66. Filmfestspiele von Venedig 2009
Ground Zero am Lido |
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Todd Solondz' Life During Wartime |
Der erste Eindruck: Was für ein heilloses Chaos. Man kommt an und traut seinen Augen nicht. Dort, wo bislang jedes Jahr die Filmfestspiele von Venedig stattfanden, klafft ein unglaublich breites Loch, umgeben von einem zumeist hässlich weißen Bauzaun, der an wenigen Stellen einer Art Begrünung weicht. Was ist geschehen?
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»Es muss sich alles verändern, damit alles so bleibt, wie es ist« – an diesen Satz des berühmten Sizilianers Tomaso de Lampedusa (aus seinem Roman Der Leopard, Visconti hat ihn später verfilmt) muss man denken in diesem Jahr am Lido, dass in jeder Hinsicht äußerlich eines des Übergangs und Umbruchs ist, zugleich aber zumindest nominell mit einem der stärksten Programme der letzten Jahre aufwarten kann. Denn das älteste Filmfestival der Welt ist eine Baustelle, die alte Dame
»Mostra« wird geliftet und runderneuert, wie stolz eine Pressemitteilung verkündet: Ein aufgepepptes Design soll auch Venedig zur »Marke« machen, die innere Struktur des Festivals – Wege, Räume, Kino – wurden umgestellt, zum Teil neu geschaffen, und im großen Loch zwischen dem alten Festivalpalast und dem malerischen Lidostrand entsteht der neue voluminöse Festivalpalast – zum 150. Jubiläum der italienischen Einigung 2011 soll er fertig sein.
Ein Grund
mehr, im Kinosaal zu sitzen. Wenn man auf die Leinwand starrt, vergisst man, wie des draußen aussieht.
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Das Chaos setzt sich aber drinnen leider fort. Die ersten Tage des diesjährigen Festivals erinnerten an 2004, das erste Jahr unter der Direktion von Marco Mueller: Pleiten, Pech und Pannen bei fast jeder Vorstellung. Am allerersten »richtigen« Tag des Festivals, nach der Eröffnung lagen gleich zwei Entschuldigungs- bzw. Erklärungsschreiben bei den Journalisten im Pressefach. Bei der Pressevorstellung von Jessica Hausners Lourdes gab es eine 40-minütge Verspätung. Der Projektor war zusammengebrochen. In der Pressemitteilung heißt es im besten DDR-Deutsch: »Das Technik-Team intervenierte augenblicklich um das Problem zu lösen. Die Lösung erforderte die Ersetzung der Informationseinheit des Projektors und danach die Konfiguration. Normalerweise würde diese Prozedur drei Stunden dauern, in diesem Fall aber gelang es in 40 Minuten.« Wir sollen uns also alle auch noch glücklich schätzen. Während der Wartezeit war Mueller persönlich irgendwann vorbeigekommen, aber nur um die zwei Journalisten, die ihn persönlich ansprachen laut zu beschimpfen: »Ein geckenhafte Depp in seinen Lackschuhen« schimpfte ein Kollege. In Cannes wäre so etwas jedenfalls nicht passsiert, und auch Kosslick in Berlin hätte mindestens ein paar charmante Worte zur Entschuldigung gefunden. Nur um die geht es. Das Dinge mal nicht klappen können, weiß ja jeder.
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Hoffentlich entschuldigt Mueller sich wenigstens bei den Regisseuren. Zweite Beobachtung am ersten Tag, zweite Pressemitteilung: Bei der Vorstellung von Todd Solondz kamen die – italienischen – Untertitel über etwa die Hälfte des Films um ca. eine halbe Minute versetzt. Das war ärgerlich genug. Aber immerhin war der Film auf Englisch. Verschärft wurde das alles durch die unschöne Reaktion der italienischen Kollegen (es geht wie gesagt nur um Kritiker und
Industrieakkreditierte in der geschlossenen Vorstellung). Offenbar können sie alle kein Englisch, und machten ihrem Unmut durch lautes Grunzen, Jaulen und Schreien Luft – woraufhin auch die englischsprechende Hälfte im Saal nichts mehr verstand.
Bisher kam es nach persönlicher, natürlich unrepräsentativer Beobachtung noch zu Projektionspannen in den Filmen von Oliver Stone, Guo Xiaolu, die zahlreichen Verspätungen – ohne Info vom Festival – wollen wir
mal verschweigen.
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Lieber noch zu den Filmen: Life During Wartime von Solondz (Happiness) war sehr überzeugend. In schönen, prächtig inszenierten Bildern zeigt dieser jüngere, zynischere Bruder von Woody Allen das Leben in Zeiten der Bush-Ära, dessen Geist noch nicht vertrieben scheint: Ein Land im kollektiven Wahnsinn.
Eine andere Form von Wahn betrachtet die Österreicherin Jessica Hausner: Lourdes spielt im gleichnamigen Wallfahrtsort, und handelt von einem Wunder: Plötzlich kann die lebenslang gelähmte Christine gehen. Was macht das Wunder mit ihren Mitmenschen, mit unserem Blick auf sie? Ein erlesen inszenierter Essay über Religiosität, für den die Regisseurin die selten erteilte Dreherlaubnis in Lourdes erhielt – Solondz und Hausner sind erste Preiskandidaten, auf die wir noch zurückkommen müssen.
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Ein Novum erlebte man am Freitag: Dass ein Regisseur mit gleich zwei Spielfilmen im Wettbewerb um den Goldenen Löwen vertreten ist, und dann noch am gleichen Tag, hatte es auch in der Erinnerung sehr erfahrener Besucher der Filmfestspiele von Venedig noch nicht gegeben: Doch Werner Herzog hatte schon immer einen Hang zum Skurrilen, und so passte es ganz gut, dass der deutsche Regisseur das sonderbare Kunststück schaffte.
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Dabei hätte der eine Film eigentlich schon genügt, um Herzog, seit seinen Filmen Aguirre und Fitzcarraldo der international am stärksten verehrte, lebende deutsche Filmemacher – ja, eindeutig vor Wim Wenders –, fast zehn Jahre nach seinem letzten Spielfilm wieder zurück auf die große Kinobühne zu katapultieren: The Bad Lieutenant heißt sein neuer Film – ja, genau, wer jetzt stockt, weil ihm das sonderbar vertraut vorkommt, liegt ganz richtig: Ein Remake des schnell berühmte, aber immer umstrittenen Films von Abel Ferrara aus dem Jahr 1992, ein katholisches Drama in ebenso opulenten, wie manierierten Bildern, in dem Harvey Keitel einen korrupten, drogensüchtigen New Yorker Ermittler spielt.
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»Nein, auf keinen Fall ein Remake« behauptet Herzog, und stellte sich in vor der versammelten Weltpresse in Venedig konsequent dümmer als er ist: »Wer ist denn dieser Abel Ferrara? Ist er ein italienischer Regisseur? Franzose? Ich habe keinen einzigen Film von Ferrara gesehen.« Vorausgeangen war der gestrigen Premiere schon in den letzten Wochen ein heftiger und ziemlich bösartiger Schlagabtausch zwischen beiden Regisseuren via Medien: »Ich wünsche diesen Leuten, dass sie in der Hölle sterben« sagte Ferrara, offenkundig wenig amüsiert, »Ich hoffe, sie sitzen alle im gleichen Auto und fliegen in die Luft.«
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Wer nun Herzogs Film gesehen hat, nimmt ihm die naive Pose keine Sekunde ab – Herzogs Film ist natürlich ein Remake, wenn auch in Atmosphäre und Haltung, auch im Stil völlig anders. So ähnlich sich die Figur ist – bei Herzog gespielt von Nicholas Cage –, und einzelne Szenen, so unterschiedlich ist die Story: Aus Ferraras Reise in den Abgrund macht Herzog eine Erlösungsgeschichte: Sein Lieutenant läutert sich, und kommt mit des Zufalls (oder Gottes?) Hilfe heil von seiner Höllenfahrt zurück – als besserer Mensch. Der Alptraumtrip endet mit einem Happy End, und was anfangs viel europäisches Flair geatmet hatte, endet als ein konventioneller amerikanischer Film – wer hätte ausgerechnet dies von Werner Herzog erwartet? Das ist sympathisch und schön anzusehen. Zugleich bleibt bis nach dem Abspann etwas unklar, warum Herzog eigentlich gerade diese Geschichte erzählt hat.
Zwischendurch entfaltet The Bad Lieutenant einige Intensität. Ein post-Katrina-Film, angesiedelt in New Orleans. Es gibt sehr schöne Bilder und Momente: Eine Schlange, die durchs Wasser schlängelt, Leguane in den Wohnungen, ein Zusammenstoß zwischen einem Autor und einem Alligator – das sind Bilder, die im Kopf bleiben. Oder Cage, nach einer Verhaftung: »I love it. I just love it.« Überhaupt spielt Cage im Vergleich zu manch anderem Auftritt für seine Verhältnisse zurückhaltend. Aber anfangs dauert es lange, zu lange, bis alles in Fahrt kommt, und gegen Ende zerbricht der Film dann ziemlich in seine Einzelteile.
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Nach diesem mit einer so ausgewogenen wie zurückhaltenden Mischung aus leisem Beifall und leisem Buh bedachten Film, gab es am späten Abend noch den ersten von zwei »Überraschungsfilmen«: My Son, My Son, What Have You Done. Laut deutschem Verleih (Kinowelt) handelt es sich dabei um einen »Thriller über einen mysteriösen Mord und seine Hintergründe...« Hauptrollen spielen Michael Shannon (Oscar-nominiert für seine Nebenrolle in Revolutionary Road), Willem Dafoe, Chloë Sevigny und Grace Zabriski. Und David Lynch fungiert als ausführender Produzent. Was von alldem zu halten ist, und wie es sich ansieht, darüber bald mehr.