Die Zeit die bleibt

Le temps qui reste

Frankreich 2005 · 85 min. · FSK: ab 12
Regie: François Ozon
Drehbuch:
Kamera: Jeanne Lapoirie
Darsteller: Melvil Poupaud, Jeanne Moreau, Valeria Bruni-Tedeschi, Daniel Duval, Marie Rivière, Christian u.a.
Melvil Poupaud und Jeanne Moreau

Reise in die Nacht

Was ist das überhaupt für ein Film? Ein »Ster­be­drama«, wie der Spiegel schreibt? Nicht mehr, als Brokeback Mountain ein »schwuler Western« ist. Also ein bisschen schon, aber eigent­lich überhaupt nicht.

Die Haupt­figur von Le temps qui reste (Die Zeit die bleibt), dem neuen Film von François Ozon (8 femmes, Swimming Pool) ist der Pariser Fotograf Romain (Melvil Poupaud). Er ist gut im Geschäft, hat ein luxu­riöses Appar­te­ment, führt das typische Leben eines jungen, ledigen, normal egozen­tri­schen Groß­stadt­bür­gers: hedo­nis­tisch und amora­lisch, Genuss- und Lust­be­frie­di­gung jetzt und hier, und immer in den Tag hinein. Mitten in dieses schöne Leben platzt eines Tages die scho­ckie­rende Nachricht, dass er sterben wird: Sein Arzt diagnos­ti­ziert Krebs in derart finalem Stadium, dass nichts mehr zu retten ist.

Romain beschließt, die Zeit, die ihm bleibt, auf seine Weise zu nutzen, also weiterhin höchst egozen­trisch. Warum auch nicht, schließ­lich bleibt ihm nicht viel Zeit. Die meisten seiner Mitmen­schen sollen die Diagnose nicht erfahren. Seinen Lover setzt er ziemlich grob und mithilfe von Lügen vor die Tür, was zumindest den Zuschauer freut, weil der deutsche Darsteller Christian Sengwald zwar ein hübsches Kerlchen ist, aber so schlecht, dass es wehtut. Dann geht er zum Abend­essen zu seiner Familie und streitet sich mit ihnen, wie er es offenbar seit Jahren gewohnt ist. Erst mit seiner Groß­mutter (Jeanne Moreau) kann er wirklich reden. Denn sie, wie er ohne Ironie ganz nüchtern bemerkt, werde ja auch bald sterben, sie könne ihn also verstehen. Der versöhn­liche, sehr offen­her­zige Abschied zwischen Groß­mutter und Enkel gehört zu den intimsten und berüh­rendsten Momenten dieses Films, der von einer Reise in die immer dunklere Nacht erzählt.

Eine weitere Station auf diesem Weg führt ihn zu der Kellnerin Jany (Valeria Bruni-Tedeschi), einer Zufalls­be­kannt­schaft. Die verhei­ra­tete Frau bittet den beken­nenden Schwulen Romain um einen sehr spezi­ellen Gefallen: Weil ihr Gatte zeugungs­un­fähig ist, soll er mit ihr schlafen und ein Kind zeugen – für den Todkranken zugleich eine Ausein­an­der­set­zung mit der Frage, was von ihm über den Tod hinaus bleibt, ob ein leib­li­ches Kind, das er nie kennen wird, trotzdem für ihn eine Form ist, weiter­zu­leben.

Diese Frage wird von dem Film glück­li­cher­weise nicht entschieden, so entgeht Ozon der nahe­lie­genden Falle, das Weiter­leben der Gene zu verklären und damit auch den Tod des Indi­vi­duums. Mit den thema­tisch ähnlichen Filmen von Coixet und Chéreau teilt der Film aller­dings die implizite These, dass es falsch sei, unver­söhnt zu sterben, dass man den Tod bitte­schön irgendwie »anzu­nehmen« habe – was immer das heißen soll.

Im Vergleich zu Ozons anderen Filmen ist Le temps qui reste über­ra­schend gradlinig und bescheiden insze­niert. Es fehlt jene Magie, die Swimming Pool und 5 × 2 zu Kino-Meilen­steinen der letzten Jahre werden ließ, jener ganz spezielle Ozon-Touch. Statt­dessen hat dieser mit 38 immer noch junge, ungemein produk­tive Regisseur, der pro Jahr ein bis zwei Filme dreht und dabei Genres und Stile ständig wechselt, sich diesmal offenbar auch mit seiner eigenen homo­se­xu­ellen Identität und der Erfahrung der AIDS-Ster­be­welle unter Schwulen ausein­an­der­setzen wollen.

Le temps qui reste ist ein ernstes Kammer­spiel, eine Reflexion über das antike Motiv des »Sterben-Lernens«. Es ist kein Film über »den« Tod und er handelt nicht von der Furcht. Sondern von der Konfron­ta­tion eines jungen Menschen mit seinem eigenen Tod, die immer absurd bleiben muss. Denn diese Konfron­ta­tion, das zeigt der Film, ist eigent­lich eine mit dem Leben, mit Bezie­hungen, mit der Welt, mit der kein Frieden möglich ist, sondern nur ein Waffen­still­stand.