Cinema Moralia – Folge 12
Am Anfang war das Hinsehen |
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Sein 75. Geburtstag: Belmondo in Godards Pierrot le fou |
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(Foto: Société Nouvelle de Cinématographie (SNC)) |
Zwei oder drei Blicke genügen. Etwa die von Anna Karina und Jean-Paul Belmondo in Godards Pierrot le fou. Sie gelten vor allem einander oder der Kamera, aber mit ihnen werfen auch wir Zuschauer einen neuen Blick auf die Welt. Selten hat das Kino uns die Welt in einem derart frischen Licht gezeigt, wie Anfang der Sechziger die »Nouvelle Vague«. Die Leinwand erbebte unter einem unglaublichen Augenöffnen.
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Auch kaum zu glauben: Über die »Nouvelle Vague«, diese wohl wichtigste Bewegung des europäischen Nachkriegskinos und Geburtsstätte des Autorenfilms, gab es bisher tatsächlich keine deutschsprachige Gesamtdarstellung – nur Monographien zu einzelnen Regisseuren und die unvergleichliche Sammlung der Essays von Frida Grafe. Auch der von Norbert Grob und anderen herausgegebene Band, der jetzt im Bender Verlag eine neue Reihe mit dem Titel »Genres/Stile« eröffnet (Norbert Grob/ Bernd Kiefer/ Thomas Klein/ Marcus Stiglegger (Hg.): »Nouvelle Vague. Genres/Stile: Band 1«; 224 S., 12,90 EUR, Bender Vlg., Mainz), schließt diese unbegreifliche Lücke nicht, dafür ist er mit gut 200 Seiten zu knapp und als Sammelband mit 27 Texten von 14 Autoren zu disparat und eklektisch in seinen Perspektiven. Aber immerhin legen diese Texte eine Grundlage, auf der eine solche Darstellung zu schreiben wäre. Und lohnenswert ist ihre Lektüre unbedingt!
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Nur ganz wenige Seiten braucht der Leser, um schon von Grobs Einleitung hineingezogen zu werden in die Kino-Leidenschaft jener Handvoll französischer Autoren, die in den 50er-Jahren das Kino neu erfanden. Gelassen skizziert Grob die Vorgeschichte dieser Epoche, die durch die ersten Filme von Agnes Varda und Claude Chabrol und die Texte der »Cahiers du cinéma« gebildet wird, bevor im Wunderjahr 1959 mit Godards Außer Atem, Truffauts Sie küßten und sie schlugen ihn und Resnais' Hiroshima, mon amour das Kino auf immer ein anderes wurde. Der Begriff der »Nouvelle Vague« hat übrigens, auch daran erinnert Grob, seinen Ursprung nicht in Filmen oder in Thesen der Filmwissenschaft, sondern in einer Artikelserie des »L’express«, die im Herbst 1957 das Lebensgefühl der Jugend auf diesen Begriff brachte, das dann in den Filmen der neuen Welle seinen adäquatesten Ausdruck fand.
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Noch eine Erinnerung: Die »Nouvelle Vague« war kämpferisch und sie war eine Bewegung, die mit Filmkritik begann. Am Anfang war das Hingucken, doch gleich danach kam die Langeweile angesichts der Klischees des Mainstream-Kinos, der Überdruss an den Konventionen, die nicht zuließen, das zu zeigen, was man sah: »Wir können Euch nicht verzeihen« schrieb Godard in einem frühen Text, »dass ihr nie die Mädchen gefilmt habt, so wie wir sie mögen, Jungen, denen wir täglich begegnen.«
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Die verkörperten dann Anna Karina und Jeanne Moreau, Jean-Paul Belmondo und Jean-Pierre Léaud, die erst mit den Filmen der »Nouvelle Vague« als Darsteller 'gemacht' wurden, und ungesehene Haltungen und Typen auf die Leinwand brachen. Geschickt verbindet der Band Portraits dieser und anderer Schauspieler mit jenen der wichtigsten Regisseure: Psychologisierend und zitatgespickt, dabei vergleichsweise blass und ohne eigenständige These bleibt der Beitrag zu Truffaut; umso anregender ist Bernd Kiefers Text zu Godard, der dessen Modernität im »Spiel des Kinos mit sich selbst« erkennt, trotz aller Genfer Bilderstürmerei in der französischen Geistesgeschichte verankert und überzeugend mit Montaignes Wissen um das »Schaukeln der Dinge« verknüpft. Hinzu kommen Aufsätze zu einigen Grundsatzfragen: Das Kino selbst und die Filmgeschichte werden in diesen selbstreflexiven Filmen zu Leinwandpersonen, die Frauen werden befreit, von Objekten zu aktiven, auch fatalen, jedenfalls aber handelnden Subjekten. Es geht um die Liebe und das Leben, doch beides ist unbedingt mehr als schiere Alltagswirklichkeit, ist immer auch Utopie.
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Diese verbindet die »Nouvelle Vague« mit dem Roadmovie, dem Aufbruchsgenre schlechthin, und Thema des zweiten Bandes von »Genres/Stile« (Nobert Grob/ Thomas Klein (Hg.): »Road Movies. Genres/Stile: Band 2«; 191 S., 12,90 EUR, Bender Vlg., Mainz). Bewegung eint beide – Roadmovies hat die »Nouvelle Vague« trotzdem allenfalls einen halben hervorgebracht: Pierrot le fou. Und auch sonst fällt einem aus Europa nur Wenders' Alice in den Städten ein. Der Roadmovie ist – wie wohl sonst nur der Western – das uramerikanische Genre schlechthin. Und wie nicht oft kommt hier das Kino für Augenblicke ganz zu sich, wird erkennbar als Kunst reiner Bewegung und des Glücks in ihr. In einer Reihe von konzentrierten Beiträgen arbeiten die Autoren des Bandes die Geschichte und die wichtigsten Facetten dieses Genres heraus. Ihre Verwurzelung in der Malerei der Gegenkultur und deren rebellischem Lebensgefühl wird dabei gezeigt, wie umgekehrt und nur scheinbar paradox in den antiurbanen Erfahrungen des US-Herzlandes, des midwest. Der Vergleich zum Western, mit dem der Roadmovie doch außer der Bewegung auch eine spezifische Landschaftserfahrung und -darstellung teilt, wird allerdings leider nur gestreift. Besonders erwähnenswert ist Kai Mihms kurzer Text zu den »Rennfilmen« – nicht »Rennfahrerfilmen«! – unter den Roadmovies. Während sich Wim Wenders' üppige »Flüchtige Notizen zum Unterwegs-sein« über eine Promotiontour, die ihn in vier Wochen von Berlin über Frankfurt, Belgrad und diverse US-Städte führt, bei allem Charme dann doch auf die nicht völlig neue Bemerkung reduzieren lassen, dass es sich unterwegs »wacher und intensiver« lebt, als zuhause.
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Lesenswert, wenn auch im Zusammenhang etwas deplatziert, ist schließlich Knut Hickethiers Essay zu den gar nicht so wenigen deutschen Roadmovies. Darin findet sich der entscheidende Satz: »Es geht also mehr darum, überhaupt die große Fahrt zu wagen als darum, irgendwo anzukommen.« Das ist es wohl, im Kino wie im Leben.
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Neulich im Kino: Vor einer Pressevorführung wurden vorab fünf Minuten eines Films gezeigt, mit dem Hollywood sich mal wieder dumm und dämlich verdienen will. Speed Racer soll das nächste ganz große Ding dieses Sommers werden, die Befreiung von den Blockbuster-Flops der letzten Jahre. Mal abwarten. Verantwortlich ist das MATRIX-Team, Produzent Joel Silver und die Brüder
Wachowski, denen wir nicht zu übel nehmen wollen, dass sie sich mit den beiden MATRIX-Folgefilmen die goldene Nase verdient haben, die sie – als bis dato Unbekannte mit schlechten Verträgen – sich mit Matrix noch nicht verdient hatten. V wie Vendetta war dann ja wieder sehr hübsch.
Die wenigen Speed Racer-Minuten, die nach Joel-Silver-Einführung gezeigt wurden, eine Art aufgepeppter Trailer, sind hoffentlich nicht repräsentativ, sondern vielleicht mehr für Kürbisköpfe aus dem Middle-West konzipiert. Jedenfalls lassen sie das Schlimmste befürchten: Laut, schrill, prollig und dumm, im allerschlimmsten Sinne amerikanisch und bei allem tricktechnischen Gepose unglaublich schlicht – von so etwas ausgehend
muss man wirklich Apokalyptiker werden.
Helden, die sagen: »Race is everything, it’s like a religion.« In Computerästhetik mit leichten 70er Verweisen geht es in dieser Verfilmung eines – das macht’s nicht besser – japanischen Comic um futuristisches Autorennen. Alles wirkt ein bisschen wie Rollerball mit Autos. Blau, rot, weiß – allein über diese naive, weil ernstgemeinte Verwendung der Farben der US-Nationalflagge könnte man lange schreiben, nach Ansicht von William Kleins Film Mr. Freedom (s.u.) begreift man erst WIE dumm dieser Film hier ist.
Wer will den Scheiß sehen? Ein Film für Automechaniker und computerspielende Schulschwänzer – aber wie gesagt: Das ist nur der Eindruck nach dem 5-Minuten-Trailer. Aber vielleicht hatte man den ja gezeigt, damit kritische Kritiker aus Angst vor Knallschäden gar nicht erst reingehen.
Da nutzt es auch nichts mehr, dass am die Zeile erscheint: »Only in cinemas.«
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»Zündet man ein Auto an, ist das eine strafbare Handlung, werden hunderte Autos angezündet, ist das eine politische Aktion.« Alle reden über 68, wir auch. Dieser Tage beginnen die manchmal erstaunlich staatstragenden, manchmal immer noch erstaunlich verächtlichen Jubiläumsfeiern zu »40 Jahre 1968« Und der zitierte Satz, mit dem wir unsere Erinnerung einleiten wollen, wird nicht deswegen falsch (oder wahrer), weil er von Ulrike Meinhof stammt. Ihr, wie vielen anderen, kann man jetzt im Fernsehen und in diversen Filmreihen zu 1968 begegnen.
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Über William Kleins oben erwähnten atemberaubend großartigen wie aktuellen Film Mr. Freedom in der 1968-Retrospektive des noch bis Sonntag laufenden Istanbuler Filmfestivals, einer von vielen Retros zum Thema, werden wir nächste Woche noch mehr schreiben. Seit einigen Tagen gibt es ihn auf DVD, und alle sollten ihn sich kaufen. Wer es mir nicht glaubt, dem macht vielleicht folgende »capsule« von Jonathan Rosenbaum Lust:
»William Klein’s over-the-top fantasy-satire (1968) is conceivably the most anti-American movie ever made, but only an American (albeit an expatriate living in France) could have made it. Despite Klein’s well-deserved international reputation as a still photographer, his films are almost unknown in the U.S., so this spirited and hilarious second feature offers an ideal introduction to his volatile talent. Filmed in slam-bang comic-book style, it describes the exploits of a heroic, myopic, and knuckleheaded free-world agent (Playtime’s John Abbey) who arrives in Paris to do battle against the Russian and Chinese communists, embodied by Moujik Man (a colossal cossack padded out with foam rubber) and the inflatable Red China Man (a dragon that fills an entire metro station). Donald Pleasence is the hero’s sinister, LBJ-like boss, and Delphine Seyrig at her giddiest plays the sexy, duplicitous double agent who shows him the ropes. Done in a Punch and Judy manner that occasionally suggests Godard or Kubrick, and combining guerrilla-style documentary with expressionism, this feisty political cartoon remains a singular expression of 60s irreverence.« (Chicago Reader)
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Wenn heute einer dem Geist von 1968 in Licht und Schatten wirklich treu ist, dann ist das wohl Lars von Trier. Jetzt erreicht uns die Meldung, der Meister drehe erstmals in Deutschland (wo sonst?): Antichrist (wie sonst?) heißt sein neues Kinoprojekt. »Dreht er mit alten Nazi-Schauspielern?« fragt der Istanbuler Freund und Kollege Engin kess, als ich das erzähle.
Keine Ahnung. Zu erfahren ist aber der Plot: Der Film beschäftigt sich mit einem Ehepaar, das den Tod des dreijährigen Sohnes verkraften muss. Die Mutter verfällt aufgrund von Schuldgefühlen in eine lähmende Angstneurose. Der Vater, ein erfahrener Psychologe, scheint den Tod des einzigen Kindes leichter zu verkraften. Um seiner Frau zu helfen, fährt er mit ihr in eine einsame Blockhütte, die in einem alten Wald liegt. Das therapeutische Experiment startet Erfolg versprechend. Allerdings wendet sich bald die Situation und immer beunruhigerende Ereignisse spielen sich in der Einöde ab.
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Nach den ersten Nouvelle Vague-Filmen ist Belmondo dann erst so richtig durchgestartet: Im Fernsehen gab’s am letzten Freitag zu seinem 75. Geburtstag gleich drei Filme, und irgendwie hing ich dann doch an der Glotze fest, obwohl die deutsche Synchronisation mit ihrer aufgesetzten 70er-Jahre-Lässigkeit einfach nur furchtbar anzuhören war. Während Der Greifer so lala war, irgendwie nicht mehr wirklich funktioniert, und sein Machotum nervt, ist Henri Verneuils Dünkirchen-Kriegsdrama von etwa 1965 immerhin historisch interessant. Der Zweite Weltkrieg war da erst 20 Jahre her, so lange, wie der Mauerfall. Erstaunlich wie männerselig und weinerlich das abgehandelt wurde, aber es gibt Hoffnung für die zukünftigen deutschen Filme über die DDR.
Großartig und beinahe eine Offenbarung aber war ein Serienkillerfilm von 1975, auch von Verneuil, mit Belmondo als fast ständig scheiterndem Ermittler: Alles, was in den 90ern den Serienkiller zum Kino-Held machte, steckt hier schon drin. Der Höhepunkt die grandiose Verfolgungsjagd in der Galerie Lafayette, zuerst schweigend, lauernd in einem Raum voller Schaufensterpuppen, dann chaotisch über Rolltreppen und Verkaufsräume, weiter in eine U-Bahn, minutenlang.
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Ein Fels im Meer der Bewusstseinsindustrie und damit ein Stück lebendiges 1968 sind seit jeher die Internationale Kurzfilmtage in Oberhausen. Sinnlich, leidenschaftlich, in besten Momenten überaus wild existiert hier seit mehr als 50 Jahren ein Filmfestival, das Kurzfilme zeigt, weil man sie hier als »wichtigste Quelle der Erneuerung des Films«, als Experimentierfeld begreift, »auf dem
sich zukünftige Filmsprachen herausbilden«.
Beim diesjährigen Festival, das vom 1. bis 6. Mai stattfinden wird, ist definitiv wieder mit spannenden Diskussionen und sehenswerten Filmen zu rechnen. Sonderprogramme nehmen »1968 und die Folgen« zum Anlass, danach zu fragen, was Strategien des Widerstands im Film heute sein können. Waren vor 40 Jahren die Zeiten einfacher, die Feindbilder klarer, die Methoden direkter? Jedenfalls erstaunen die Namen, die sich im Programm vor 40
Jahren finden: George Lucas, Martin Scorsese, Lindsay Anderson, Agnès Varda, Chris Marker, Werner Herzog.
Wer nicht bis zum Festivalbeginn warten will, oder noch unsicher ist, ob sich die Reise lohnt, kann bis zum 1. Mai 2008 die 12 Kandidaten des diesjährigen MuVi-Preises besichtigen, und für diesen Publikumspreis abstimmen. Dort findet sich auch ein Gang durch die neuere Geschichte des deutschen Musikvideos zu sehen: Rund 20 Clips aus zehn Jahren MuVi-Geschichte sind online zu besichtigen.
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Kurze Erinnerung noch einmal an die »Nouvelle Vague«, ein Satz von Truffaut, der auch perfekt zum Komplex ‘68 passt: »Ich weiß, dass ich immer auf der Seite der Ausgepfiffenen gegen die Auspfeifer war und dass mein Vergnügen oft da anfing, wo das meiner Kollegen aufhörte.« Das gilt mehr denn je, im Kino wie im Leben.
(To be continued)
Rüdiger Suchsland