Die letzten Tage des Sommers |
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13 Assassins »slashtastic« Samurai-Epos von Miike |
Einen Löwen hat der Spanier Alex de la Iglesia schon: Er kommt nämlich, schön dressiert, in seinem Film über ein spanischen Zirkus unter Francos Diktatur vor: Gestern erhielt Balada triste de trompeta bereits mit dem Bisato D’Oro (in etwa: »Der goldene Aal«), dem Preis der unabhängigen Filmkritik, seine erste Auszeichnung. Auch sonst gilt der Spanier als Favorit auf einen der Hauptpreise, die heute Abend beim Filmfestival von Venedig vergeben werden. Am letzten Abend eines der besten Wettbewerbe der letzten Dekade hatte gestern der deutsche Beitrag Premiere: Tom Tykwers neuer Film Drei.
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Als irgendwann davon die Rede ist, dass Sophie Rois, genauer, die von ihr verkörperte Hanna keine Kinder hat, ist klar, dass sie irgendwann endlich schwanger sein wird. So ist das in Filmen, vor allem in deutschen. Jeder Topf einen Deckel, jede Frau muss Mutti werden – sonst fehlt was zum Glück. Warum eigentlich? Warum darf im deutschen Kino eine Frau nicht keine Kinder wollen und sagen, dass sie damit glücklich ist, und es auch tatsächlich sein. Ohne moralisch diskreditiert zu werden. Geht doch bei den Franzosen auch. Oder glaubt man bei den Co-finanzierenden öffentlichen Fernseh-Sendern, damit der Bevölkerungspolitik zu nutzen? So blöd sind die Leute doch nicht. Jedenfalls: Je mehr Frauen im deutschen Kino schwanger werden, um so weniger Kinder werden tatsächlich geboren. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang?
Das ist nur so ein Gedanke. Mit Tom Tykwers neuem Film Drei, der heute, am letzten Abend eines der besten Wettbewerbe der letzten Dekade als deutscher Beitrag beim Filmfestival von Venedig Premiere hatte, hat das gar nichts zu tun, außer, wie gesagt, dass nach gefühlten zwei Filmminuten klar war: Sophie Rois wird im Laufe des Films schwanger...
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Die Bilder sind virtuos, der Splitscreen zeigt bis zu fünf Szenen über- und nebeneinander, die Dialoge wirbeln. 12 Jahre nach Lola rennt ist Tom Tykwer zurückgekehrt nach Berlin. Und vieles in Drei erinnert an seinen immer noch größten Erfolg, überhaupt an seine Anfänge auch mit Winterschläfer. Die Menschen sind älter geworden, das Leben etwas langsamer, aber immer noch abwechslungsreich genug: Sophie Rois und Sebastian Schipper spielen Hanna und Simon, ein Paar Anfang 40: Man lebt am Berliner Prenzlberg, arbeitet im Kulturbereich, hat keine Kinder und daher viel Zeit für Kino, Theater- und Ausstellungsbesuche. Ein unaufgeregtes, reifes Glück, das seine Routinen hat, und ein wenig abgestanden geworden ist, doch allem alltäglichen Auf- und Ab zum Trotz ist für die beiden klar: Sie gehören zusammen und wollen nach 20 Beziehungsjahren nun auch heiraten. Das hindert Hanna nicht, sich zu Adam hingezogen zu fühlen, und eher aus Zufall mit ihm eine Affaire zu beginnen. Und als Simon eines Tages im Schwimmbad auf Adam trifft, dauert es auch bei ihm nur einmal Wettschwimmen mit anschließendem Hand-Job, und er ist verliebt...
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Das war es dann auch schon, und als Hanna unerwartet doch noch schwanger wird, ist sie darüber glücklich wie es sich gehört, als sie hört, dass es Zwillinge sind – auch so 'ne bescheuerte Filmidee –, ist sie noch glücklicher, und der Film ist dann gleich aus, nachdem nur wenige weitere Filmminuten später am Ende alle drei gemeinsam lachen können. Das Szenario dieser ungewöhnlichen menage à trois ist, wie man merkt, ohne Frage recht ausgedacht. Und überhaupt ist Tykwer ein Regisseur, der auch hier wieder Manierismen und gelegentlichen Kitsch keineswegs scheut.
Gut: Es ist ein unerwarteter Knüller, diese Wendung in die schwule Liebe. Und es ist sehr richtig, die beiden Männer mit Devid Striesow und Sebastian Schipper zu besetzen, also zwei nicht nur sehr guten Darstellern, sondern auch zweien, die im Leben erwiesenermaßen nicht schwul sind und oft genug Hetero-Rollen gespielt haben. So gelingt die Überraschung und stellt den Tabubruch in den Schatten.
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Drei ist auch ein witziger Film, der bei der ersten Pressevorführung für viele Lacher sorgte. Eine Komödie von der Subtilität des Ozon-Films Potiche ist dies aber keinesfalls. Stattdessen immer wieder dieses aus deutschen Filmen leider vertraute Gefühl: Da stimmt doch was nicht. Da ist der Ton falsch. Das ist geschrieben, ausgedacht, etc. Völlig daneben liegen zum Beispiel die Szenen, in denen Hanna bei ihrer Arbeit als TV-Moderatorin gezeigt wird. Jeder, der ab und an Fernsehen guckt, weiß: So redet keiner, da sieht man nur Intellektuellen-Klischees wie sie sich ein Anti-Intellektueller vorstellt. Dabei ist Tykwer das ja gar nicht. Er schafft es nur nicht, in solchen Momenten seinen Figuren Leben einzuhauchen.
Was er dafür wirklich kann: Seinen Bildern Leben einhauchen. Sie in einen Wirbel und Schwung zu versetzen, dynamisch und präzis in Bildern zu erzählen. So unpräzis und doof manche Dialoge, so präzis und gut gewählt die (meisten) Bilder. Filmisch ist Tykwer damit auf dem richtigen Weg. er sollte nur nicht selber, jedenfalls nicht allein schreiben, sondern sich einen guten (Co-)Autor zulegen.
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Der Film lässt am Ende doch seltsam kalt: Das mag daran liegen, dass absurderweise gerade dieser Film, der so für Freiheit und Offenheit plädiert, in der Ausführung dann sehr konstruiert und schematisch ist.
Tykwer kann alles, und macht viel. Dazu gehören dann auch Mätzchen: Mal so ein typisches Tykwer-Spiel mit den Zahlen 3 und 9: Schippers Mutter, deren Lieblingszahlen das waren, nimmt am 3.9. um 9.03 Uhr 39 Schlaftabletten, wird dann von ihrer 39 Jahre alten Tochter gefunden, die mit dem ICE für 39 Euro gekommen war... Naja...
Man kann sich das schon vorstellen: »Mach' doch mal wieder was, wie Lola rennt«, das bekam Tykwer seit 1998 bestimmt oft zu hören, und er hat die Rufe erhört. Ganz so flott ist alles aber doch nicht, eher »Lola flaniert«. Drei ist ein spürbar persönlicher Film, die Rückkehr ins Vertraute hat Tykwer gutgetan, aber auch kühl und seltsam leblos. Das Gefühl ist schon da, steckt aber in der Form, hinter der Form.
Das was Tykwer offensichtlich an diesem Stoff interessiert, ist die Liebesutopie als solche, das Plädoyer für Freiheit und eine realitätssatte gesellschaftliche und kulturelle Momentaufnahme unserer Gegenwart. Die Ausstattung – Uli Hanisch – ist sehr stimmig: Die Altbauwohnung des Wessipärchens, die Platte in der Leipziger Straße von Adam. Der ganze Kunst- und Kulturzinnober...
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Ökonomisch ist das erzählt. Die Moral liefert eine Dialogszene zwischen Striesow und Schipper: »Du musst nur Abschied nehmen...« – »Wovon denn?« – »Von deinem deterministischen Beziehungsverständnis.« Dann ist es aber schon ein bisschen absurd, dass ein Film, der so für Anti-Determinismus und Freiheit plädiert, dann so konstruiert und schematisch ist.
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Bilder, die nicht oder nur schlecht funktionieren, gibt es auch: Eine ganz schön lange Tanzszene im Weißen Raum zu Beginn. Schon klar: Sascha Waltz. Aber wen interessiert das, außer Ballett-Experten. Es stört hier nur.
Was auch stört: diese dauernde Bedeutungshuberei und Wichtigtuerei: Dewey hier, Shakespeare da, Moby Dick und Bachmann, Die Vögel-Plakat an der Wand, und Thomas Struth-Plakat daneben, Robert Wilson und René Pollesch, Hesses »Stufen« und Nachkriegsdeutschland, Körperwelten und Debussy, Burka-Debatte und Hodenkrebs... Nichts, aber auch gar nichts fehlt, außer Thilo Sarrazin. Das sind keine klug gewählten Zeichen, die zu entschlüsseln und mit Bedeutung für den Film zu versehen, Freude machen könnte, sondern hier ist alles mit Bildungsgut durchsetzt, wie bei Menschen, die ihr Abi auf dem zweiten Bildungsweg gemacht haben und zu recht stolz drauf sind, das aber dann leider dauernd zeigen müssen.
Oder auch: Einmal liegt rein offenbar vom Himmel gefallenes Baby auf einer Decke und dahinter läuft der Fernseher: Darfour, Bagdad, Petersburg, China, alles in 20 Sekunden. »Gute Güte!« hätte meine Großmutter gesagt.
Dann als Rois schwanger ist: Ein Kind in Großaufnahme, man denkt schon nein: bitte nicht jetzt das noch, aber ja: Im Fruchtwasser, riesig groß. Und dann – das auch noch gleich hinterher! – mal wieder Ultraschalluntersuchung. Geht gar keine Kinoschwangerschaft mehr ohne das und ohne den Schwangerenbauch-Fetischismus? Oder sind das Männerphantasien, zumal Tykwer ja gerade Vater geworden ist? Meine jedenfalls nicht.
Oder: Wenn Angela Winkler sagt, dass sie bald stirbt, dann kommt ein Schnitt auf die Süddeutsche Zeitung (muss man dafür eigentlich bezahlen? Wieviel?) mit der Schlagzeile: »Erdbeben in Südostasien«. Soll uns das sagen, dass das Kleine das Große spiegelt, dass es Wichtigeres gibt, als tote Eltern oder gerade im Gegenteil, oder das die Welt weitergeht oder wie oder was? Am Ende ist so etwas nicht präzis, sondern allgemeines Raunen: Jaja, die Welt...
Drei hat also bei aller Sympathie seine klaren Grenzen. Das fanden auch die Kollegen, die Aufnahme war freundlich, aber lange reden wollte man dann doch lieber über andere Filme.
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Wie viele Filme in Venedig, etwa Sofia Coppolas Somewhere, Anthony Cordiers Happy Few und Norwegian Woods von Tran Anh Hung, die hier alle als erweiterte Preisfavoriten ins Schluß-Wochenende gehen, erzählt auch Tykwer von Sinnleere und Einsamkeit im Leben der 30-45-jährigen Wohlstandsbürger des Westens. Eine zweite Lesart des Films wird dabei aber ebenfalls nahegelegt: Das müde Wessi-Paarleben bekommt durch einen Ossi einen neuen Kick. Der aus Cottbus stammende Adam liest zwar keine Bücher, dafür ist er potent, sexuell aktiv und offen, zieht Fußball und Stadionbesuche mit Bier dem Besuch einer Vernissage vor und arbeitet zudem als Stammzellforscher – also an der Neuerfindung der Menschheit.
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Tykwers nächster Film erzählt übrigens die Fortsetzung und heißt dann Fünf.
»Er sollte besser Fünfzig heißen«, meint Kollege Josef Schnelle, weil Tykwer im nächsten Jahr 50 wird.
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Wieder mal ein amerikanischer Jude, der einen propalästinensischen Film dreht. Der Gedanke macht sich bereits nach wenigen Minuten in Julian Schnabels Miral breit, dem bislang unerwähnten größten Reinfall des Wettbewerbs. Man hätte gewarnt sein können, als der Name Vanessa Redgrave im Vorspann zu lesen war. So toll sie als Darstellerin ist, so blöde und einseitig ist das öffentliche politische Engagement der Schauspielerin, die sich schon seit 30 Jahren als Rächerin aller Erniedrigten Beleidigten stilisiert und zu jedem Weltproblem etwas radical chices zu sagen hat.
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Miral, eine Romanverfilmung, erzählt von Frauen inmitten des Nahostkonflikts über die lange Zeit zwischen zwischen 1947 und 1994. Durch seine Story und seine politische Haltung stört der Film als nervtötendes und dabei ein recht typisches Beispiel für das philopalästinensiche Engagement westlicher Künstler. Es ist aber auch, und damit muss man anfangen einfach ein künstlerisch schlechter Film, so schlecht, dass man sich fragt, ob man damals eigentlich richtig lag, als man Schmetterling und Taucherglocke schön fand?
Ohne Scheu vor Polit-Kitsch zeichnet Schnabel ein einseitiges Bild des Nahost-Konflikt, das allzu säuberlich zwischen Opfern (Palästinenstern) und Tätern (Israelis) unterscheidet: Man sieht dauernd prügelnde, folternde und ballernde Israelis, aber keinen einzigen Palästinenser, der einem Israeli etwas zuleide tut. Dafür laute gutwillige Araber – die politische Position Schnabels beschränkt sich auf die Position: Klar, es gibt auch palästinensische Radikale, aber eigentlich sind die Israelis an allem schuld.
Das nimmt auch den Film in Mitleidenschaft: Es gibt visuell unmögliche Szenen, wie eine Vergewaltigung, bei der die Kamera mitfickt und sich im Rhythmus der Körperbewegungen gegen den Bettpfosten bewegt. Noch schlimmer: ein Selbstmord im Meer, bei dem die Kamera mit dem sterbenden allmählich unter Wasser sinkt. Vanessa Redgrave und Willem Dafoe laufen genau einmal durchs Bild, und wurden offenbar vor allem engagiert, um das Filmplakat zu schmücken. Der Film strotzt vor visuellen Manierismen, und hat eine sehr artifizielle Struktur – sprunghaft und unterteilt in mehrere Kapitel. Dauernd spürt man den Roman, der eingekürzt zur Kurzatmigkeit zwingt. Alles in allem ist das eine Schmonzette, die es sich in ihrer Vermengung von Liebesleid und Politik viel zu leicht macht – die erste und größte Enttäuschung in einem ansonsten starken Wettbewerbsprogramm.
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Wenn schon Exploitation, dann richtig: Hongkong-Regisseur Andrew Lau (Infernal Affairs) greift in dem Kampfkunst-Spektakel Legend of the Fist eine legendäre Figur auf, mit der einst Bruce Lee berühmt wurde. Zugleich versetzt er sie in das Shanghai der 20er Jahre und erzählt von der japanischen Besatzung Chinas – im Stil von Casablanca. Schöne Frauen und mutige Männer haben es mit bösen Japanern und ihren Intrigen zu tun: Chinesisches Kino im Stil von Tarantinos Inglourious Basterds, also recht frei, mehr Wunschphantasie als historisch korrekt, aber überaus kurzweilig. So ist dieser Film vor allem eine Visitenkarte einer Kinoregion, die mehr und mehr aus dem Schatten Hollywoods tritt. Auf andere Weise den Abschied von Hollywood zelebriert Tarantino-Kumpel und US-Mexikaner Robert Rodriguez. Auch Machete ist wildes Spektakelkino, schnell und billig, das sich schon deshalb gut zum Eröffnungsabend eignete, weil man hier unter anderem Robert de Niro und Don Johnson wiederbegegnen konnte, sowie Jessica Alba und Michelle Rodriguez: Die kurzweilige Story dreht sich um einen mexikanischen Regierungsagenten im Kampf gegen Drogenbosse und fremdenfeindliche US-Populisten.
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Vor drei Jahren, hätte Abdellatif Kechiche den Goldenen Löwen gewinnen müssen. La graine et le mulet hieß der einfach nur bezaubernde Film des Tunesien-Franzosen, der – ähnlich wie Todd Haynes kaum schlechterer, aber gänzlich anderer I’m Not There – mit zwei weniger bedeutenden Preisen von einer offensichtlich gespalteten Jury unter Zhang Yimou unter ferner liefen abgespeist wurde, während Ang Lee für Lust, Caution seinen zweiten Goldenen Löwen bekam. Kechiche musste sich mit einem knappen Dutzend Cesars trösten.
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Gemessen an diesem Meisterwerk ist der neue Film von Kechiche eine Riesenenttäuschung. Venus noire ist eine lange, langatmige, zähe und reichlich unsinnliche Angelegenheit. Ein Film wie eine schlechte Universitätsvorlesung. Und tatsächlich bekommt man in einer Art strenger unausgesprochener Kapitelanordnung mehrere Vorträge und Abhandlungen serviert. Bereits in der ersten Szene lauscht man dem viertelstündigen Vortrag eines Wissenschaftlers im 19. Jahrhundert über Schädelformen und Schamlippen von Hottentotten mit dem Ergebnis, diese Menschen stünden dem Affen näher, als dem Europäer.
Dies alles entpuppt sich als Rahmen für einen historischen Rückblick innerhalb des Historienfilms: 1810, London: Eine Jahrmarktschausteller-Show mit einer »Hottentot Venus«. Auch wieder eine gute Viertelstunde lang exerziert der Film den Exotismus des frühen 19. Jahrhunderts und die qualvolle Demütigung der mittzwanzigjährigen Frau aus Afrika. Preaching to the converted. Man weiß das alles und fragt sich, wozu man es sehen muss, was sich erfahren ließe. Vielleicht geht es aber ums Durchleben, könnte man einwenden. Nur dann sollte Kechiche besser den Rassismus nicht dadurch anklagen, dass er die britischen proletarischen Zuschauer, die sich über die vermeintliche »Wilde« mit einer Mischung aus Angst und Lust amüsieren, und »mal anfassen« wollen, nicht umgekehrt als kreischende, feixende Masse inszeniert, als »weiße Affen«. Aber auch umgekehrter Rassismus ist hier nicht der zentrale Punkt, sondern die Todsünde, zu langweilen.
Nach einer guten halben Stunde hat der Film immer noch nicht sein Thema gefunden, wir begleiten die Hottentotten-Dame durch ihr gar nicht so miserables Leben in einem Kostümschinken-London, sollen Mitleid mit ihr haben und zugleich an uns selbst erfahren, wie wir auch als Wohlmeinende dem rassistischen Voyeurs-Blick immer wieder verfallen. Nach einer Stunde sagt die Venus : »I not longer want the cage.« Ach was? Das ahnten wir bereits nach 20 Minuten. Dabei guckt die Dame immer mit dem gleichen Gesichtsausdruck überaus muffelig, was man natürlich ihrer miserablem Lage zuschreiben muss, was im Film aber auch ein Suhlen in Miserabilität ist, wie man es sonst eher von Mike Leigh erwartet.
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Der Regisseur will ganz offensichtlich mit seinem Publikum wie in der französischen Grammatik-Stunde alle Lektionen Punkt für Punkt durchgehen. Darum gibt es als nächstes einen Gerichtsprozeß, wo alles gleich doppelt gesagt wird: Erst auf Englisch, dann auf Afrikaans. Da wird einem dann auch irgendwann die Medientheorie des Films mitgeliefert: Immer wieder, heißt es, nähmen die Zuschauer – im Film sind die im Jahrmarkt gemeint, aber indirekt natürlich auch wir im Kino – die Abbildung und Wahrnehmung für die Wirklichkeit, »they take representation for reality.« Kechiche hat sich offenkundig zum Ziel gesetzt, unsere Kategorien und Sicherheiten dagegen ein für alle mal zu erschüttern – ein nobles Anliegen. Nur wüsste man gern auch, wovon denn Kechiche selbst bei diesem Thema erschüttert wurde. Wenn man mit ihm in einem Boot sitzt, lässt man sich noch manches gefallen. So aber...
Das Problem dieses Lehrstück über Rassismus ist also, dass der Regisseur sich selber offensichtlich als Lehrer sieht, und selbst keinerlei Fragen mehr an sein Thema hat, nirgendwo eine Überraschung oder Erfahrung, ein eigenes Suchen erkennbar ist. Stattdessen wird man Zeuge, wie eine Frau langatmig und öde zum Objekt von allen wird, und am Ende in einem Bordell landet und dann als präparierte Leiche zum Ausstellungsstück der Academie Francaise wird. Vermutlich ist das sehr wissenschaftskritisch gemeint, und soll uns sagen, dass Wissenschaft noch böser ist, als Jahrmarktsausbeuter. Dabei fällt unter den Tisch, dass die Wissenschaftler aus ihrer Sicht genauso recht hatten, wie das Schaustellerpublikum.
Vor allem aber fällt unter den Tisch, dass Kechiche selbst mit der Frau gerade durch den naturalistischen Darstellungsstil seines Films, durch den Positivismus seines Glaubens an die wissenschaftskritische Wissenschaft, genauso verfährt, wie seine Film-Schurken, und in seine eigene Falle geht. Und ist es nicht in so einem Film auch fragwürdig, die Hottentotten-Frau durch eine Kubanerin, durch Yahima Torrès spielen zu lassen?
Vermutlich erfährt Kechiche eine Menge
Rassismus. Aber ist das eine Entschuldigung, um einen schlechten Film zu machen?
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Da ist 13 Assassins (Jûsan-nin no shikaku) von Miike Takashi doch ein ganz anderes filmisches Kaliber. Auch dies ein Kostümfilm, auch dies exotistisch auf seine Art. Aber zugleich hellwach, das Gegenteil von Kechiches Saturiertheit.
Ein Samurai-Film, kühl und pur, auf seine Essenz reduziert: essential killing. Das Remake des gleichnamigen Klassikers von Eichi Kudo von 1963. Aber eben kein »Miike-Film«, fast völlig ohne die Miikismen originellstmöglicher Kinobrutalität. Mehr wirkt alles wie eine Kurosawa-Hommage, so ruhig und gradlinig und in sich ruhend. Es geht um eine Art Caligula unter den Warlords der Shogun-Ära: Lord Naritsugu Matsudaira ist wie die Hottentotten-Venus zur gleichen Zeit eine historische Gestalt, die hier allerdings deutlich abgewandelt wurde – »man müsste einmal für das Samurai-Kino so ein Buch schreiben, wie es Joe Hembus einst für den Western schrieb«, meint Freund und Kollege Josef Schnelle dazu, »ein Buch, in dem die wahren Geschichten der Western-Helden zu finden sind.«
Der Böse Naritsugu ist ein Schlächter, zugleich ein Dekadent, der sich spüren möchte, und vor dem Showdown Sätze formuliert wie »What fun! I am going in.« Zuvor schlachtet er herzlos seine Mitmenschen ab, oft wohl nur, um zu sehen, wie weit er gehen kann. So bekommt dann der Samurai Shinzaemon Shimada den inoffiziellen Auftrag den Lord zu beseitigen. Eine Mission Impossible, zu der ihm nur 12 weitere Kämpfer zur Verfügung stehen.
Wie es sich gehört, meint er trotzdem »How fate smiles on me.« denn »A samurai’s life isn’t measured in length, isn’t it?« Überhaupt ist das ein Film der Coolness, des konsequenten Einschlagens eines Wegs bis zum Ende, des Determinismus. Ohne postmoderne Ironien, aber humorvoll und selbstgewiß.
Zugleich erlaubt sich Miike allen Klassizismen zum Trotz die Zerstörung des schönen Bildes vom japanischen 19. Jahrhundert, das viele ähnliche Filme malen. Er zeigt Depression und Melancholie einer traurigen Welt ohne Glamour. Auch falsche Vorstellungen von Ehre werden zerstört: »There is no samurai code for mercy in battle.« heißt es. Stattdessen harte Jungs, die tun, was getan werden muss: »Lose your life, but let the enemy pay.« Ein Western eben.
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Eine Weile wirkt dann alles wie eine Variante der Sieben Samurai, wenn die 13 Kämpfer ihre Feinde an einen bestimmten Ort locken und dort stellen, die Räume verengen, wenn sie dann die 200 Gegner durch diverse kluge Fallen, clevere Tricks und bizarre (historische) Tötungsmethoden – zum Beispiel ein paar Büffel, die mit einem Feuer auf ihrem Rücken rasend gemacht werden – auf 130 reduzieren, um dann, wenn aus ihrer Sicht eine Kampflage hergestellt wurde, die fair ist, kühl zu konstatieren: »No more tricks«.
»Kill! Kill them all!« ruft Shinzaemon, und holt das Schriftstück hervor, das eine von Naritsugu verkrüppelte Frau mit dem Mund schrieb und dem Lord als Urteil präsentiert wird: »Total massacre!« Wie in einer Jazz-Combo bekommt nun jeder sein Solo, seinen Auftritt, seinen Tod. Wie bei Kurosawa und dem klassischen Samurai-Film gibt es keine absurden feuerwehrschlauchdicken Blutfontänen. Dafür kurze klare Hiebe, zack zack, und weiter. Miike arbeitet sehr gut mit
Suspense. Am Ende wird die Todessehnsucht des Lords befriedigt: »Am I dying? What pain...« – »My Lord prepare yourself.« – »So death comes for us all. Allow me to tell you: of all days of my life, this has been the most exciting.« – »You're welcome.«
Der Kollege von Variety erfand dafür das schöne Wort »slashtastic«, das wir hier nur zitieren können.
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In Japan wird der Film übrigens in einer knapp 45-Minuten längeren Version gezeigt. Es wäre bei seiner Reinheit und der Perfektion, mit der 13 Assassins genau das ist, was er sein will, keine Überraschung, wenn er hier am Ende einen der Preise bekommen würde.
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In Venedig war am Abschlußtag nach all dem schlechten Wetter alles heiß und strahlend blau. In den Gärten mäht man den Rasen, noch einmal vor dem Winter. Die letzten Tage des Sommers haben begonnen. Der Herbst wird nicht besser sein.