66. Filmfestspiele von Venedig 2009
Die letzten Tage der Menschheit |
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Sylvie Testud in Lourdes | ||
(Foto: NFP/Filmwelt) |
Das Italienische sei eine Kindersprache, schrieb schon Thomas Mann, und manchmal in diesen Tagen hat man den Eindruck, die Italiener seien lebenslang Kinder.
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Während der letzten Tage kam es zu einem Mailwechsel mit einer Redakteurin. Nichts bösartig gemeintes, die Kollegin ist im Gegenteil sehr nett. Aber auch nicht ungewöhnlich, sondern im Gegensatz sehr typisch für die derzeitigen Entwicklungen der Medienlandschaft:
»Lieber Herr Suchsland, bitte verraten Sie mir noch bei Gelegenheit, wann der zweite Venedig-Bericht kommt. Und versuchen Sie bitte, auch ein wenig über den roten Teppich zu plaudern. Herzliche Grüße, X«
»Liebe Frau X, der nächste Text kommt eigentlich, wann Sie wollen. ... Über den Roten Teppich plaudere ich zwar im Prinzip gern, nur weiß ich nicht recht, was man da außer der Namensliste im Kulturteil plaudern könnte, denn die Leute vom Filmteam gehen einfach über den Teppich rüber ins Kino – und ›die‹ sind dann die, die auf der Pressekonferenz reden, und zuvor auf der Leinwand zu sehen sind. Darüber schreibe ich. Dass ich statt Filme zu beschreiben, Kleider beschreibe, haben Sie ja sicher nicht gemeint. Und Partys gibt es hier wenig, man kommt als Journalist schon dahin, aber eben weil die Stars da nicht sind, sondern bei Interviews, Pressekonferenzen oder gepflegten Abendessen. Wenn sie auf einer Party auftauchen, dann nur für Fotofgrafen, und gehen wieder nach fünf Minuten. Und die meisten Film-Stars sind eben das – bekannt von der Leinwand.
Über die Menschen im Star schreibe ich auch gern – etwa als Portrait auf den Hintergrundseiten. Da biete ich hiermit mal an: Michael Moore, Oliver Stone, Ang Lee (Jurypräsident), Fatih Akin, Isabelle Huppert, Charlotte Gainsbourg... Weitere Namen folgen gern. Beste Grüße«
»Lieber Herr Suchsland! Habe schon verstanden – Sie sind Kinokritiker und kein Gesellschaftsreporter. Das klassische Feuilleton gerät allerdings immer mehr aus der Mode, und man muss sich täglich für Rezensionen rechtfertigen. Wenn Festivals auch als Ereignis beschrieben werden, haben wir weniger Probleme. Ich persönlich bin immer schon gerne so vorgegangen. Aber das spielt keine Rolle. Ich will Sie zu nichts drängen, zumal die Kollegin Y bekanntlich das Bunte auch nicht mag. Aber ich würde heute gerne etwas Kleines über Michael Moore mitnehmen, wenn Sie es mir gleich schicken könnten. Bitte um Rücksprache, herzliche Grüße, X«
»Liebe Frau X, ich kenne auch die Probleme, aber gerade darum bin ich da zickig. Man muss den Kollegen bitte klar machen: Ob Schweini Ärger mit seiner Freundin hat, oder Kahn eine neue steht auch nicht im Sportteil sondern Ergebnisse und Spielanalysen. Und Seehofers uneheliche Kinder oder Guttenbergs Krawatten stehen nur in der Politik, wenn sie politisch werden, und führen nicht zur Kürzung der Kommentarteile – so müssen wir in eigener Sache argumentieren. Und ich persönlich kann den Boulevardquatsch auch nicht. Beste Grüße RS«
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Die beliebteste Frage von Radiomoderatoren: »Herr Suchsland, wie ist denn die Stimmung?«
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Berliner Schule trifft den Papst. Man sieht einen großen leeren Saal mit lauter Esstischen. Dann eine Nonne, die am ersten Tisch die Suppenschüssel füllt, und man weiß bereits in diesen ersten Sekunden: Es wird jetzt keinen Schnitt geben, bis auch am letzten Tisch die Schüssel gefüllt sein wird. Auch das ist ein Manierismus, wenn auch ein sehr guter. Bilder dieser Art kennt man, sie signalisieren dem Zuschauer binnen wenigen Sekunden, dass jetzt bitteschön
Konzentration und Geduld geboten sind, dass man hier stillzusitzen und sich einzulassen habe. Kompromisse wird es nicht geben, und wenn es nicht schmeckt, ist das eher ein Indiz, das die Medizin wirkt. Man kann Lourdes, den neuen Film der Österreicherin Jessica Hausner als ziemlich zwanghafte protestantische oder jedenfalls jansenistische Reinheitsübung betrachten. Man kann
allerdings auch den ganzen Film über lächelnd, schmunzelnd, kichernd verbringen. Man kann Lourdes als ganz und gar ironischen Film über Religion nehmen. Aber ist der Film so gemeint? Sollte das der Fall sein, waren die Ironiesignale etwas zu subtil gesetzt.
Lourdes ist ein schöner Film. Seine
Schönheit ist allerdings von der Art, die man nicht ganz ohne Grund dann streng nennt. Eine der Schauspielerinnen spricht im (exzellenten) Presseheft vom »rigiden« Stil der Regisseurin.
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Der Zufall möglicherweise. Der Film erzählt von einer Pilgergruppe in Lourdes. Unter den Pilgern sind Kranke wie Gesunde. Die Kranken leiden an sehr verschiedenen Krankheiten, und werden, soweit nötig, von katholischen Schwerstern des Malteserordens betreut. Sie hoffen auf spirituelle Stärkung, aber auch auf körperliche Heilung. Eine von ihnen ist Christine. Durch eine unheilbare Krankheit ist sie seit Jahren vom Halswirbel abseits gelähmt, an den Rollstuhl
gefesselt. Der Film entdeckt Lourdes und die Menschen dort mit ihren Augen, begleitet sie auch bei ihren zaghaften sozialen Kontaktaufnahmen. Sie gelten zum Beispiel Maria, der Schwester, die Christine betreut. Maria ist jung, hübsch, lebensfroh. Christine beneidet sie. Maria wiederum bevorzugt die Gesellschaft von Gleichaltrigen und sie vermeidet die Gegenwart der Krankheit und des Leidens um sie herum.
Auf seltsame Weise verbessert sich Christines Gesundheitszustand. Es ist wie
ein Wunder: Nach einiger Zeit ist sie kuriert, und kann wieder gehen. Ihre Heilung führt zu Bewunderung, zur Festigung des Glaubens. Aber auch zu Eifersucht und Zweifeln. Christines Krankheit bleibt in Bewegung: Die Symptome kommen und gehen.
Wunder stehen für die Dispension aller Logik, Bedeutung und Vernunft. Sie sind grundsätzlich ungerecht. Aber sie können zur Quelle von Glück werden. Wie der Lottogewinn. Vielleicht ist die Ursache des Wunders wirklich nur: Der Zufall möglicherweise. Aber die Menschen können diesen, können die Willkür, die in ihm liegt, nicht ertragen. Menschen haben offenbar Probleme damit, den Zufall als solchen zu akzeptieren. Sie suchen also nach Sinn im Zufall, nach Bedeutung. Gerade wer viel
mit dem Zufall zu tun hat, fängt an, an ihm zu zweifeln, weiß, dass man ihn planen kann. Davon handelt noch deutlicher auch ein anderer Film in diesem Wettbewerb: Accident aus Hongkong, in dem Auftragskiller ihre Morde durch waghalsigst geplante »Zufälle« ausführen – alles sieht dann wie ein Unfall aus. Ein Komplementär zu Lourdes.
Weil Wunder und Zufall
ungerecht sind, will man sich des Zufalls wert erweisen, Gott (dem Zufallsgenerator der Religion) die Gründe für seine doch grundlose Entscheidung nachliefern.
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Der Zufall wird als Belohnung gesehen, als etwas, das man sich verdient. Durch Gebete oder gutes Benehmen. Aber das Wunder ist der Riss in der Welt.
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Wunder gibt es immer wieder. Lourdes ist ein grausames Märchen. Das Märchenhafte muss man betonen, denn naturalistisch gibt sich der Film von keiner Seite aus, von der man ihn betrachten kann. Aus der einen Perspektive zeigt Lourdes Vertrauen in den wohltätigen und ewigen Gott des katholischen Christentums. Auf der anderen Seite zeigt der Film eine Wirklichkeit, in der Willkür und Zufall herrschen. Lourdes ist ein Traum und ein Alptraum. Eine grausame Geschichte. Über Ungerechtigkeit (des Wunders), nicht gehaltene Versprechungen (auf Heilung, auf Erlösung). Das Versprechen auf Erlösung, von dem die Religion und ihre Kirche sich nährt, ist vertagt auf das Ende aller Tage.
Das Streben nach Erlösung ist allerdings komplementär zu dem nach Heilung: Es ist die Hoffnung auf ein innerweltliches Ereignis, nicht auf etwas, das (erst) im Jenseits sich ereignet. Es ist letzten Endes die Hoffnung auf Glück; es ist die Hoffnung auf ein erfülltes, komplettes und fröhliches Leben, das eine Bedeutung hat, einen Sinn. Christine hofft darauf, nach einer Heilung ihre Studien wieder aufnehmen zu können, eine Familie zu haben, Klavier zu spielen. Christine will das sein, was heute viele nicht gerne wollen: Wie die anderen. In diesem Zusammenhang ist der Kontrast zu den sie pflegenden Malteser-Schwestern besonders aufschlussreich, das unausgesprochene, wohl auch mitunter uneingestandene Paradox, dass die Schwestern auf alles das freiwillig verzichten, was die von ihnen betreuten Kranken so inständig ersehnen.
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Die Mechanik des Wunders. Manchmal sehen alle in diesem Film wie Puppen aus. Und bewegen sich auch so. Lourdes ist eine Parabel. Hausner erzählt nicht von Individuen, sondern von Prototypen des sozialen Systems Religion. Sie zeigt Lourdes als furchtbaren Supermarkt der Religion, sie zeigt die Ausbeutung der Gläubigen. Sie, gerade die Kranken unter ihnen, sind wie Süchtige. Wenn das so ist, und die Kirche ein Drogendealer, dann ist Lourdes eine Opiumhölle. Das Schwergewicht dieses Films liegt auf dem Formalen, auf der Choreographie des Gesellschaftlichen. Alles ist so präzis, wie rigoristisch ausgeklügelt. Alles hat seine richtige Intonation, seine angemessene Geste und am Schluss entsteht so der Eindruck einer riesigen Maschine. Wie ein Tanz. Aber von kleinen Automaten. Minimalismus trifft Musikalität. Und die Gesamt-Atmosphäre ist wohl gerade dadurch dann plötzlich märchenhaft.
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»Die Frage nach dem Sinn des Lebens steht im Zentrum meines Films.« sagt Jessica Hausner im Presseheft. Das haben wir so nicht gesehen. Uns schien es in Lourdes eher um die Ambivalenz und Absurdität von Religion zu gehen. Lourdes ist ein schön photographierter Film, aber geprägt von einer sonderbaren Ästhetik des Ungreifbaren, einen cleanen Gesamteindruck. Lourdes ist ein guter Film, aber Hausners schwächster. Warum? Wegen der Sprache. Warum drehte Hausner in Lourdes, nicht in Österreich oder wenigstens Altötting? Sie begründet den Dreh in Lourdes mit dem Willen zu noch stärkerer Distanz und jungfräulichem Blick. Aber der Preis ist hoch. Er liegt in Sterilität. Oder ist der Film dann doch ironischer, als man wahrhaben will, und der Eindruck des Sterilen nur ein subtiler Verweis auf die unbefleckte Empfängnis?
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Nach der Vorstellung, später in der Bar Maleti, Räselraten über jenen anderen Film, in dem auch eine Szene in Lourdes spielt. Welcher war das nochmal? Wir alle erinnerten uns: Da gibt es eine Szene ein Auto, ein Sportwagen mit dem einer unter anderem nach Lourdes kommt. Irgendwann gibt es Sex im Hotelzimmer, während die von innen beleuchtete Jungfrau zugeguckt hat. Man sieht den ganzen Tand dieses Religionssupermarktes. Welcher Film war das nur? Wer war nochmasl der Mann? Keine Ahnung. Und die Frau? Könnte Charlotte Gainsbourg gewesen sein. Aber in einem deutschen Film? War kein deutscher Film wird man sich einig. Oder doch? Vielleicht ein älterer Film, vielleicht Beruf: Reporter. Nein, Quatsch. Vielleicht was von Desplechin? Nein, auch nicht. Aber jeder erinnert sich an die Bilder. Also: Wers weiß, der bekommt vom Verfasser einen ausgegeben. Auflösung demnächst hier.
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Zahme Erdbeeren. Pippi Langstrumpf auf Acid, das kommt dem Eindruck dieses Films noch am nächsten. Die Künstlerin Pippilotta Rist hat einen Film gemacht. Der sieht aus, wie ihr sonstiges Werk, also wie der Kindergarten, in den wir damals gern gegangen wären. Pepperminta ist quietschbunt, virtuos und sehr ungewöhnlich, schnell geschnitten, das Wort »Popästhetik« darf benutzt werden. Den tollen Bildern stehen leider schrottige Texte gegenüber – dominiert von Schülertheater-Witz und Esoterik, mit der banalen Botschaft: Seid nett zueinander und passt euch nicht an.
Die Titelheldin ist eine Nonkonformistin, was sympathisch ist. Aber der Anarchismus, der diesen Film durchdringt, wirkt dann doch ein bisschen arg naiv: Ein Mädchen steigt auf Briefkästen und lacht. Dann kommt ein Uniformierter, und sagt: »Wenn das jeder machen würde.« Dabei rollt er mit den Augen. Das Mädchen antwortet: »Dann müsste es viel mehr Briefkästen geben.« Haha! Ansonsten essen hier alle zu viel Erdbeeren, bekommen Jungs hier Matrosenanzüge angezogen, und Mädchen sammeln Menstruationsblut im Kelch und trinken es dann irgendwann. »Rot ist gut« heißt es dazu. Schon, ja. Aber nicht immer.
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Israelische Geisterbahnfahrt. Ein wunderschönes Sonnenblumenfeld, im Hochsommer. Ziemlich lang ist diese erste Einstellung, in der aber auch gar nichts passiert. Man wird sie am Ende des Films wiedersehen. Dann aber sieht man erstmal gar nichts. Das gleißende Licht des Sonnenscheins ist tiefer Dunkelheit gewichen. Dafür rumpelt und knattert es. Es knarzt. Dann tauchen Gesichter auf, von jungen Männern in Großaufnahmen. Schnell ist klar: Es handelt sich um eine israelische Panzerbesatzung, und der Filmzuschauer sitzt mit denen im Panzer. Alles spielt am 6. Juni 1982, dem Tag an dem der israelische Feldzug in den Libanon begann. Kurz darauf wird der Panzer die Nord-Grenze überschreiten, man hört die Gespräche der Soldaten, auch den Funkverkehr.
Samuel Maoz erzählt in Lebanon, seinem israelischem Wettbewerbsbeitrag in Venedig, den Libanonkrieg von 1982 ganz aus der Perspektive einer einzigen Panzerbesatzung. Man steckt in dem Stahl-Kasten drin, ist ausgeliefert. Alles was man sieht ist das Panzerinnere und der Blick durchs Zielfernrohr. Das ist eine Viertelstunde lang aufregend, dann aber schnell ermüdend, und,
wenn man zu denken anfängt, bald ärgerlich.
Das liegt zum einen daran, dass hier wie in einer Geisterbahnfahrt die Stationen des Schreckens abgehakt werden. Wie Pflichtübungen, aber vor allem als Gruselkabinett: Ein Pkw mit terroristischen Insassen wird nicht unter Beschuss genommen, dafür dann der mit dem lieben Hühnerhändler. In einem Dorf sieht man tote, versehrte, traumatisierte, verkrüppelte Männer und die Folgen der israelischen Bombardements. Dann eine Frau. Erst
wird ihr Mann, dann ihre Tochter getötet, als die Israelis versuchen, jene Araber, die sie als Geisel genommen haben zu töten. Schreien und Verzweiflung genügen nicht, sie verliert auch noch ihre Kleider. Das hat mehr als einen Hauch von Exploitation-Kino.
Hinzu kommt: Die Panzerbesatzung besteht aus lauter lieben Jungs, die viele Skrupel haben, nicht schießen können, wenn es gut wäre, nach ihrer Mami schreien und vor allem nicht schuldig werden wollen. Ist Krieg so? Vielleicht. Gab es das? Bestimmt. Aber bestimmt nicht nur. Wären alle Soldaten so wie diese hier, wäre die israelische Armee seinerzeit jedenfalls nie bis Beirut gekommen. Lebanon ist insofern auch eine Beleidigung der Fähigkeiten der Israelis, wie der Intelligenz seiner Zuschauer. Noch schwerer wiegt: Der Stil des Films. Auf der Soundebene ist die Tonspur völlig übertrieben laut. Andauern macht es Ploink und Bworrrk. Aber ein Panzer 1982 ist nicht Wolfgang Petersens Boot im Jahr 1941. Offenkundig geht es hier nicht um Naturalismus – der aber dann wieder behauptet wird –, sondern darum, die Zuschauer zu nerven und unter Druck zu setzen, ein manipulatives Verfahren, das vor allem belegt, dass der Regisseur seinem Stoff nicht wirklich vertraut. Die visuelle Perspektive ist verlogen. Denn der Zuschauer blickt immer nur durchs Zielfernrohr, nie durch den Sehschlitz des Fahrers. Das suggeriert erstens eine einheitliche Perspektive, zweitens, dass alle sähen, was die Kamera zeigt.
Die moralisch-politische Perspektive des Films erscheint doppelzüngig: Einerseits glaubt Maoz sicher aufrichtig, er sei israelkritisch. Und will es auch sein. Andererseits sind es dann im Panzer doch alles liebe Jungs. Und die wahren Arschlöcher und Sadisten die libanesische Falange, Araber also, wenn auch christliche, die für Israel die Dreckarbeit machten. Das mag sogar – wie in Waltz With Bashir – den historischen Tatsachen entsprechen. Aber wenn man es sieht, wirkt es dann doch, wie die Soldaten unter unseren Großvätern einst von der deutschen Ostfront erzählten: »Die richtigen Schweine waren doch die Ukrainer! Das waren Sadisten.« Mag ja stimmen. Was noch nicht heißt, dass die, die ihnen den Rahmen steckten, sie bewaffneten und einsetzten, keine Schweine waren, und sich nicht schuldig gemacht hätten. So hat Lebanon am Ende den merkwürdigen Aspekt, dass hier die Schuldfrage ausgeblendet wird, alles in so allgemeine wie sülzige Trauma-Diskurse mündet. Insgesamt ist Lebanon also recht spekulativ und sehr konstruiert. Aber da Israel(selbst-)kritik auf Filmfestivals noch populärer ist als Kritik an Amerika, bekam Maoz' Film viel Applaus und dürfte am Samstag durchaus Chancen auf einen Löwen haben.
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Dass ein Politiker sogar George Clooney in den Schatten stellt, passiert selten, erst recht bei den Filmfestspielen von Venedig. Nicht etwa von Italiens Rechtpopulisten Silvio Berlusconi und jungen Mädchen ist die Rede, sondern von Venezuelas Staatschef Hugo Chavez. Der ließ es sich nicht nehmen, persönlich auf dem Roten Teppich am Lido zu erscheinen, und ihm gelang das Kunststück, tatsächlich sogar Hollywoods Charmebolzen Nr. 1, George Clooney kurzfristig die Schau zu stehlen. Vielleicht liegt es daran, dass Clooney ein Stammgast in Venedig ist, und viele Venezianer Damen schon ein persönlich geschossenes Photo von ihm im Wohnzimmer haben, vielleicht liegt es daran, dass Macht noch sexier ist, als Schönheit – jedenfalls war Chavez, nicht Clooney am nächsten Morgen auf allen Titelseiten.
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Chavez kam zur Premiere von Oliver Stones South of the Border, einer Dokumentation, die provokativer und auch politischer ist, als Michael Moores Capitalism: A Love Story, aber nicht weniger unterhaltsam: Stone, der derzeit an einer Fortsetzung seines bekannten 80er-Jahre Wirtschaftsdramas Wall Street arbeitet, hat darin die Neue Linke Lateinamerikas porträtiert.
Zuvor erinnert er an über hundert Jahre politischer Imperialismus der USA, an die »triumphalistische Arroganz der USA« nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, und an die unsägliche Rolle des IWF. Dem habe Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten als Laborratte für seine ökonomischen Experimente gedient, schließt Moore – ein treffendes Bild. Zugleich erklärt Stone damit den Aufstieg der Linken Lateinamerikas direkt als Reaktion auf US-Politik. Das stimmt, ist aber etwas
zu einfach, weil es die Rolle der Macht-Eliten in den jeweiligen Ländern ignoriert.
Im Zentrum des Films steht Chavez, auch weil er 2002 immerhin einen von der Bush-Regierung unterstützten Putschversuch überstand, den Stone ausführlich dokumentiert.
Der Film ist in erster Linie ein Stück politische Pädagogik: Ein politisches Proseminar, das sich in erster Linie ans US-amerikanische Volk richtet, und das von Lateinamerika und von der Macht der Medien handelt. Zu Lateinamerika ist die Botschaft vor allem die, dass Hugo Chavez und andere Staatsoberhäupter lateinamerikanischer Länder keine Monster sind, sondern demokratisch gewählt und Repräsentanten ihrer Länder. Allerdings macht es auch Stone sich oft leichter, als nötig wäre. Zu viele Fakten werden ignoriert, und so hat der Film zwar den Effekt, dass man sich als Zuschauer für Chavez interessiert, und ihn sympathisch findet, aber nicht den, dass hier irgendwelche Einwände widerlegt würden.
Relevanter sind womöglich Stones Kommentare zu den Medien, seine Zusammenstellung ebenso einseitiger wie dummer wie bösartiger und ideologischer Kommentare von FOX und CNN: »Nach unseren Erfahrungen im Irakkrieg müssen wir die Rolle unserer Medien infrage stellen. Sie dämonisieren fremde Politiker als unsere Feinde. Das hat brutale Konsequenzen. Die Geschichte setzt sich fort.«
Wie Michael Moore ist auch Oliver Stone eitel, aber er ist es nicht versteckt, sondern offen. Politischer an seinem Film, ist, dass Stone politische Fragen stellt, und sich mit Politikern befasst, während Moore vor allem Durchschnittsbürger umarmt oder zum Weinen bringt, und sich darin dann auch nicht weiter von CSU-Politiker unterscheidet. Stones Fazit: Die Veränderungen in Lateinamerika werden auch die USA verändern.
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Steven Soderberghs The Informant war sozusagen das Spielfilmpendant zu Moores Film: Innenansichten aus der US-Business-Welt. Der Film ist eine witzige Komödie über Menschen mit feinen Anzügen, großen Wagen und kleinen Gedanken. Auf wahre Ereignisse zurückgehend spielt Matt Damon einen Mann, der in den 90er Jahren einerseits das FBI über unsaubere Machenschaften seiner Firma informierte – dabei aber selbst nicht sauber blieb und so irgendwann zwischen allen Stühlen saß. Finanzwelt als absurde menschliche Komödie und eine sehr unterhaltsame Hochstaplergeschichte.
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Unglaublich, wie viele Idioten es gibt unter den Kritikern. Die rausgehen bei Todd Solondz, die gar nicht erst reingehen beim Ägypter. In Venedig fällt das mehr auf, als sonst. Denn in Cannes kommen diese Leute gar nicht rein ins Festival, in Berlin gehen sie in der Masse unter.