly Drehbuch: Ladj Ly, Giordano Gederlini, Alexis Manenti Kamera: Julien Poupard Darsteller: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djebril Zonga, Issa Perica, Jeanne Balibar u.a. |
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Ruhe vor dem Sturm (Foto: Alamode Film) |
Der Titel Die Wütenden – Les Misérables ist natürlich eine Anspielung auf Victor Hugos vielfach verfilmten Roman. Mit diesem Klassiker hat er aber nur gemeinsam, dass auch der Film des französischen Regisseurs Ladj Ly von der Pariser Unterschicht handelt und in derselben Vorortgegend von Montfermeil vor Paris spielt, wie das Buch von 1862. Zweimal fällt auch beiläufig Hugos Name, und ein Gymnasium, das im Film gezeigt wird, ist nach dem berühmten Autor benannt.
Die Handlung dieses mitreißenden Films spielt heute, konzentriert auf ein paar Sommertage, kurz nach dem Sieg der Franzosen bei der Fußball-WM im Jahr 2018. Zu Beginn sieht man Hunderte Franzosen aller Klassen und Rassen, wie sie den Weltmeistertitel feiern: Autocorsos, Jungs mit Dembélé-Trikots, der Eiffelturm mit Flaggen, der Arc de Triomphe in den Farben der Tricolore. Eine Erinnerung an das Gemeinsame einer Gesellschaft, die sich nicht erst in unseren Tagen des Streiks und der »Gelbwesten«-Proteste zunehmend spaltet.
Die Kamera begleitet eine Einheit von drei Zivilpolizisten auf ihrer Streife im Wagen durch die Banlieues. Wir Zuschauer lernen vor allem mit ihren Augen – einer von ihnen ist neu im Team – das Viertel kennen: die verschiedenen ethnischen Gruppen, die Banden allen Alters, die Erwachsenen, die strafunmündige Kinder für ihre Geschäfte instrumentalisieren. Es ist eine prekäre Balance, voller ungeschriebener Regeln, voller unsichtbarer Grenzen, ein Film, der seine Geschichte nicht zuletzt auch über Blicke und Beobachtungen erzählt, über das Sichtbare und das Unsichtbare.
Dann eskalieren die Dinge, nicht zuletzt weil die Kinder und Jugendlichen bei den Erwachsenen mitspielen wollen, ohne ganz einschätzen zu können, was sie da tun. Und als die drei Polizisten einen Fehler machen, und dann noch ein paar, um den ersten zu vertuschen, werden sie selbst plötzlich zu Gejagten.
Man kann in diesem Film die konsumierbarere und post-sozialdemokratische Version jener neuen »Polar«-Filme aus Frankreich entdecken, auf die Dominik Graf kürzlich in seinem Gastbeitrag für »artechock« aufmerksam gemacht hat.
Aber wie andere Werke verlässt Ladj Lys Film das raue, scharfkantige B-Movie-Terrain, schmirgelt die Ecken glatt und gefällt sich in der Fahrt, die er aufnimmt, nachdem er sein schweres Gefährt
endlich auf die Schienen gesetzt hat. Seine Treibstoffe sind Konstruktion und Klischee, sein Publikum also eher die bürgerlichen Kopfschüttler als die Dissidenten und die, die Lust am Moment und am Gegensatz, auch am Parteiwechseln haben. Eher aber muss man daher an Maïwenns Poliezei denken, der ähnlich überhitzt ist, vorantreibend und emotional, aber oft etwas ungenau und Situationen
verschenkend, aus denen andere Regisseure mehr gemacht hätten. Deren Stärke liegt immerhin in der Darstellung der täglichen Routine und des Teams.
Les Misérables möchte wie ein guter Sozialarbeiter Moral und eine ausbalancierte Perspektive, und die Welt nicht in »Monster und Menschen« einteilen – was auch für dieses Sujet schade ist.
Stilistisch ist dies einer jener Filme, in dem sich Menschen dauernd anschreien, dauernd die Perspektive wechselt, ein Film der Intensität, der Nerven, von Blut, Schweiß und Tränen.
Kamera und Schnitt arbeiten mit den Mitteln des übersteigerten Realismus – Close-ups, Reißschwenks, mal Wackelkamera, mal schnelle Schnitte –, um »Echtheit« zu suggerieren. Die Intensität gelingt, allerdings auf Kosten der Genauigkeit. So ist dieser Film einerseits weder ein präzis
beobachtetes Sozialportrait, dafür ist er zu bürgerlich in seinem immer von draußen und von oben, mit göttlichem Drohnenauge auf die Verhältnisse schauenden Blick. Noch richtig funktionierendes Genrekino, dafür ist er nicht hart genug, nicht genau genug, nicht überraschend genug – und auch wieder zu äußerlich. Immerhin ist Les Misérables ein Film, der einen für Augenblicke am Zustand der Gesellschaft verzweifeln lässt. Genau dieses Gefühl will
Ladj Ly wahrscheinlich auch herstellen.
Es trägt den Film, aber er trägt über es nicht hinaus.