58. Berlinale 2008
All documentaries are lies |
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Streng wissenschaftlich: Green Porno |
Von Dunja Bialas
Wer heute noch sagt, Dokumentarfilme müssten immer etwas mit Wahrheit zu tun haben, der hat auf der Berlinale den Großmeister des direct cinema, James Benning, verpasst. Dieser bekannte offen: »All documentaries are lies«. Wer darüber hinaus denkt, dass die Elemente des Wirklichen, die Fakten, Wahrheit produzieren, der hat dem Großmeister des Experimentellen, Guy Maddin, nicht zugehört, der über seinen somnambulen My Winnipeg sagte: »There are no facts, but truth.« Also ein Film ohne Fakten, der aber wahr ist. (Das sollte man mal einem gewissen Nachrichtenmagazin nahebringen.) Und darüber hinaus gibt es dann noch den dritten Fall, dass zwar alles auf Fakten basiert und mit ihnen auch auf Wirklichkeit verwiesen wird, diese aber nicht mehr wahrheitlich abgebildet wird. Dies war der Fall bei Isabella Rossellinis Green Porno-Filmen, in denen es streng wissenschaftlich zugehe, wie sie bei der Präsentation sagte. Die aber in Wirklichkeit aberwitzige Kostümfilme waren, in denen Rossellini selbst Insekten, Spinnen, Würmer und Schnecken bei ihrem Sexualverhalten spielt.
Präsentiert wurde die Green Porno-Aufklärungsrolle im Atrium des Filmhauses, das seit zwei Jahren dem »Forum expanded« Raum gibt, also der mit experimentellen Filmen erweiterten Berlinale-Sektion für den »jungen Film«. Die Filme wurden auf den Displays von Handys abgespielt, die inmitten von liebevoll gestalteten Pappmaché-Terrarien in Vitrinen aufgestellt waren. Unter der Lupe betrachten konnte man drei der insgesamt acht Green Porno-Filme, die Rossellini für das sogenannte „Handy-Kino“ realisiert hat. Sie folgte dabei einer Initiative des Sundance-Filmfestival-Leiters Robert Redford, der bereits im vergangenen Jahr mit dem „Global Short Film Project“ unabhängige Filmemacher dazu aufgerufen hat, die Potentiale des Mobilfunks auszuschöpfen – als Medium für ein weltweites Publikum.
Rossellini hat sich bei ihren Mini-Filmen ganz auf die Anforderungen und Beschränkungen des kleinen Handy-Displays, des sogenannten »dritten Screens« eingelassen. Sein Farbspektrum basiert auf Grün, was sie bei der Farbwahl der Kostüme berücksichtigt habe, sagte sie bei der Präsentation. Außerdem habe sie comicartige Farbkontraste und Gesten gewählt, sich auf ein Objekt im Bild beschränkt, auf Kameraschwenks verzichtet, und sich in etwa an eine Minute Filmlänge gehalten. Genial ist hierbei natürlich, dass sie sich die Kleingetiere vorgenommen hat. So entkommt sie immerhin von ihrem Konzept her dem verkleinernden Effekt des Handy-Displays und macht im Gegenteil Vergrößerungs-Filme, Aufklärungsstreifen, die das im Kleinen Verborgene sichtbar machen.
Das klingt ja alles zunächst ziemlich attraktiv, und die Rossellini-Filmchen waren sehr hübsch anzusehen und obendrein auch noch witzig. Aber auch die perfekt durchdachten Beiträge von Rossellini zeigten, dass Kino doch immer noch das Größte ist. Ihre Pornofilmchen wurden auch ganz normal auf der großen Leinwand gezeigt, als Vorfilme zu Guy Meddins My Winnipeg. Was auf dem Handy nur ein gespielter Witz war, wurde auf der Leinwand zu einem veritablen Vergnügen mit außer Kraft gesetzten Raumdimensionen, in denen Rossellini eine uneitle und humorige Performance lieferte. Dennoch: verlockend ist der Gedanke schon, künftig die Rossellini-Streifen auf dem eigenen Handy abspielen zu können. Kino als Kultur-Accessoire und Gimmick für Anspruchsvolle. Der Download ist ein naheliegendes Modell für die Refinanzierung solcher Film-Experimente und das ganze Projekt insgesamt auch ein großes Geschäft, hinter dem sich der weltweite Wirtschafsverband GSMA mit über 700 GSM-Anbietern verbirgt. Noch aber kann man sein Taschengeld nicht in GREEN PORNO investieren. Bis es soweit ist, sei ein Interview auf Youtube empfohlen , das Rossellini anlässlich der Sundance-Premiere gegeben hat und in dem Ausschnitte der Filme zu sehen sind.
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Was bei Rossellini überraschte, war, dass sie sich so akribisch an die wissenschaftlichen Fakten gehalten hat bei ihren Biologie-Comics. James Benning dagegen ist ein Filmemacher, bei dem man am wenigsten vermuten würde, dass für ihn die vorgefundene Wirklichkeit nicht der Maßstab seiner Filme wäre, er sie zur „Lüge“ umböge. Denn was kann ein Filmemacher wie Benning schon groß dazuerfinden in seinen Filmmeditationen, in denen sich fixe Ansichten von amerikanischen Landschaften auf stoische Weise ablösen. »All is true« sagen seine Bilder, hier die Kamera in starrer Einstellung, dort das Gefilmte, ein See, ein Himmel oder ein Zug, je nach dem Sujet, das er seinen monothematischen Filmen gibt. Dass aber gerade dieses »all is true« seiner Bilder, in denen die Kamera einfach auf die Landschaften draufhält, nicht greift, wenn es darum geht, Aussagen über die Wirklichkeit mittels seiner Filme zu formulieren, war auch in seinem neuesten Film RR der Fall, der im Forum präsentiert wurde. RR ist die Abkürzung für Rail Road, und Benning hat in über hundert Minuten gezeigt, wie 43 Züge durchs Bild rattern, meist überlange Güterzüge, so wie es nur die amerikanischen Weiten zulassen, ein Personenzug ist dabei und dann noch, wie ein humorisches Augenzwinkern, ein einzelner Triebwagen, der einsam und verloren durch eine Ebene fährt. Sein »Trainspotting« aber gilt weniger den Zügen selbst, als einer medialen Aufmerksamkeit. Seine Bilder sind Erzählungen darüber, wie sich durch die Bewegung eines Objekts innerhalb einer starren Ansicht der Bildcharakter selbst fotografisch wandelt. Während die Waggons der Züge die Kino-Leinwand durchfahren, ergeben sich Ausblendungen von Teilen des Bildes, dann wieder Einblicke, ganz im Rhythmus der Waggonanordnungen. Parallelen tun sich auf zur Vorführapparatur eines Films, wenn in den Waggonzwischenräumen in regelmäßigen Abständen ein Haus erscheint, ganz wie auf der Licht-Bühne beim Filmtransport, die das Frame des gerade projizierten Bildes verortet. Benning filmt unmarkierte Landschaften wie eine steinige Wüste, durch die sich langsam ein Güterzug hindurchquält, Industrielandschaften, in denen banale Pfützen in Szene gesetzt werden, aber auch landschaftlich anheimelnde Schienenführungen an Küsten entlang oder weiß-in-weiß durch Schneelandschaften hindurch. Jedes seiner Zug-Bilder sind kleine Kurzfilme und jede Einstellung verdiente eine eigene Bildbeschreibung, so unterschiedlich, variationsreich und durchdacht sind sie. Höhepunkt des Films ist eine spektakuläre Streckenführung, wenn der nicht enden wollende Güterzug »Santa Fé« erst in den Fluchtpunkt des Bildes hineinfährt, um einige Minuten später auf einer Brücke von links wieder ins Bild hineinzufahren, während seine Waggons immer noch auf der z-Achse dahinrollen, er also gewissermaßen über sich selbst hinwegfährt, und dies minutenlang. RR ist für Benningsche Maßstäbe ein Actionfilm, der auch immer wieder hochgradig selbstreflexiv ist, wenn z.B. ein Auto an einer heruntergelassenen Schranke hält, und der Fahrer dann wartenderweise zeitgleich zum Zuschauer den Zug passieren lässt. Was ganz beiläufig die Frage nach dem ästhetischen Potential von banalen Ereignissen aufkommen lässt, das, wie Benning uns zeigt, immer ein Frage des Standpunktes und der medialen Vermittlung ist. Und deshalb, so Benning, ist eben auch jeder Film, der angeblich Wirklichkeit wiedergibt, eine Lüge. Denn er trifft für sich selbst genommen überhaupt keine Aussage über vorgefundene Wirklichkeiten. Benning nimmt dies als Selbstverständlichkeit und synchronisiert deshalb meist auch seine Bilder nach. Er gibt jeder Einstellung eine Tonspur, die enthält, was ihm selbst im Zuge seiner Bildrecherche wiederfahren ist oder was ihm typisch für den Ort erscheint. Zwar ist sein Bild immer direct, sein Ton ist es in den meisten Fällen nicht.
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RR war unbestritten ein Höhepunkt der Berlinale (nicht zuletzt auch deshalb, weil die Präsentation im Delphi stattfand und selbiges ausverkauft war. Und das bei einem »Benning«, dem angeblichen Kassengift. Da kann man nur hoffen, dass Berlin Maßstäbe für die jetzt im Münchener Filmmuseum stattfindende Retrospektive gesetzt hat).
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Einen Film von Benning zu sehen ist immer ein Erlebnis. Aber er ist ein Altmeister, dem der Ruf seiner Filme vorauseilt, und eigentlich keine wirkliche Entdeckung mehr. Tirador dagegen, ein philippinischer Filmvon einem Regisseur mit dem sprechenden Namen Brillante Ma. Mendoza, der mit dokumentarischen Mitteln den Alltag von Kleinkriminellen in Manila inszeniert, war dieses Jahr die Entdeckung im Forum des Jungen Films. Tirador ist ein Ensemblefilm, der in losen Szenen und in schmutzigem Handkamera-Stil ein Pandämonium zeichnet, in dem die Existenz der verarmten »Tiradors«, also derjenigen, die sich als Taschendiebe durchs Leben schlagen, immerzu ins Katastrophale kippt. Es ist schon kaum erträglich mitanzusehen, wie eine Gruppe von Jugendlichen Crack in einem Kellerverschlag raucht, während einer ein Baby auf dem Arm hält, das nicht aufhören will zu schreien. In der nächsten Szene aber liegt das Baby nackt in seiner Wohnung, von seinen Fäkalien umgeben, die Mutter betritt die Wohnung und entdeckt, dass das Kind seine eigene Scheiße frisst. Es gibt immer eine Steigerung in die Katastrophe hinein. Oder wenn einer jungen Frau die gerade erhaltene Zahnprothese, die sie sich durch Prostitution hart erarbeitet hat, beim Putzen in den Schlamm der Gosse fällt, und sie sie verzweifelt und ohne Erfolgsaussicht zu suchen beginnt. Meist werden die Szenen an diesen Tiefpunkten abgebrochen. Hier geht eine Welt zugrunde und immer tiefer ins Chaos hinein. Und was der Film inhaltlich inszeniert, wird formal äußerst konsequent umgesetzt. Selten hat man unruhige Plansequenzen, schnelle Schnitte und dichte Close-Ups ästhetisch so berechtigt und richtig erlebt wie in Tirador.
Tirador wurde mit dem Caligari-Filmpreis ausgezeichnet. Der Film ist ein kraftvolles Beispiel für das dokumentarische Independent-Kino von den Philippinen, das jungen Filmemachern wie Khavn de la Cruz oder Raya Martin zu einer ungesehenen internationalen Aufmerksamkeit verholfen hat. Und er ist »Garagen«-Kino, der mit den einfachsten technischen Mitteln und mit Laiendarstellern gedreht wurde, in provisorischen Kino-Scheunen aufgeführt wird und von einer großen Lust zeugt, das Leben erzählerisch auf die katastrophale Spitze zu treiben. Er ist gesättigt von Wirklichkeit, von der realen Existenz der armen, über Jahrzehnte vernachlässigten und geschundenen Bevölkerung, dessen Stilmittel gewollte Effekte des Realen sind, um das Dokumentarische in die Fiktion hineinzubringen.
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Vor allem um emotionale Effekte ging es dagegen der Wettbewerbs-Dokumentation Standard Operating Procedure von Errol Morris. Sein Film befasst sich mit den skandalösen Folterungen, die im Jahre 2003 im Gefängnis von Abu Ghraib von US-Soldaten durchgeführt wurden, und die 2004 durch Fotos an die Weltöffentlichkeit gerieten und eine Welle des tiefen Entsetzens hervorriefen. Morris versammelt die Folterer von damals, sofern sie ihm verfügbar waren (einige von ihnen sind noch in Haft und waren nicht befragbar), vor seiner Kamera. Er lässt sie schildern, wie es zu den Erniedrigungen und dem Missbrauch der irakischen Inhaftierten kam. Der Gefangenenmissbrauch wurde ganz bewusst eingesetzt, um Geständnisse zu provozieren, so die einstigen Folterer, und sie hätten schon existiert, als sie im Gefängnis ihren Dienst antraten, hätten also „einfach dazugehört“. Was sie als systemimmanent ausweist und damit auch nur zum „standard operating procedure“, zu einem Standard-Vorkommnis mache und zu einem Routine-Fall, wie er im Rahmen einer Haft nun einmal passiere, urteilte später das Tribunal, das über die Ausmaße der Folterungen Gericht hielt. Dem Unbegreiflichen dieser Normalität geht Morris nach. Deutlich wird (und vom Gericht anerkannt ist), dass die damals sehr jungen und unerfahrenen Soldatinnen selbst zu Opfern des unter den Soldaten herrschenden Machtgefälles und damit zu unreflektierten Mittäterinnen wurden. Erstaunlich ist, auch für die Protagonisten, dass überhaupt mit Fotos über die Folterungen Zeugnis abgelegt wurde, sie teilweise sogar mit drei verschiedenen Kameras dokumentiert wurden. Laut Aussagen von den Befragten, zu denen unter anderem Lyndie England gehört, wurden sie anfangs vor allem für das eigene Fotoalbum gemacht. Erst später, als sich die Folterungen immer weiter zuspitzten, bis zum Tod eines irakischen Gefangenen, sollten die Fotos gezielt dokumentieren, dass in Abu Ghraib gefoltert wurde. Morris unterlegt die Zeugenaussagen mit einem unheilvollen Score, ganz, um das Schreckenspotential der Berichte emotional noch weiter auszuloten, als würden die Worte der Täter und Täterinnen nicht schon selbst das Entsetzen hervorrufen können. Dies ist der sehr amerikanische Dokumentarstil, in dessen Fänge Morris leider tappt. Im Glauben nach der Wahrheit über die Ereignisse lässt Morris noch einmal im Staatsanwalt-Stil mittels der Fotos und Täterberichte die Gewalttaten rekonstruieren. Standing Operating Procedure aber ist trotz dieser rationalistisch-aufklärenden Bemühung ein Horror-Film, ein wenn auch sorgsam reflektiertes, so doch äußerst unbehaglich stimmendes Snuff-Movie. In ihm tritt das eigenartige ikonographische Potential der Fotos nochmals deutlich hervor, als ob dem Obszönen eine ureigene Symbolkraft des Bösen innewohnte. Und gerade dies ist der imaginäre Überschuss, der sich auch den aufklärerischen Bemühungen von Morris entzieht. Die Wahrheit über die Taten, so Morris, ist auffindbar, durch die vergleichende Analyse der Berichte und Fotos. Sein Film ist ein weiterer Beitrag zu den amerikanischen Aufklärungsfilmen über den »uncomfortable truth«. Der tieferen, vielleicht anthropologischen Wahrheit aber darüber, wie solche Handlungen passieren können und was diese Bilder in uns auslösen, wird auch in diesem Film nicht nachgegangen. Übrig bleibt am Ende wieder nur das blanke Entsetzen und der Skandal.
Dunja Bialas