Sintflut am Lido |
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Balada triste de trompeta des Spaniers Álex de la Iglesia | ||
(Foto: PLAION PICTURES) |
So muss es sein, wenn der Weltuntergang beginnt: Der Himmel war schon länger grauschwarz, und wer es nicht besser wusste, hätte nie vermutet, sich ausgerechnet in Italien, an einer der begehrtesten Urlaubsstätten der Welt zu befinden. Draußen blitzte und donnerte es und der Wind schlug literweise Wasser gegen die Fenster. In der Baugrube zum neuen Filmpalast, die in diesem Jahr nicht anders aussieht als im letzten, nur trauriger, bildeten sich kleine Seen. Drinnen klatschten ein paar unscheinbare Tropfen von der Decke auf einen der Tische, genau in dem Raum, wo die Computerschreibplätze der Journalisten stehen. Plötzlich, ohne durch irgendein Geräusch angekündigt worden zu sein, wurden die Tropfen mehr, und schwollen in wenigen Sekunden an zu einer Art Dusche, und noch einmal eine halbe Minute später trat auch an einer anderen Stelle das Wasser aus der Decke, fiel den etwa zehn Meter hohen, riesige Saal im übertrieben megalomanen, unter dem Faschismus gebauten Casino am Lido herunter, traf mit lautem Geräusch einen zweiten Tisch. Das Technikpersonal schrie fassungslos und untätig durcheinander, ein paar Journalisten hatten den naheliegenden Gedanken, ein paar der vielen Plastikpapierkörbe in etwa dorthin zu stellen, wo das Wasser einbrach. Trotzdem gab es Bäche im Presseraum, der im übrigen rund 20 Meter hoch im dritten Stock des Gebäudes liegt, die dann in Richtung der Wände, wo auch die provisorischen elektrischen Leitungen entlangführen, abflossen. Mit wiedergewonnener Fassung drehten die Techniker erst einmal den Strom ab. Dann wurden alle Journalisten, auch jene an trockenen Tischen, des Saales verwiesen. Die Photographen unter ihnen hatten längst Bilder gemacht, die von den Agenturen in alle Welt verbreitet wurden. Jeder Anrufer aus Deutschland sprach einen an den folgenden zwei Tagen auf den Vorgang an. An der Tür des nunmehr geräumten Presseraumes klebte derweil ein Schild: »Pressroom closed until further notice.«
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Obwohl diese drei letzten Worte gerade in Italien das Schlimmste befürchten ließen, war der Presseraum, der nicht zuletzt ein E-mail-Schreib- und Senderaum ist, dann wider Erwarten am nächsten Tag wieder zugänglich. Das optimistische Wesen der Italiener – deswegen lieben wir grummeligen deutschen Negativisten sie ja so – zeigte sich daran, dass sie die Zeit der folgenden Tage nicht genutzt haben. Denn heute, am Mittwoch, dem achten Tag des Festivals, war der Wolkenbruch zwischen 8.10 und 10.30 am Morgen eher noch schlimmer als vergangenen Freitag. Schon in der Frühe stand das Wasser im Casino auch im ersten Stock einige unfassbare Zentimenter hoch. Der Presseraum war wieder geschlossen. Positiv könnte man sagen: Die Decke ist bislang nicht eingestürzt. Nur der Himmel.
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Vergleichsweise ungastlich ist sowieso in diesem Jahr alles am Lido. Außer den Filmen. Noch nie waren die Arbeitsbedingungen der Journalisten so schlecht, noch nie die Berichterstatter dem Festival offenkundig derart gleichgültig. Und im Lande Berlusconis sind sie seit jeher... sagen wir mal: Erwartbar. Man wünschte sich einen Generalstreik der Filmkritik. Dass einfach mal ein Jahr keiner kommen und niemand berichten würde. Dann würde hier alles besser werden. Aber das wird natürlich nicht passieren, und so wird es wie bisher in den letzten vergangenen zehn Jahren, die ich nunmehr dieses Festival besuche, jedes Jahr ein wenig schlechter und unangenehmer sein, als im Jahr zuvor. Bis eines Tages eine Sintflut den ganzen Lido und das ganze Festival und vielleicht gleich das ganze Kino hinwegspült. Bis auf, wie gesagt, die Filme.
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Es ging schon gut los: Es ist eine schlicht und einfach großartige Szene, wenn Natalie Portman irgendwann schwarze Schwanenfedern aus dem Rücken wachsen. Dies ist nur ein ganz kurzer Moment, aber einer derjenigen, die unbedingt in Erinnerung bleiben von diesem Film. Kaum weniger eindrucksvoll, wenn sich, zuvor schon wie auch später, immer wieder mal Anmutungen einer Gänsehaut auf ihren Gliedern abzeichnen.
Auch sonst sah man Natalie Portman, nachdem sie am Mittwochabend über den Roten Teppich am Lidostrand vor Venedigs Lagune gelaufen ist, in dem Psychothriller Black Swan, dem Eröffnungsfilm des Filmfestivals von Venedig, so wie noch nie zuvor: Als junges kesses Kind wurde sie einst mit Luc Bessons Leon – der Profi an der Seite von Jean Reno bekannt, später spielte sie oft eher starke und burschikose Frauen. In dem neuen Film von Darren Aronofsky ist sie hingegen ein ganz verletzlicher Charakter, mit, wenn man so will (und alle GenderforscherInnen mögen mir das verzeihen), typisch weiblichen Problemen: Nina, eine junge ehrgeizige Ballettänzerin, die den Hauptpart in der »Schwanensee«-Aufführung bekommt, und davon zunehmend überfordert ist.
Ganz nah rückt
Portman die Kamera auf die Haupt, zeigt ihr Gesicht in Großaufnahme, folgt ihr von hinten ganz nahe.
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Vor zwei Jahren gewann Aronofsky, an diesem Ort mit dem Catcherdrama The Wrestler und vor allem mit Mickey Rourkes Comeback den Goldenen Löwen. Auch dieser Film könnte The Wrestler heißen, und bei genauerer Betrachtung ähnelt Portmans Figur in vielem der des abgehalfterten Catchers, der kein Leben hat außer seiner Show, für die er alles riskiert, bis hin zur Selbstzerstörung. Beide werfen ihren Körper in den Ring, beide tragen ihre Haut zu Markte, und beiden wird sie aufgerissen, bis das rohe Fleisch sichtbar ist.
So wie man Aronofsky die Obsession für einen bestimmten »Typ« Frau unterstellen darf – Jennifer Connelly in Requiem for a Dream, Rachel Weisz in The Fountain, Natalie Portman jetzt –, so auch eine Obsession für Haut und Blut, für das rohe Fleisch, für das Eindringen unter die Haut. Immer wieder wird hier die Haut Portmans aufgerissen, die Zehen, die Finger, der Rücken... Und immer wieder fließt Blut – das bei Frauen, bei einem »Frauenfilm« wie diesem ja immer noch eine zusätzliche Bedeutung hat. Blut an den Händen, Blut in den Kleidern, Blut im Schuh. Rucke-di-Ruh...
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Black Swan ist auf seine Art eine Aschenputtelgeschichte: Nina heißt Portmans Figur, dieser weibliche Wrestler. Sie ist eine von vielen am New Yorker Haus, ist extrem ehrgeizig und diszipliniert, lebt fürs Ballett allein, bekommt seine Chance, will sie nutzen, kann das aber im Grunde erst durch Selbstüberwindung, durch Selbstverlust. Ein untergründiger Diskurs in diesem Film ist der über Perfektion. »All the discipline for what?« – »I just wanna be perfect.« – »Perfection is as well about let it go. To lose yourself.« Nina ist technisch perfekt, das wird früh klar gemacht, aber im Urteil ihrer Mitmenschen heißt es auch, sie sei »kalt«, ja »frigide«. Im Gegensatz dazu ihre Kollegin, gespielt von Mila Kunis. Sie sein »imperfect, but effortless.« sagt der manipulative Impressario: »She is not faking it.«
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Schwarz und Weiß und Rosa sieht der Film von Anfang an aus, das Farbdesign ist so genau und konsequent, wie schön anzusehen. Die Farben stehen für Temperamente, Schwarz und Weiß für die zwei Seiten der erwachsenen Charaktere, insbesondere Ninas, das Rosa für ihre Unschuld, für das Kindsein. Ganz in Rosa ist ihr Jungmädchenzimmer, getaucht, man sieht Stofftiere, ein Schmetterlingsmuster auf der Tapete, auf dem Nachttisch steht eine Spieluhr, die – pling, pling plang pling, plong-plong – Schwanensee spielt. Nina ist zuhause weiter Kind. Auch sonst Aronofsky wenig Klischees aus: In der Liebe und Fürsorge der Mutter steckt auch der Neid auf jene Karriere, die sie selber nicht gehabt hat: »I gave up to have you«. Es folgt die Quasi-Entmündigung der Tochter durch die »protective Mum«.
Eine Entjungferungsphantasie – kein »Coming-of-age« – ist Black Swan, ein Film über das Verhältnis (von Frauen) zur (weiblichen) Sexualität. »Touch yourself« gibt ihr der Regisseur, quasi als Hausaufgabe mit auf den Weg. Als sie es dann tut, merkt sie nicht, dass die Mutter im Raum ist. Gute Kunst braucht guten Sex, oder überhaupt, auch das so ein fragwürdiges Kunstklischee natürlich. Aber sei es drum: Auch das, Natalie Portman befriedigt sich am Morgen im Bett, ist ein Bild, das man noch nicht kannte, gern sah, und in Erinnerung behält. Genauso ein Moment, der sich erst im Rückblick als reine Phantasie entpuppt: Sie hat Sex mit ihrer Kollegin...
Nina entpuppt sich im Verlauf des Films als Mensch voller Nervosität, nahe an der Hysterie. Zunehmend wird sie von Realitätsverlust, von Paranoia, von Visionen gepeinigt: Sie hat Sex-Phantasien, und Mord-Phantasien, letztere zielen auf die Mutter, die Vorgängerin, eine Kollegin, sich selbst.
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Viele Beobachtungen am Rande über weibliche Selbstbeobachtung, Konkurrenz, Bewunderung, über Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs. Sie klauen sich ihre Accesoirs, unbewußt um der anderen näher zu sein, ihr Geheimnis zu teilen. »Schwanensee« ist eine Phantasie des 19. Jahrhunderts: Mädchen als Schwäne: rein, weiß, flatternd; zugleich darüber, wie die schwarze Seite die Übermacht gewinnt über die andere. Kurz denkt man an The Red Shoes. Das Kunst nur durchs Extrem beglaubigt wird, ist die These dieses Films. Das würden viele – und wohl zu recht – als bürgerliche Kunstmythologie abtun. Kunst durch Selbstzerstörung, Kunst tötet – hat das irgendetwas zu tun mit den Filmen in Venedig?
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Aronofsky ist ein spannendes Werk über den Show- und Kunstbetrieb geglückt, mit ein bisschen – gutem – Kunstkitsch, und einer Menge Nachdenkenswertem. Man fragt sich unwillkürlich, inwiefern dies auch als Portrait der Filmszene, nicht nur in Hollywood zu verstehen ist: Der Regisseur (Frankreich Star Vincent Cassel) als Manipulator, die Medien, die immerzu Neues und Frischfleisch wollen, die Konkurrenz unter den Stars, ihr Ehrgeiz, und der Druck, der sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs und darüber hinaus treibt. Black Swan ist auch ein Film über die Disziplinierung des Körpers der Stars, über manche bösen Folgen der rigiden Körperkontrolle; Magersucht, Waschzwang, Selbstverletzung, und über den Narzissmus auf der anderen Seite. Und wenn man Portmans Auftritt hier sieht, wie auch den der etwa eine Dekade älteren Winona Ryder, die einst ein Weltstar ist und heute fast weg vom Fenster, die hier eine alternde Ballerina spielt, die von Portman verdrängt wird, dann fragt man sich unwillkürlich, inwiefern dieser Psychothriller auch ein Film über Portman und Ryder ist, über Startum in Hollywood.
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Man hat überdies den Eindruck, Natalie Portman sei die Einzige, die in der Lage ist, sich in ihren Rollen als ein Gegenentwurf zu Angelina Jolie zu inszenieren. Wo Jolie die Unverwundbarkeit feiert, (das Wiederaufstehen, die Unsterblichkeit des Stars) feiert Portman die Verwundbarkeit, den Tod, die Sterblichkeit des Stars. Portman als Kind war trotz allem besser, als als Frau. Je älter sie wird, um so mehr sieht Portman aus, wie ein Ex-Star von der East Coast, der bald einen Wall-Street-Banker heiraten wird.
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Am Dienstag vor dem Festival kam es zum Angriff der Rollkoffer: Die Touristen begannen den Lido, jenen luxuriösen Sandstrand vor der Lagune, wo ab Mittwochabend das Filmfestivals von Venedig stattfindet, zu meiden, weil die Preise mit dem Festival plötzlich nicht mehr luxuriös, sondern einfach unverschämt astronomisch wurden. Ein Beispiel: Das schöne Hotel Hungaria, eines der ältesten Lido-Hotels, eröffnet 1907 und von altmodisch bescheidenem Charme – hier drehte übrigens Mike Figgis seinen tollen, in Deutschland bezeichnenderweise nie gezeigten Kannibalenfilm HOTEL – verlangt für ein Doppelzimmer offziell 120 bis 180 Euro pro Nacht. Wer Glück hat, oder gut im Handeln ist (wie wir an den ersten zwei Tagen) bekommt ein besseres Doppelzimmer aber schon für unter 100 Euro. Während des Festivals ist das Hotel ausverkauft, und die Zimmer kosten 370 bis 560 Euro pro Nacht!
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Wie fast alle Journalisten wohnen wir hier in einem Mietapartement, das auch viel zu viel kostet, aber immerhin viel weniger als ein Hotelzimmer. Freie Autoren müssen das privat bezahlen, während Redakteure vom Festival oft eingeladen werden. Eigentlich sollte es natürlich umgekehrt sein. Redakteure sollten ihre Verlage zur Zahlung bitten, freie Autoren, die fast immer für mehr als ein Medium arbeiten, sollten vom Festival gehätschelt werden.
In der Praxis bleibt so dann für sie aber vom Honorar wenig übrig. Venedig ist also im Unterschied zu Cannes und Berlin das reine Vergnügen, fast Urlaub. Glaubt man zuhause. De facto ist es natürlich Arbeit, und wir wollen mal zum Auftakt hoffen, das die Filme den ganzen Aufwand lohnen.
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Redakteure haben es natürlich auch nicht leicht. Das jüngste Beispiel der grassierenden Kannibalisierung von Filmkritik kommt vom Kölner Dumont-Verlag: Der schafft seine Film-Redakteurin jedenfalls für die Venedig-Berichterstattung kurzerhand ab! Dafür macht man mit Daniel Kothenschulte, FR-Pauschalist aus Köln, den Bock zum Gärtner und lässt ihn für beide Zeitungen identische Texte verfassen, die dann womöglich am sogenannten »Newsdesk« individuell ein wenig frisiert werden. Es gibt also noch einen Grund weniger, die FR zu kaufen, weil alles ja auch in der Berliner steht.
Denkt man das Modell zuende, gibt es irgendwann nur noch eine Zeitung für alle. Das wäre dann totalitär. Und Kothenschulte als einziger Kritiker Deutschlands... dazu sagen wir jetzt mal besser gar nichts.
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Interessieren würde uns allerdings, ob der das doppelte Honorar bekommt. Oder sich getraut hat, danach zu fragen.
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In Italien kennt man dergleichen schon lange, da sind die Verleger schließlich bereits Regierungschefs. Genau: Berlusconi! In Italien ändern sich die Dinge schnell – und bleiben, wie schon Lampedusa schrieb, dann doch wie sie sind. So erlebt man auch diesmal wieder das renommierte Filmfestival, immerhin das älteste der Welt, im Umbruch: 2011 feiert man 150 Jahre italienische Einigung, und auch das Festival wird nächstes Jahr 68 Jahre alt, da sollte der seit Ewigkeiten geplante neue Festivalpalast fertig werden. Der bisherige ist zwar schick, stammt aber immerhin noch aus den Zeiten des »Duce« Mussolini, und ist marode. Zudem wurde er über die Jahre durch allerlei Behelfsbauten ergänzt, trotzdem platzt das Festival aus allen Nähten. So fehlt seit Langem der Raum für einen Markt, weshalb die Konkurrenz aus Toronto und San Sebastian mehr und mehr aufschließt. Dem derzeitigen Leiter, dem energischen Schweizer Marco Mueller hatte man zugetraut, sich gegen die italienische Bürokratie und politische Fehden durchzusetzen – und tatsächlich war im vergangenen Jahr ein großes Terrain am Lido abgesperrt und mit hohen Bauzäunen versehen worden. Kehrt man nun ein Jahr später zurück, ist man ernüchtert: Nichts hat sich getan, noch nicht mal ein Loch wurde gegraben – kaum zu glauben, dass hier bald ein neuer Filmpalast steht.
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Aus über 20 Filmen aus aller Welt wird die Jury am Ende den Goldenen Löwen und diverse andere Preisträger küren. Ihr Präsident ist diesmal US-»Kult«Regisseur Quentin Tarantino. Neben internationalen Stars wie Sofia Coppola und Julien Schnabel ist auch ein Deutscher dabei: Tom Tykwer mit seinem neuen Film DREI. Der läuft aber erst in zehn Tagen, an vorletzter Stelle. Tykwers Löwenchancen können damit sogar wachsen: Im Vorjahr lief Fatih Akin mit Soul Kitchen nur einen Tag früher, und gewann am Ende den Regiepreis, und vor zwei Jahren lief Aronofskys Wrestler an gleicher Stelle. Das Ergebnis ist bekannt.
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Ein Film, wie ein Alptraum. Auch ein Film mit einem Wahnsinnsanfang: Kinderlachen aus dem Off, zwei Clowns spielen im Zirkus, man hört Bomben aus der Ferne, die Clowns spielen weiter, und ihnen gelingt es so abzulenken vom Schrecken, und schnell ist klar, das wir uns irgendwo inmitten des Spanischen Bürgerkriegs befinden, auf Seiten der Republikaner. Ein Offizier besetzt die Zirkusräume, zwangsverpflichtet Artisten und Clowns als Mitkämpfer gegen den bevorstehenden Sturmangriff der Faschisten. Nur der traurige Clown will sich verweigern, ohne Erfolg, aber der Offizier vermerkt anerkennend: »Me gusta tu amigo. Tiene Cojones!«.
Um cojones, um Hoden und Männlichkeit wird es viel gehen in den folgenden zwei Stunden. Zunächst sieht man noch einen Jungen, den Sohn des Clowns, und mit ihm einen großen Löwen, dein irgendwie aus der Zeit herausgerissenes Bild, eindrücklich und voller Symbolkraft, ohne das man genau sagen könnte, was da jetzt symbolisiert wird. Dann erst beginnt der rasante Vorspann von Alex de la Iglesias neuem Film Balada triste de trompeta: Leuchtendrot und tiefschwarz sind Schrift wie Hintergrund; in schneller Abfolge sieht man davor Portraitbilder von Francisco Franco, erst jung, dann in Uniform und als Putschistengeneral, daneben sieht man eine weinende Madonna, Christus, Francos Adler, das päpstliche Kreuz, spätmittelalterliche Bildausschnitte, die vom Bosch und Breugel sein könnten, Franco mit Hitler, Strandschönheiten der 60er...
Dann ist der Film zurück im Zirkus, der gerade angegriffen wird. Der Clown kämpft mit Machete – eine hübsche Erinnerung an Roberto Rodriguez Machete, der hier vor einer Woche lief – radiert ein ganzes Regiment aus, des fließen überhaupt Unmrengen von Blut bei diesem gegenseitigen Abschlachten. Dann ist der Krieg vorbei mit dem Sieg der Franquisten. Auf den Fahnen steht »Arriba Espana!«, der Clown endet im Lager und muss im Valle de los Caidos, im »Tal der Gefallenen« am Ehrenmal für Francos Sieg schuften, wie unzählige andere. Dem Sohn, der Clown werden will, wie alle in der Familie hat er vor dem Abtransport noch auf den Weg mitgegeben, er müsse ein trauriger Clown werden. Und dann »Ease your pain with revenge.« Das wird der Sohn, Javier, wörtlich nehmen, und viele Franquisten töten, beim Versuch den Vater zu befreien. Auch der stirbt, dann endet dieser zweite Auftakt mit einem weiteren Zwischenclip, tollen schwarzweißen Werbespots des Franquismus in den 60er Jahren, Fernsehvergnügen, und Showbetrieb. Dann erst ist der Film da, wo er hin muss, im Madrid des Jahres 1973. Ein Zirkus, und Javier heuert hier an, ein kleiner hässlicher Dicker, der knapp 40 ist, und den traurigen Clown spielt.
Wie Irre im Kino ist auch Zirkus im Kino doof, auch bei Fellini, normalerweise zumindest. Hier nicht. Hier geht es allerdings auch kaum um den Zirkus. Es geht um den traurigen Clown, der sich in die schöne Artistin verliebt, ein bisschen wie in Les enfants du paradis, und wie sie in der allerersten Szene, wenn sie sich treffen, auf ihn zustürzt, dann spiegelt das, wie sie am Ende sterben wird.
Diese Liebe wird erwidert, kann aber nicht glücklich sein, nicht nur, weil da Sergio ist, der andere Clown, sondern auch, weil Javier selbst zuviel Angst und Bitternis in sich trägt. Es beginnt ein Zweikampf, bei dem alle aufs Äußerste verwundet und verunstaltetet werden, in dem die Figuren zugleich durch das Horrorkabinett der Geschichte reisen, eine Höllenfahrt mit Bildern wie von Bosch, Breugel und Goya. Ein Zweikampf bei dem Javier irgendwann nackt im Wald landet, in einer Höhle lebt wie Kaspar Hauser, dann gefunden wird, von einem Franquistengeneral, bei dem er ein Leben als Hund führt. er wird auch da ausbrechen, als »a bloody rocker« sich den Weg freischießen zur schönen Arztistin Natalia. Er wird Zeuge des Carrero-Blanco-Attentats von 1973, und er wird Sergio wiedertreffen.
Am Ende treffen die Schöne und die Bestien alle zusammen, zum Showdown auf dem Kreuz des Valle de los Caidos. Ein wenig erinnert das sogar an Hitchcocks North by Northwest, nur das es bitterer ist, und die Frau, das Objekt, am Ende stirbt, während die mit Cojones überleben.
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Iglesia (Acción Mutante, Perdita Durango) ist hier etwas wirklich Neues und Anderes geglückt, ein Film, wie ein Alptraum, ein katholischer Exorzismus, der sich am Teufel Franco abarbeitet und seinen Spuren in Spaniens Gesellschaft bis heute. Man kann sich am ehesten das als seriösere und spanische Variante von »Inglourious Basterds« vorstellen, oder auch als einen Film, wie ihn ein Bunuel heutzutage drehen würde.
Balada triste de trompeta ist schrill, burlesk, grotesk, ein »genial fucking shit«, ich habe ihn nicht verstanden, aber er hat mir sehr sehr gut gefallen. Der Film ist unterhaltsam und doch todernst, katholischer Splatter, expressives Blut-und-Hoden-Kino, »seine beste Arbeit« meint Markus aus Wien spontan, und man kann ihm da nur zustimmen, ansonsten lässt sich dies gar nicht
beschreiben, man muss es sehen.
Filmischer Expressionismus, und das wird Tarantino mögen, darum kann man wetten, dass dieser starke, konsequente Film aus einem Guß einen Preis bekommt, warum nicht sogar den Goldenen Löwen?