12.09.2010

Die letzten Tage des Sommers

13 Assassins
13 Assassins
»slashtastic« Samurai-Epos von Miike

Schwarze Venus, roter Mars, Redeschwälle und Wortkargheit und Wenn schon Exploitation, dann richtig: Neue Filme von Abdellatif Kechiche, Miike Takashi, Julien Schnabel, Andrew Lau und Roberto Rodriguez.

Von Rüdiger Suchsland

Einen Löwen hat der Spanier Alex de la Iglesia schon: Er kommt nämlich, schön dressiert, in seinem Film über ein spani­schen Zirkus unter Francos Diktatur vor: Gestern erhielt Balada triste de trompeta bereits mit dem Bisato D’Oro (in etwa: »Der goldene Aal«), dem Preis der unab­hän­gigen Film­kritik, seine erste Auszeich­nung. Auch sonst gilt der Spanier als Favorit auf einen der Haupt­preise, die heute Abend beim Film­fes­tival von Venedig vergeben werden. Am letzten Abend eines der besten Wett­be­werbe der letzten Dekade hatte gestern der deutsche Beitrag Premiere: Tom Tykwers neuer Film Drei.

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Als irgend­wann davon die Rede ist, dass Sophie Rois, genauer, die von ihr verkör­perte Hanna keine Kinder hat, ist klar, dass sie irgend­wann endlich schwanger sein wird. So ist das in Filmen, vor allem in deutschen. Jeder Topf einen Deckel, jede Frau muss Mutti werden – sonst fehlt was zum Glück. Warum eigent­lich? Warum darf im deutschen Kino eine Frau nicht keine Kinder wollen und sagen, dass sie damit glücklich ist, und es auch tatsäch­lich sein. Ohne moralisch diskre­di­tiert zu werden. Geht doch bei den Franzosen auch. Oder glaubt man bei den Co-finan­zie­renden öffent­li­chen Fernseh-Sendern, damit der Bevöl­ke­rungs­po­litik zu nutzen? So blöd sind die Leute doch nicht. Jeden­falls: Je mehr Frauen im deutschen Kino schwanger werden, um so weniger Kinder werden tatsäch­lich geboren. Viel­leicht gibt es da einen Zusam­men­hang?

Das ist nur so ein Gedanke. Mit Tom Tykwers neuem Film Drei, der heute, am letzten Abend eines der besten Wett­be­werbe der letzten Dekade als deutscher Beitrag beim Film­fes­tival von Venedig Premiere hatte, hat das gar nichts zu tun, außer, wie gesagt, dass nach gefühlten zwei Film­mi­nuten klar war: Sophie Rois wird im Laufe des Films schwanger...

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Die Bilder sind virtuos, der Split­screen zeigt bis zu fünf Szenen über- und neben­ein­ander, die Dialoge wirbeln. 12 Jahre nach Lola rennt ist Tom Tykwer zurück­ge­kehrt nach Berlin. Und vieles in Drei erinnert an seinen immer noch größten Erfolg, überhaupt an seine Anfänge auch mit Winter­schläfer. Die Menschen sind älter geworden, das Leben etwas langsamer, aber immer noch abwechs­lungs­reich genug: Sophie Rois und Sebastian Schipper spielen Hanna und Simon, ein Paar Anfang 40: Man lebt am Berliner Prenz­l­berg, arbeitet im Kultur­be­reich, hat keine Kinder und daher viel Zeit für Kino, Theater- und Ausstel­lungs­be­suche. Ein unauf­ge­regtes, reifes Glück, das seine Routinen hat, und ein wenig abge­standen geworden ist, doch allem alltäg­li­chen Auf- und Ab zum Trotz ist für die beiden klar: Sie gehören zusammen und wollen nach 20 Bezie­hungs­jahren nun auch heiraten. Das hindert Hanna nicht, sich zu Adam hinge­zogen zu fühlen, und eher aus Zufall mit ihm eine Affaire zu beginnen. Und als Simon eines Tages im Schwimmbad auf Adam trifft, dauert es auch bei ihm nur einmal Wett­schwimmen mit anschließendem Hand-Job, und er ist verliebt...

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Das war es dann auch schon, und als Hanna uner­wartet doch noch schwanger wird, ist sie darüber glücklich wie es sich gehört, als sie hört, dass es Zwillinge sind – auch so 'ne bescheu­erte Filmidee –, ist sie noch glück­li­cher, und der Film ist dann gleich aus, nachdem nur wenige weitere Film­mi­nuten später am Ende alle drei gemeinsam lachen können. Das Szenario dieser unge­wöhn­li­chen menage à trois ist, wie man merkt, ohne Frage recht ausge­dacht. Und überhaupt ist Tykwer ein Regisseur, der auch hier wieder Manie­rismen und gele­gent­li­chen Kitsch keines­wegs scheut.

Gut: Es ist ein uner­war­teter Knüller, diese Wendung in die schwule Liebe. Und es ist sehr richtig, die beiden Männer mit Devid Striesow und Sebastian Schipper zu besetzen, also zwei nicht nur sehr guten Darstel­lern, sondern auch zweien, die im Leben erwie­se­ner­maßen nicht schwul sind und oft genug Hetero-Rollen gespielt haben. So gelingt die Über­ra­schung und stellt den Tabubruch in den Schatten.

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Drei ist auch ein witziger Film, der bei der ersten Pres­se­vor­füh­rung für viele Lacher sorgte. Eine Komödie von der Subti­lität des Ozon-Films Potiche ist dies aber keines­falls. Statt­dessen immer wieder dieses aus deutschen Filmen leider vertraute Gefühl: Da stimmt doch was nicht. Da ist der Ton falsch. Das ist geschrieben, ausge­dacht, etc. Völlig daneben liegen zum Beispiel die Szenen, in denen Hanna bei ihrer Arbeit als TV-Mode­ra­torin gezeigt wird. Jeder, der ab und an Fernsehen guckt, weiß: So redet keiner, da sieht man nur Intel­lek­tu­ellen-Klischees wie sie sich ein Anti-Intel­lek­tu­eller vorstellt. Dabei ist Tykwer das ja gar nicht. Er schafft es nur nicht, in solchen Momenten seinen Figuren Leben einzu­hau­chen.

Was er dafür wirklich kann: Seinen Bildern Leben einhau­chen. Sie in einen Wirbel und Schwung zu versetzen, dynamisch und präzis in Bildern zu erzählen. So unpräzis und doof manche Dialoge, so präzis und gut gewählt die (meisten) Bilder. Filmisch ist Tykwer damit auf dem richtigen Weg. er sollte nur nicht selber, jeden­falls nicht allein schreiben, sondern sich einen guten (Co-)Autor zulegen.

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Der Film lässt am Ende doch seltsam kalt: Das mag daran liegen, dass absur­der­weise gerade dieser Film, der so für Freiheit und Offenheit plädiert, in der Ausfüh­rung dann sehr konstru­iert und sche­ma­tisch ist.

Tykwer kann alles, und macht viel. Dazu gehören dann auch Mätzchen: Mal so ein typisches Tykwer-Spiel mit den Zahlen 3 und 9: Schippers Mutter, deren Lieb­lings­zahlen das waren, nimmt am 3.9. um 9.03 Uhr 39 Schlaf­ta­bletten, wird dann von ihrer 39 Jahre alten Tochter gefunden, die mit dem ICE für 39 Euro gekommen war... Naja...

Man kann sich das schon vorstellen: »Mach' doch mal wieder was, wie Lola rennt«, das bekam Tykwer seit 1998 bestimmt oft zu hören, und er hat die Rufe erhört. Ganz so flott ist alles aber doch nicht, eher »Lola flaniert«. Drei ist ein spürbar persön­li­cher Film, die Rückkehr ins Vertraute hat Tykwer gutgetan, aber auch kühl und seltsam leblos. Das Gefühl ist schon da, steckt aber in der Form, hinter der Form.

Das was Tykwer offen­sicht­lich an diesem Stoff inter­es­siert, ist die Liebe­sutopie als solche, das Plädoyer für Freiheit und eine reali­täts­s­atte gesell­schaft­liche und kultu­relle Moment­auf­nahme unserer Gegenwart. Die Ausstat­tung – Uli Hanisch – ist sehr stimmig: Die Altbau­woh­nung des Wessipär­chens, die Platte in der Leipziger Straße von Adam. Der ganze Kunst- und Kulturzin­nober...

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Ökono­misch ist das erzählt. Die Moral liefert eine Dialog­szene zwischen Striesow und Schipper: »Du musst nur Abschied nehmen...« – »Wovon denn?« – »Von deinem deter­mi­nis­ti­schen Bezie­hungs­ver­s­tändnis.« Dann ist es aber schon ein bisschen absurd, dass ein Film, der so für Anti-Deter­mi­nismus und Freiheit plädiert, dann so konstru­iert und sche­ma­tisch ist.

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Bilder, die nicht oder nur schlecht funk­tio­nieren, gibt es auch: Eine ganz schön lange Tanzszene im Weißen Raum zu Beginn. Schon klar: Sascha Waltz. Aber wen inter­es­siert das, außer Ballett-Experten. Es stört hier nur.

Was auch stört: diese dauernde Bedeu­tungs­hu­berei und Wich­tig­tuerei: Dewey hier, Shake­speare da, Moby Dick und Bachmann, Die Vögel-Plakat an der Wand, und Thomas Struth-Plakat daneben, Robert Wilson und René Pollesch, Hesses »Stufen« und Nach­kriegs­deutsch­land, Körper­welten und Debussy, Burka-Debatte und Hoden­krebs... Nichts, aber auch gar nichts fehlt, außer Thilo Sarrazin. Das sind keine klug gewählten Zeichen, die zu entschlüs­seln und mit Bedeutung für den Film zu versehen, Freude machen könnte, sondern hier ist alles mit Bildungsgut durch­setzt, wie bei Menschen, die ihr Abi auf dem zweiten Bildungsweg gemacht haben und zu recht stolz drauf sind, das aber dann leider dauernd zeigen müssen.

Oder auch: Einmal liegt rein offenbar vom Himmel gefal­lenes Baby auf einer Decke und dahinter läuft der Fernseher: Darfour, Bagdad, Peters­burg, China, alles in 20 Sekunden. »Gute Güte!« hätte meine Groß­mutter gesagt.

Dann als Rois schwanger ist: Ein Kind in Groß­auf­nahme, man denkt schon nein: bitte nicht jetzt das noch, aber ja: Im Frucht­wasser, riesig groß. Und dann – das auch noch gleich hinterher! – mal wieder Ultra­schall­un­ter­su­chung. Geht gar keine Kino­schwan­ger­schaft mehr ohne das und ohne den Schwan­ge­ren­bauch-Feti­schismus? Oder sind das Männer­phan­ta­sien, zumal Tykwer ja gerade Vater geworden ist? Meine jeden­falls nicht.

Oder: Wenn Angela Winkler sagt, dass sie bald stirbt, dann kommt ein Schnitt auf die Süddeut­sche Zeitung (muss man dafür eigent­lich bezahlen? Wieviel?) mit der Schlag­zeile: »Erdbeben in Südostasien«. Soll uns das sagen, dass das Kleine das Große spiegelt, dass es Wich­ti­geres gibt, als tote Eltern oder gerade im Gegenteil, oder das die Welt weiter­geht oder wie oder was? Am Ende ist so etwas nicht präzis, sondern allge­meines Raunen: Jaja, die Welt...

Drei hat also bei aller Sympathie seine klaren Grenzen. Das fanden auch die Kollegen, die Aufnahme war freund­lich, aber lange reden wollte man dann doch lieber über andere Filme.

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Wie viele Filme in Venedig, etwa Sofia Coppolas Somewhere, Anthony Cordiers Happy Few und Norwegian Woods von Tran Anh Hung, die hier alle als erwei­terte Preis­fa­vo­riten ins Schluß-Wochen­ende gehen, erzählt auch Tykwer von Sinnleere und Einsam­keit im Leben der 30-45-jährigen Wohl­stands­bürger des Westens. Eine zweite Lesart des Films wird dabei aber ebenfalls nahe­ge­legt: Das müde Wessi-Paarleben bekommt durch einen Ossi einen neuen Kick. Der aus Cottbus stammende Adam liest zwar keine Bücher, dafür ist er potent, sexuell aktiv und offen, zieht Fußball und Stadi­on­be­suche mit Bier dem Besuch einer Vernis­sage vor und arbeitet zudem als Stamm­zell­for­scher – also an der Neuer­fin­dung der Mensch­heit.

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Tykwers nächster Film erzählt übrigens die Fort­set­zung und heißt dann Fünf.

»Er sollte besser Fünfzig heißen«, meint Kollege Josef Schnelle, weil Tykwer im nächsten Jahr 50 wird.

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Wieder mal ein ameri­ka­ni­scher Jude, der einen propaläs­ti­nen­si­schen Film dreht. Der Gedanke macht sich bereits nach wenigen Minuten in Julian Schnabels Miral breit, dem bislang uner­wähnten größten Reinfall des Wett­be­werbs. Man hätte gewarnt sein können, als der Name Vanessa Redgrave im Vorspann zu lesen war. So toll sie als Darstel­lerin ist, so blöde und einseitig ist das öffent­liche poli­ti­sche Enga­ge­ment der Schau­spie­lerin, die sich schon seit 30 Jahren als Rächerin aller Ernied­rigten Belei­digten stili­siert und zu jedem Welt­pro­blem etwas radical chices zu sagen hat.

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Miral, eine Roman­ver­fil­mung, erzählt von Frauen inmitten des Nahost­kon­flikts über die lange Zeit zwischen zwischen 1947 und 1994. Durch seine Story und seine poli­ti­sche Haltung stört der Film als nerv­tö­tendes und dabei ein recht typisches Beispiel für das philopaläs­ti­nen­siche Enga­ge­ment west­li­cher Künstler. Es ist aber auch, und damit muss man anfangen einfach ein künst­le­risch schlechter Film, so schlecht, dass man sich fragt, ob man damals eigent­lich richtig lag, als man Schmet­ter­ling und Taucher­glocke schön fand?

Ohne Scheu vor Polit-Kitsch zeichnet Schnabel ein einsei­tiges Bild des Nahost-Konflikt, das allzu säuber­lich zwischen Opfern (Paläs­ti­nen­stern) und Tätern (Israelis) unter­scheidet: Man sieht dauernd prügelnde, folternde und ballernde Israelis, aber keinen einzigen Paläs­ti­nenser, der einem Israeli etwas zuleide tut. Dafür laute gutwil­lige Araber – die poli­ti­sche Position Schnabels beschränkt sich auf die Position: Klar, es gibt auch paläs­ti­nen­si­sche Radikale, aber eigent­lich sind die Israelis an allem schuld.

Das nimmt auch den Film in Mitlei­den­schaft: Es gibt visuell unmög­liche Szenen, wie eine Verge­wal­ti­gung, bei der die Kamera mitfickt und sich im Rhythmus der Körper­be­we­gungen gegen den Bett­pfosten bewegt. Noch schlimmer: ein Selbst­mord im Meer, bei dem die Kamera mit dem ster­benden allmäh­lich unter Wasser sinkt. Vanessa Redgrave und Willem Dafoe laufen genau einmal durchs Bild, und wurden offenbar vor allem engagiert, um das Film­plakat zu schmücken. Der Film strotzt vor visuellen Manie­rismen, und hat eine sehr arti­fi­zi­elle Struktur – sprung­haft und unter­teilt in mehrere Kapitel. Dauernd spürt man den Roman, der eingekürzt zur Kurz­at­mig­keit zwingt. Alles in allem ist das eine Schmon­zette, die es sich in ihrer Vermen­gung von Liebes­leid und Politik viel zu leicht macht – die erste und größte Enttäu­schung in einem ansonsten starken Wett­be­werbs­pro­gramm.

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Wenn schon Exploita­tion, dann richtig: Hongkong-Regisseur Andrew Lau (Infernal Affairs) greift in dem Kampf­kunst-Spektakel Legend of the Fist eine legendäre Figur auf, mit der einst Bruce Lee berühmt wurde. Zugleich versetzt er sie in das Shanghai der 20er Jahre und erzählt von der japa­ni­schen Besatzung Chinas – im Stil von Casablanca. Schöne Frauen und mutige Männer haben es mit bösen Japanern und ihren Intrigen zu tun: Chine­si­sches Kino im Stil von Taran­tinos Inglou­rious Basterds, also recht frei, mehr Wunsch­phan­tasie als histo­risch korrekt, aber überaus kurz­weilig. So ist dieser Film vor allem eine Visi­ten­karte einer Kino­re­gion, die mehr und mehr aus dem Schatten Holly­woods tritt. Auf andere Weise den Abschied von Hollywood zele­briert Tarantino-Kumpel und US-Mexikaner Robert Rodriguez. Auch Machete ist wildes Spek­ta­kel­kino, schnell und billig, das sich schon deshalb gut zum Eröff­nungs­abend eignete, weil man hier unter anderem Robert de Niro und Don Johnson wieder­be­gegnen konnte, sowie Jessica Alba und Michelle Rodriguez: Die kurz­wei­lige Story dreht sich um einen mexi­ka­ni­schen Regie­rungs­agenten im Kampf gegen Drogen­bosse und frem­den­feind­liche US-Popu­listen.

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Vor drei Jahren, hätte Abdel­latif Kechiche den Goldenen Löwen gewinnen müssen. La graine et le mulet hieß der einfach nur bezau­bernde Film des Tunesien-Franzosen, der – ähnlich wie Todd Haynes kaum schlech­terer, aber gänzlich anderer I’m Not There – mit zwei weniger bedeu­tenden Preisen von einer offen­sicht­lich gespal­teten Jury unter Zhang Yimou unter ferner liefen abge­speist wurde, während Ang Lee für Lust, Caution seinen zweiten Goldenen Löwen bekam. Kechiche musste sich mit einem knappen Dutzend Cesars trösten.

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Gemessen an diesem Meis­ter­werk ist der neue Film von Kechiche eine Riesen­ent­täu­schung. Venus noire ist eine lange, lang­at­mige, zähe und reichlich unsinn­liche Ange­le­gen­heit. Ein Film wie eine schlechte Univer­si­täts­vor­le­sung. Und tatsäch­lich bekommt man in einer Art strenger unaus­ge­spro­chener Kapi­tel­an­ord­nung mehrere Vorträge und Abhand­lungen serviert. Bereits in der ersten Szene lauscht man dem vier­telstün­digen Vortrag eines Wissen­schaft­lers im 19. Jahr­hun­dert über Schä­del­formen und Scham­lippen von Hotten­totten mit dem Ergebnis, diese Menschen stünden dem Affen näher, als dem Europäer.

Dies alles entpuppt sich als Rahmen für einen histo­ri­schen Rückblick innerhalb des Histo­ri­en­films: 1810, London: Eine Jahr­markt­schau­steller-Show mit einer »Hottentot Venus«. Auch wieder eine gute Vier­tel­stunde lang exerziert der Film den Exotismus des frühen 19. Jahr­hun­derts und die qualvolle Demü­ti­gung der mitt­zwan­zig­jäh­rigen Frau aus Afrika. Preaching to the converted. Man weiß das alles und fragt sich, wozu man es sehen muss, was sich erfahren ließe. Viel­leicht geht es aber ums Durch­leben, könnte man einwenden. Nur dann sollte Kechiche besser den Rassismus nicht dadurch anklagen, dass er die briti­schen prole­ta­ri­schen Zuschauer, die sich über die vermeint­liche »Wilde« mit einer Mischung aus Angst und Lust amüsieren, und »mal anfassen« wollen, nicht umgekehrt als krei­schende, feixende Masse insze­niert, als »weiße Affen«. Aber auch umge­kehrter Rassismus ist hier nicht der zentrale Punkt, sondern die Todsünde, zu lang­weilen.

Nach einer guten halben Stunde hat der Film immer noch nicht sein Thema gefunden, wir begleiten die Hotten­totten-Dame durch ihr gar nicht so mise­ra­bles Leben in einem Kostüm­schinken-London, sollen Mitleid mit ihr haben und zugleich an uns selbst erfahren, wie wir auch als Wohl­mei­nende dem rassis­ti­schen Voyeurs-Blick immer wieder verfallen. Nach einer Stunde sagt die Venus : »I not longer want the cage.« Ach was? Das ahnten wir bereits nach 20 Minuten. Dabei guckt die Dame immer mit dem gleichen Gesichts­aus­druck überaus muffelig, was man natürlich ihrer mise­ra­blem Lage zuschreiben muss, was im Film aber auch ein Suhlen in Misera­bi­lität ist, wie man es sonst eher von Mike Leigh erwartet.

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Der Regisseur will ganz offen­sicht­lich mit seinem Publikum wie in der fran­zö­si­schen Grammatik-Stunde alle Lektionen Punkt für Punkt durch­gehen. Darum gibt es als nächstes einen Gerichts­prozeß, wo alles gleich doppelt gesagt wird: Erst auf Englisch, dann auf Afrikaans. Da wird einem dann auch irgend­wann die Medi­en­theorie des Films mitge­lie­fert: Immer wieder, heißt es, nähmen die Zuschauer – im Film sind die im Jahrmarkt gemeint, aber indirekt natürlich auch wir im Kino – die Abbildung und Wahr­neh­mung für die Wirk­lich­keit, »they take repre­sen­ta­tion for reality.« Kechiche hat sich offen­kundig zum Ziel gesetzt, unsere Kate­go­rien und Sicher­heiten dagegen ein für alle mal zu erschüt­tern – ein nobles Anliegen. Nur wüsste man gern auch, wovon denn Kechiche selbst bei diesem Thema erschüt­tert wurde. Wenn man mit ihm in einem Boot sitzt, lässt man sich noch manches gefallen. So aber...

Das Problem dieses Lehrstück über Rassismus ist also, dass der Regisseur sich selber offen­sicht­lich als Lehrer sieht, und selbst keinerlei Fragen mehr an sein Thema hat, nirgendwo eine Über­ra­schung oder Erfahrung, ein eigenes Suchen erkennbar ist. Statt­dessen wird man Zeuge, wie eine Frau langatmig und öde zum Objekt von allen wird, und am Ende in einem Bordell landet und dann als präpa­rierte Leiche zum Ausstel­lungs­stück der Academie Francaise wird. Vermut­lich ist das sehr wissen­schafts­kri­tisch gemeint, und soll uns sagen, dass Wissen­schaft noch böser ist, als Jahr­marktsaus­beuter. Dabei fällt unter den Tisch, dass die Wissen­schaftler aus ihrer Sicht genauso recht hatten, wie das Schau­stel­ler­pu­blikum.

Vor allem aber fällt unter den Tisch, dass Kechiche selbst mit der Frau gerade durch den natu­ra­lis­ti­schen Darstel­lungs­stil seines Films, durch den Posi­ti­vismus seines Glaubens an die wissen­schafts­kri­ti­sche Wissen­schaft, genauso verfährt, wie seine Film-Schurken, und in seine eigene Falle geht. Und ist es nicht in so einem Film auch frag­würdig, die Hotten­totten-Frau durch eine Kubanerin, durch Yahima Torrès spielen zu lassen?
Vermut­lich erfährt Kechiche eine Menge Rassismus. Aber ist das eine Entschul­di­gung, um einen schlechten Film zu machen?

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Da ist 13 Assassins (Jûsan-nin no shikaku) von Miike Takashi doch ein ganz anderes filmi­sches Kaliber. Auch dies ein Kostüm­film, auch dies exotis­tisch auf seine Art. Aber zugleich hellwach, das Gegenteil von Kechiches Satu­riert­heit.

Ein Samurai-Film, kühl und pur, auf seine Essenz reduziert: essential killing. Das Remake des gleich­na­migen Klas­si­kers von Eichi Kudo von 1963. Aber eben kein »Miike-Film«, fast völlig ohne die Miikismen origi­nellst­mög­li­cher Kino­bru­ta­lität. Mehr wirkt alles wie eine Kurosawa-Hommage, so ruhig und gradlinig und in sich ruhend. Es geht um eine Art Caligula unter den Warlords der Shogun-Ära: Lord Naritsugu Matsu­d­aira ist wie die Hotten­totten-Venus zur gleichen Zeit eine histo­ri­sche Gestalt, die hier aller­dings deutlich abge­wan­delt wurde – »man müsste einmal für das Samurai-Kino so ein Buch schreiben, wie es Joe Hembus einst für den Western schrieb«, meint Freund und Kollege Josef Schnelle dazu, »ein Buch, in dem die wahren Geschichten der Western-Helden zu finden sind.«

Der Böse Naritsugu ist ein Schlächter, zugleich ein Dekadent, der sich spüren möchte, und vor dem Showdown Sätze formu­liert wie »What fun! I am going in.« Zuvor schlachtet er herzlos seine Mitmen­schen ab, oft wohl nur, um zu sehen, wie weit er gehen kann. So bekommt dann der Samurai Shinz­aemon Shimada den inof­fi­zi­ellen Auftrag den Lord zu besei­tigen. Eine Mission Impos­sible, zu der ihm nur 12 weitere Kämpfer zur Verfügung stehen.

Wie es sich gehört, meint er trotzdem »How fate smiles on me.« denn »A samurai’s life isn’t measured in length, isn’t it?« Überhaupt ist das ein Film der Coolness, des konse­quenten Einschla­gens eines Wegs bis zum Ende, des Deter­mi­nismus. Ohne post­mo­derne Ironien, aber humorvoll und selbst­gewiß.

Zugleich erlaubt sich Miike allen Klas­si­zismen zum Trotz die Zers­törung des schönen Bildes vom japa­ni­schen 19. Jahr­hun­dert, das viele ähnliche Filme malen. Er zeigt Depres­sion und Melan­cholie einer traurigen Welt ohne Glamour. Auch falsche Vorstel­lungen von Ehre werden zerstört: »There is no samurai code for mercy in battle.« heißt es. Statt­dessen harte Jungs, die tun, was getan werden muss: »Lose your life, but let the enemy pay.« Ein Western eben.

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Eine Weile wirkt dann alles wie eine Variante der Sieben Samurai, wenn die 13 Kämpfer ihre Feinde an einen bestimmten Ort locken und dort stellen, die Räume verengen, wenn sie dann die 200 Gegner durch diverse kluge Fallen, clevere Tricks und bizarre (histo­ri­sche) Tötungs­me­thoden – zum Beispiel ein paar Büffel, die mit einem Feuer auf ihrem Rücken rasend gemacht werden – auf 130 redu­zieren, um dann, wenn aus ihrer Sicht eine Kampflage herge­stellt wurde, die fair ist, kühl zu konsta­tieren: »No more tricks«.

»Kill! Kill them all!« ruft Shinz­aemon, und holt das Schrift­s­tück hervor, das eine von Naritsugu verkrüp­pelte Frau mit dem Mund schrieb und dem Lord als Urteil präsen­tiert wird: »Total massacre!« Wie in einer Jazz-Combo bekommt nun jeder sein Solo, seinen Auftritt, seinen Tod. Wie bei Kurosawa und dem klas­si­schen Samurai-Film gibt es keine absurden feuer­wehr­schlauch­di­cken Blut­fon­tänen. Dafür kurze klare Hiebe, zack zack, und weiter. Miike arbeitet sehr gut mit Suspense. Am Ende wird die Todes­sehn­sucht des Lords befrie­digt: »Am I dying? What pain...« – »My Lord prepare yourself.« – »So death comes for us all. Allow me to tell you: of all days of my life, this has been the most exciting.« – »You're welcome.«
Der Kollege von Variety erfand dafür das schöne Wort »slash­tastic«, das wir hier nur zitieren können.

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In Japan wird der Film übrigens in einer knapp 45-Minuten längeren Version gezeigt. Es wäre bei seiner Reinheit und der Perfek­tion, mit der 13 Assassins genau das ist, was er sein will, keine Über­ra­schung, wenn er hier am Ende einen der Preise bekommen würde.

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In Venedig war am Abschlußtag nach all dem schlechten Wetter alles heiß und strahlend blau. In den Gärten mäht man den Rasen, noch einmal vor dem Winter. Die letzten Tage des Sommers haben begonnen. Der Herbst wird nicht besser sein.