60. Filmfestspiele Cannes 2007
Advokaten des Teufels |
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Bitterböser Coup der Coen-Brüder: No Country for Old Men |
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(Foto: Universal Pictures) |
Cannes ist ein Raumschiff, und das ist jetzt längst aus dem Orbit herausgetreten und befindet sich im schwerelosen Raum, ohne ein Oben und Unten. Es gibt kein Filmfestival der Welt, an dem man so sehr das Gefühl hat, am richtigen Ort zu sein, wie hier. Alles was überhaupt passiert, passiert hier und jetzt, und die Welt könnte untergehen um einen herum. Da nutzt es gar nichts, zu wissen, dass es sich um eine Illusion handelt. Denn wir haben zuviele Filme gesehen, um noch
zu glauben, es gäbe ein Leben jenseits des Kinos, um zu denken irgendeine Wirklichkeit wäre weniger illusionär als die elektrischen Schatten der Leinwand.
Dass ist das Cannes-Gefühl und zu ihm gehören die drei Veranstaltungen, die gerade parallel stattfinden, während man die vierte besucht – und es ist immer die falsche. Man müsste überhaupt mal einen Text nur über alles das schreiben, was man verpasst hat, was gerade für einen nicht stattgefunden hat.
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Zum Beispiel die Pressekonferenz heute morgen. Ich war noch im Bett, als Chacun son cinéma lief, eine aus Anlass des 60. Jubiläums gedrehte Kurzfilm-Kompilation. 35 Regisseure waren beteiligt, und zwar Theo Angelopoulos, Olivier Assayas, Bille August, Jane Campion, Youssef Chahine, Chen Kaige, Michael Cimino,
Ethan & Joel Coen, David Cronenberg, Jean-Pierre & Luc Dardenne, Manoel De Oliveira, Raymond Depardon, Atom Egoyan, Amos Gitai, Hou Hsiao Hsien, Alejandro Gonzalez Iñarritu, Aki Kaurismaki, Abbas Kiarostami, Takeshi Kitano, Andrei Konchalovsky, Claude Lelouch, Ken Loach, Nanni Moretti, Roman Polanski, Raoul Ruiz, Walter Salles, Elia Suleiman, Tsai Ming Liang, Gus Van Sant, Lars Von Trier, Wim Wenders, Wong Kar Wai, Zhang Yimou. Klingt allemal hübsch, und ich will ihn nachholen. Die
Pressekonferenz aber, wie gesagt, hab ich verpasst. Da waren nicht alle 35, aber unter anderem Roman Polanski, und bei der dritten oder vierten dummen Frage redete er sich in Rage und schimpfte auf die blöden Kritiker, die nur noch aus dem Internet abschreiben und man solle doch besser essen gehen. Und ging. Vielleicht essen. Vielleicht unterzuckert. Vielleicht auch nur überfordert von der Aussicht neben einem Dutzend anderer Genies nicht genügend zur Geltung zu kommen. Nicht, dass
er völlig Unrecht hätte. Aber ganz recht doch auch nicht. Zumindest gibt es auch blöde Regisseure, die nur nachmachen, was die Kollegen vorgemacht haben, und wir müssen es dann anschauen.
Ich wäre natürlich gern mit Polanski essen gegangen, war aber wie gesagt gar nicht da. Ich wäre auch gern, zumindest für einen Tag, mal Polanski. Denn Polanski darf alles. Außer in die USA einreisen.
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Zum Cannes-Gefühl gehört die Freundlichkeit der Festivalmitarbeiter, die noch Stil haben, wo sie irgendeine völlig sinnlose „ordre“ durchexerzieren und sich nie wirklich und eben doch ein klein bisschen anmerken lassen, wie unsinnig sie sie selber finden. Dazu gehören die feuchtgespritzten Straßen am Morgen, der Weg entlang der Croisette ins Kino, die Zeitschriften, die man sich unterwegs schnappt. Darin stehen zum Beispiel die aktuellen Kritiken und Kritikerspiegel.
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Apokalypse im Grenzland zwischen den USA und Mexiko, ein Serienkiller in Kalifornien, Abtreibung in Rumänien, Frauen die alles tun, nicht nur für Geld, und Männer, die frustriert sind, trotz vielerlei Reichtümer, böse Kapitalisten und Folterlager, Anwälte des Terrors – auf den ersten Blick herrscht die Hölle in Cannes, doch cineastisch ist man nahe am Himmelreich. Denn dem Kino nutzt es, wenn es in Grenzbereiche der Seele und der Moral vordringt, Exzesse auslotet,
Ungesehenes zur Erscheinung bringt.
Düstere Geschichten und um so heller strahlende künstlerische Glanzlichter prägen die ersten Tage der Filmfestspiele: Das gilt für David Fincher und die Coen-Brüder aus den USA gleichermaßen wie für die Franzosen Olivier Assayas und Barbet Schroeder, wie für ein paar Asiaten an Nebenschauplätzen und für den weltbekannten Fotografen Anton Corbijn, der hier als Regiedebütant auftritt.
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Bisher nur Filme, die es zumindest wert waren, gesehen zu werden. Kein einziges Mal bisher das Berlinale-Gefühl: Selbst wenn die Filme gut sind, sind sie irgendwie unnötig und man könnte auch gut auf sie verzichten. Enttäuscht hat bisher nur Michael Moore. Und obwohl ich sie nur äußerst ungern in einem Atemzug nenne, stellt sich auch Wong Kar-wais Eröffnungsfilm My Blueberry Nights je länger er her ist, als eine gelinde Enttäuschung heraus – noch eine äußert angenehme. Fast immer enttäuscht werden allerdings alle Vorab-Erwartungen, denn fast allen bisherigen Filmen gemeinsam ist, dass sie frühere Werke ihrer Macher gewissermaßen dementieren.
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Das beste Beispiel ist No Country for Old Men, der neueste Film der Coen-Brüder. In den letzten zehn Jahren drehten sie nur Komödien, die überdies zunehmend seichter wurden, und auch in ihrem Welterfolg Fargo dominierte ironische Distanz über eine oberflächlich brutale, aber doch in erster Line witzig und gagorientiert erzählte Geschichte. Nun aber zeigen die Coens ihr wohl düsterstes Werk seit ihrem Debüt mit Blood Simple vor immerhin 22 Jahren – und es ist ihr bester Film seit Fargo. Zurückzuführen ist das wohl auch auf den Autor der Buchvorlage, Cormac McCarthy, den ausgemachtesten Apokalyptiker der US-Literatur und einen der besten Schriftsteller der Welt. No Country for Old Men ist hochkarätig besetzt – unter anderem mit Tommy Lee Jones und Javier Bardem –, spielt in Texas und erzählt von den Folgen eines missglückten Drogendeals. Ein präzis und ohne Manierismen und Effekthascherei inszeniertes, lakonisches, stoisches Panorama der Sinnlosigkeit, in dem man sich auf nichts verlassen kann, außer dass nicht viele Charaktere das Filmende erleben werden. Mord und Totschlag in der Prärie, menschliche Destruktivität in einem Ausmaß, das man zunächst einmal darüber staunte, wie lange es dauerte, bis die Mehrheit im Saal merkte, dass sie jetzt besser nicht lachen würde, dass das jedenfalls nicht zum Lachen gemacht war. Alles in allem ein ausgezeichneter Film, dem man allenfalls einen latenten Zynismus vorwerfen könnte – aber Zyniker sind bekanntlich unter der coolen Maske Hochsensible.
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Das gilt nicht minder für David Fincher. Zodiac haben wir gestern zwar schon besprochen, aber im Gegensatz zu My Blueberry Nights wird er im Nachwirken immer besser. Was auch am extremen Zuschauerverblüffungstalent des Regisseurs liegt. Und daran, dass es Fincher immer gelingt, ins Herz
der jeweiligen Epoche zu treffen, irgendeinen grundsätzlichen Aspekt seiner Gegenwart anzusprechen, seine Zeit in filmische Erscheinung zu fassen. Fincher macht es, mit anderen Worten, niemals unter seinem Niveau.
Mit Zodiac ist Fincher ein Film gelungen, der alle Erwartungen dementiert. Wie Preminger in Anatomy of a Murder legt der Film die Indizien auf den Tisch und sieht den Decodierern dann bei der Arbeit zu. Im Zweifel für den Angeklagten, also für die Wahrheit, gegen die schnelle Gewissheit. Im Zentrum stehen diese Decodierer, die Fährtenleser, die Jäger des Killers, die Polizei und die Medien. Sie sind so verschieden wie ihre Darsteller, wie Jake Gyllenhaal, Robert Downey Jr., Mark Ruffalo – als Inspektor Toschi, das reale
Vorbild für die Michael-Douglas-Figur in „Die Straßen von San Francisco“ –, Anthony Edwards aus „ER“.
Der Film erzählt von Spuren, die kalt werden. Er tut das im Stil des Film Noir: Coole Gesten, heiße Herzen, Männerwelten, kalter Kaffee, wache Nächte, zuviel Drinks und zuwenig Liebe. Zodiac ist ein philosophischer Essay und es ist die Praxis der Ernüchterung,
von der Zodiac handelt, also von dem, was der Westen gerade erlebt. Er zeigt, dass der Gang in die Bibliothek eben nicht immer, wie in Se7en, Aufklärung bringt, dass die Welt kein Text ist, der sich in jedem Fall dechiffrieren lässt. Manche Türen haben keinen Schlüssel. Fincher wird mit diesem Film zum
Sokrates des Gegenwartskinos: Er weiß, dass er nichts weiß.
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Zodiac und den Coen-Film eint insgeheim, dass beide Filme sich den Wünschen der Zuschauer nach Antwort verweigern, dass sie Zuschauererwartungen nicht bedienen.
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Interessant, wenn auch nicht völlig überraschend ist die Tatsache, dass der rumänische Abtreibungsdepressionsfilm 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile von Cristian Mungiu auch am Sonntag noch die erwähnte Filmkritiker-Rangliste anführt, natürlich nur die der internationalen. Die Franzosen, die bekanntermaßen mehr Geschmack haben, favorisieren geschmackssicher No Country for Old Men.
»Der Regisseur meint den Mist auch noch bitterernst.« sagt Dana aus den Niederlanden, Redakteurin der Monatszeitung „De Filmkrant“, einer der besten Filmzeitschriften des Landes über den rumänischen Film. Sie hat ein Interview mit Mungiu gemacht und ist überzeugt, der Regisseur sei ein „pro life“-Anhänger und der Film als entsprechendes Statement gedacht. Violeta aus Barcelona, auch Kritikerin, spekuliert
derweil, aus welchem Material wohl das Fötusmotell gemacht war, das die Kamera am Filmende bedeutungsvoll anstarrt. »Es sieht aus, wie aus Marzipan. Und vielleicht haben sie es nach Drehschluss dann gegessen.«
Man sieht: Der Film wirkt immerhin nach. Hoffentlich aber nicht 4 Monate, 3 Tage und 2 Stunden.
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Ein sicherer Preiskandidat wäre auch Olivier Assayas, würde sein neuer Film nicht außer Konkurrenz laufen. Wieder so ein Film, der die Geister spaltet, wieder einer, der 80 Prozent der Zuschauer wütend macht, wieder ein Film, wie man sie nur auf einem Festival wie diesem sehen kann, nur auf diesem Festival – wir müssen darauf noch ausführlicher zurückkommen. Jetzt nur soviel: Boarding Gate erzählt eine Liebesgeschichte zwischen Paris und China, spielt in den Welten der Gangster und Kapitalisten, die sich kaum überraschend zum Verwechseln ähneln, und ist getragen von einer großartigen Asia Argento. Lost in Translation mit Knarren und Sex, und bis zum Schluss versteht Assayas' Kino der Poesie und Wildheit zu überraschen.
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Genau das kann man leider von Michael Moore nicht sagen: In Sicko, der vom maroden US-Gesundheitssystem handelt, passiert genau das, was bei Moore immer passiert: Reiche beuten arme Menschen aus, die Linke ist gut und die Kapitalisten böse. Mag ja alles stimmen, nur ist bei Moore alles derart vorhersehbar, das man den Film nicht braucht. Und statt etwas politisch ernst zu meinen, dient alles in
erster Linie als Anlass für billige Lacher.
Wirklich deutlich wird die Plattheit der Mooreschen Agitation im Kontrast zu Barbet Schroeders L’avocat de la terreur. Diese grandiose Dokumentation rekonstruiert das Leben von Jacques Vergès, jenem Anwalt, der zu de Gaulles-Resistance gehörte, und später algerische Attentäter, dutzende afrikanischer Diktatoren, Pol Pot, PLO-Terroristen, aber auch den Nazi-Schlächter Klaus Barbie verteidigte –
immer auf der Seite derjenigen, die keinen Fürsprecher mehr haben, aber auch von einer geheimen Faszination für Gewalt und Geheimnisse getrieben – die Schroeders sensationeller Film überaus präzise spiegelt. Und damit zugleich zeigt, was Dokumentationen jenseits von Moore leisten können: Das Unvorhersehbare sichtbar machen, einer Faszination visuelle Gestalt geben, Geheimes enthüllen – wie gute Spielfilme auch.
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Interviews in Cannes sind begehrt. Die Verleiher müssen die wenige Plätze – Slots sagt man hier, wie Startfenster am Flughafen – beim Weltvertrieb teuer einkaufen. Und jeder von uns Journalisten, der hier ein Interview macht, weiß dass der Verleih für ihn eine vierstellige Dollarsumme bezahlt hat – kann man dann eigentlich noch ein kritisches Interview veröffentlichen. Oder gar keins, weil der Star – „Talent“ sagt man hier auch noch wenn es
sich um Robert de Niro handelt, und manchmal ist das sogar die zutreffende Bezeichnung – indisponiert war? Und wenn das Band kaputt gegangen ist, muss man dann das Geld zurückzahlen, oder macht man den Tom Kummer und „erschafft“ das Interview neu?
Fragen über Fragen. Vor diesem Hintergrund ist aber eine andere Geschichte besonders interessant, die Dana erzählt: Der niederländische Verleiher des Tarantino-Films Grindhouse hatte vier Cannes-Slots zur Verfügung. Zwei gab er größeren Zeitschriften, die beiden anderen hat er meistbietend auf dem Markt angeboten. Mindestgebot: 1500 Dollar.
»Das gab’s bisher noch nie.« meint Dana, und auch wir finden, dass diese Geschichte schon deshalb Verbreitung verdient, damit der Verleiher eines Tages in der Hölle
schmort. Und weil sie wahrscheinlich die Zukunft ist. Darüber sollte Michael Moore mal einen Film machen: Flicko
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Auf der Toilette nach dem Film traf ich dann Fatih Akin. Relaxed, gelassen, mit dem ruhigen Charisma, an dem man Leute erkennt, die hier gewinnen können. »Toller Film« war auch sein Fazit und als ich mich wunderte, dass er überhaupt noch Zeit fürs Filmgucken hat, meinte er: »Vorher is viel Zeit, nur hinterher nicht mehr.« Akin genießt Cannes ganz offensichtlich. Und verabschiedet sich mit einem »Hau rein!« Tun wir. Jetzt gleich.