Cinema Moralia – Folge 16
Wem die Krise nutzt, Ganz/Hitler, Zahlenspiele, Babelsberg und der Europäische Filmpreis |
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Es ist angerichtet beim Europäischen Filmpreis: der beste Film des Jahres, Couscous mit Fisch | ||
(Foto: Arsenal Filmverleih) |
Krise. Juchu! Endlich wieder Krise! Nein, wir meinen jetzt nicht diese besondere deutsche Lust am Bad in der Katastrophe, an Untergangsstimmung und Nibelungenhaftigkeit – zumal diese im Kino ja allem deutschen Krisenlustgerede zum Trotz seit Jahrzehnten leider keine besonderen Wirkungen zeigt. Wo ist eigentlich der phantastische Film, der mal in Deutschland erfunden wurde? Wo sind die Söhne und Enkel Nosferatus, wo die »mad scientists« à la Doktor Caligari und Professor Mabuse? Wo die Science-Fiction-Szenarien à la Metropolis? All das wurde schließlich mal in Deutschland erfunden. Wenigstens zu ein paar Nazi-Bodysnatchern hätte es doch das deutsche Kino in den letzten 60 Jahren bringen können. Was haben wir stattdessen? Einen Makkaroni-mampfenden Hitler und Tintenherz. Expressionismus, was ist nur aus Dir geworden!
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Zur geheimen Geschichte des deutschen Kinos. Was erzählt es uns eigentlich wirklich, dass Bruno Ganz nach seinem Hitler-Auftritt dann in Eichingers RAF-Film Horst Herold gespielt hat. Sage jetzt keiner, der ist ja bloß Schauspieler und spielt halt, was ihm angeboten wird. Das mag schon stimmen. Aber jeder Darsteller trägt seine Rollen mit sich und trägt frühere Auftritte in spätere mit hinein. Allein so funktioniert ja Götz George, der in jeder Rolle immer ein bisschen Schimanski ist, und zu seinem Verdruß immer auch ein bisschen Papa Heinrich. Im Fall von Ganz' Hitler-Auftritt war es so – das war ja meiner Ansicht nach das Skandalöse daran – dass Ganz seine ganzen lieben netten Onkel-Rollen, bei Wenders etwa, inklusive des menschgewordenen Engels über Westberlin in diesen Hitler hineingetragen hat und Hitler so ein bisschen zum lieben Onkel machte. Umgekehrt infiziert da alles nun aber die zukünftigen Ganz-Auftritte. Horst Herold war im Der Baader Meinhof Komplex eben auch ein bisschen Hitler. Und da Ganz sicher irgendwann am Theater auch den Lear spielen wird, warten wir schon darauf, was dieser Hitler-Effekt hier wohl anrichten wird.
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Je schlechter die Zeiten, um so besser für die Kunst. Das ist jetzt ein bisschen sehr allgemein, aber, um noch mal auf die Krise zurückzukommen: Bei unserem klammheimlichen Vergnügen an der jetzigen Finanzkrise geht es nicht primär um das deutsche Kino, und auch nicht um all die Börsenheinis, denen das jetzt bestimmt recht geschieht, und deren große Klappe zumindest für ein paar Monate ein bisschen kleinlauter geworden ist. Sondern es geht ums Kino überhaupt. Denn ökonomisch schlechte Zeiten haben dem Kino noch immer genutzt. Die Rechnung ist einfach: Wer nichts hat, dem kann man auch nichts nehmen. So trifft die Krise zunächst einmal die Großprojekte, die riskanter sind, weniger leicht Kredite bekommen, etc. Sie trifft die Multiplexe, nicht die Programmkinos. Sie trifft größere Studiokomplexe, wie Babelsberg und alles, was hohe Fixkosten hat. Grundsätzlich sollte mit der Wirtschaftskrise für Kunst und Experimentelles freie Bahn sein. Die Stunde des Autorenfilms.
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Wer sich nochmal erinnern will, der muss nur ins Münchner Filmmuseum gehen: Dort werden zur Zeit gerade auch seltenere Arbeiten des »Jungen Deutschen Films« gezeigt. Am Freitag zum Beispiel Tätowierung von Johannes Schaaf. Und am Sonntag dann zwei tolle Filme von Klaus Lemke, der eh zu den großen Unterschätzten in Deutschland gehört: Kleine Front, Lemkes 17-Minuten-Erstling von 1965 mit Werner Enke als deutschem »Belmondo« (Lemke), und Horst Söhnlein, der ein paar Jahre später dann zur RAF ging und in Frankfurt zwei Kaufhäuser anzündete. Der zweite Film ist 48 Stunden bis Acapulco von 1967: Kamera Niklaus Schilling, unter den Darstellern Christiane Krüger, Alexander Kerst, Rudolf Thome – jeder einzelne Name ist Grund genug, die Filme anzugucken. Ein Spiel mit den Versatzstücken des B-Pictures und eine Feier der Utopie vom reinen Film, der nur für sich selbst steht, weil Form und Inhalt identisch sind.
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Vergangene Woche hatten wir eine Diskussionsrunde übers Deutsche Kino 2008 im Berliner Babylon angekündigt. Die Diskussion war ein bisschen müde, der Abend insgesamt aber zumindest informativ: »Zwei Drittel aller deutschen Filme haben weniger als 50.0000 Zuschauer« klagte Moderator Felix Neunzerling, »nur sieben haben mehr, als eine Million.« Das klang ein bisschen, als wären Zuschauerzahlen ein Argument und als wolle Neunzerling das vermaledeite Quotendenken des Fernsehens aufs Kino übertragen. »Welt«-Redakteur Hanns-Georg Rodek und »Tip«-Redakteur Robert Weixlbaumer verweigerten eine kommerziell orientierte Diskussion, und wandten sich gegen eine solche Fixierung aufs Ökonomische und das Diktat der Zuschauerzahlen: »Im Segment der Filme mit 5000 Zuschauern findet das Interessanteste statt«, sagte Weixlbaumer zu Recht. Und Rodek machte klar, dass es auch nicht der Job eines Filmkritikers ist, die Leute ins Kino zu treiben, auch wenn Filmindustrie es gern so verstehen, und ihre PR-Abteilungen die Kritiker fürs Marketing instrumentalisieren wollen.
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Eine andere Frage Neunzerlings war interessanter: Welche drei deutschen Filme des Jahres 2008 würde man auf eine einsame Insel mitnehmen? Grundsätzlich natürlich eine Horrorvorstellung. Aber gut. Von den Filmen die ins Kino kamen haben uns Mein Freund aus Faro und Das Fremde in mir besonders gut gefallen. Und vielleicht Bitomskys Staub, auch Lenin Kam Nur Bis Lüdenscheidt. Unter den Schauspielern ist unser persönlicher Shooting-Star des Jahres Alice Dwyer, nicht nur als Hauptdarstellerin von Torpedo. Neulich sahen wir den Rohschnitt des Films Sommer Spiel, von dem man nächstes Jahr noch hören wird. Auch da war Dwyer wieder das betörende Zentrum des Films.
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Die Frage bleibt allerdings, warum man über Kino überhaupt noch in nationalen Kategorien reden muss? Ist das wenigstens interessant? Auch nicht wirklich. Eine Kinodiskussion in nationalen Kategorien bleibt immer eine über (Kultur-)Politik und (Kultur-)Ökonomie. Das ist sehr notwendig, aber selten inspirierend.
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Ein großer Schritt weg von den nationalen Kategorien ist der Europäische Filmpreis, der am letzten Wochenende vergeben wurde.
Der beste und interessantes unter den vergebenen Preisen war der der Internationalen Filmkritik (Prix FIPRESCI): Abdellatif Kechiches La graine et le mulet (Couscous mit Fisch) ist tatsächlich einer der allerbesten Filme des Jahres! Die Anerkennung für einen wahren Autorenfilmer. Ein vibrierendes Drama, gefilmt unter Low-Budget-Bedingungen, die Begegnung von klassischem französischen Kino mit den Lebensbedingungen der Gegenwart.
Auch der Preis für Gomorra als besten Film geht in Ordnung. Indem die Europäische Filmakademie aber
auch alle anderen wesentlichen Preise – Bester Regisseur, Bester Schauspieler, Bestes Drehbuch, Beste Kameraführung – an Gomorra vergab, bewies sie nur, was auch der deutsche Filmpreis jedes Jahr beweist: Akademien, mögen sie auch mit Fachleuten besetzt sein, können genausowenig differenzieren, wie andere Massenabstimmungen. Sie können auch nichts entdecken, das übersehen
blieb. Auf der Vorschlagsliste fanden sich so tolle Filme wie Waltz With Bashir, Un conte de Noël, Caótica Ana, Lornas Schweigen.
Zudem haftet dem Preis für Gomorra das Geschmäckle an, dass es sich eigentlich um einen verkappten Menschenrechtspreis handelt. Macht es den Film besser, dass der Autor der Vorlage wegen dieser um sein Leben fürchten muss?
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Den Publikumspreis erhielt übrigens Harry Potter und der Orden des Phönix.
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Schon vor ein paar Wochen erreichte uns folgende Pressemitteilung, die wir zugegeben zunächst für einen Scherz hielten: »Der 22. Europäische Filmpreis geht nach Essen! Die European Film Academy und EFA Productions freuen sich bekannt zu geben, dass der Europäische Filmpreis 2009 in Essen verliehen wird.« Damit weicht die Vergabe des Europäischen Filmpreises einmalig von ihrem üblichen Rhythmus ab, der die Veranstaltung alle zwei Jahre nach Berlin bringt, dem Sitz der European Film Academy. In den Jahren dazwischen wird der Europäische Filmpreis immer in einer anderen europäischen Metropole ausgerichtet, so zuletzt in London, Paris, Rom, Barcelona, Warschau und in diesem Jahr in Kopenhagen. Als Auftakt von RUHR 2010 findet der Europäische Filmpreis als Beitrag Berlins zum Europäischen Kulturhauptstadtjahr in Essen statt. Ob das dem Preis nutzt, der sowieso darunter leidet, dass ihm eine Veranstaltungskontinuität fehlt. Man darf gespannt sein, wie viele nationale und internationale Medien sich nächstes Jahr nach Essen aufmachen.
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Apropos Babelsberg. In den letzten Wochen machten in Berlin immer mal wieder Gerüchte die Runde, dass Carl Woebcken, der durchaus erfolgreiche, ursprünglich aus München gekommene Geschäftsführer des Studio Babelsberg dieses bald verkaufen möchte. Manche erinnern sich an Woebckens Herkunft aus dem Stall des Unternehmensberaters Roland Berger. Wer nicht an Woebckens baldigen Absprung glaubt, verweist auf jene »stategische Allianz«, also den kürzlich bekanntgegebenen Deal den er mit Warner-Produzent Joel Silver abgeschlossen hat: 15 Filme von Silvers Label »Dark Castle« sollen in den nächsten 5 Jahren in Babelsberg produziert werden. Ist das ein Gegenargument? Oder das Gegenteil, weil damit der Verkaufswert des Studios erhöht wird? Über die Qualität der Filme ist mit alldem jedenfalls noch nichts gesagt. Silvers letzte Babelsberg-Produktion hieß Speed Racer.
(To be continued)
Rüdiger Suchsland
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.