64. Filmfestspiele Cannes 2011
Liebe, Hass und Große Gefühle |
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Bewegung, Überraschung, pures Gefühl: Drive von Nicolas Winding Refn | ||
(Foto: Leonine Distribution GmbH) |
In punkto Qualität war das diesjährige Festival von Cannes, das vor zehn Tagen mit der Goldenen Palme für Terrence Malick und seinen The Tree of Life zu Ende ging, ein schlechthin großartiger Jahrgang: Die offizielle Selektion allein bot ein Spitzenprogramm. Da musste man gar nicht erst in die Parallelsektionen der Semaine (auch super) und der Quinzaine (eher gar nicht super, aber mit ein paar Ausnahmen) ausweichen.
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Die zwei für mich ganz subjektiv allerbesten, allerschönsten Filme des diesjährigen Festivals liefen beide am gleichen Tag, dem zweiten Donnerstag, als das Festival bereits in die Zielgerade einbog: The Yellow Sea (aka The Murderer) vom Koreaner Na Hong-jin in der Reihe Un Certain Regard und im Wettbewerb der dänische Film Drive von Nicolas Winding Refn, den man von den Pusher-Filmen her kennt, und vielleicht noch mehr von dem großartigen Valhalla Rising. Zwei nahezu perfekte Filme, weil sie das, was sie sein wollen, auf höchstem Niveau auch sind. Von den beiden ist The Yellow Sea noch ein bisschen besser, weil tiefer, vielfältiger, aber beide sind Kino at its best: Bewegung, Überraschung, pures Gefühl, eine ernsthafte Auseinandersetzung mit tieferen Fragen der menschlichen Existenz. Und beides sind Filme, in denen Auto eine ziemliche Rolle spielen und Messer. Denn dieser schönste Tag in diesem Jahr in Cannes, war auch der Tag der Autos und der Tag der Messer. Aber der Reihe nach...
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Erste Szene: in Blick aus einem Hochhauszimmer über eine Stadt bei Nacht. Los Angeles unverkennbar; man sieht ein Zimmer, eine Straßenkarte, im Fernsehen läuft ein Basketballspiel, L.A. gegen New York, und dies, auch das es sich um ein ein Ostküstenteam handelt, wird noch von Bedeutung sein. Es ist gerade Halbzeit. Ein Mann, nicht genau erkennbar, aber eher jünger, ist am Telefon, er erklärt, er sei nur der Fahrer, er trage keine Pistole, er garantiere, dass man in fünf Minuten das Ziel erreiche, nicht länger, dann »seid ihr auf euch gestellt«, »on your own«.
Der erste Schnitt, die zweite Szene zeigt den jungen Mann in einer Autowerkstatt, ein alter Mann, offenkundig sein Boss, übergibt ihm ein Auto, es ist ein silbergrauer Sportwagen aus den 80ern. Schnitt.
Dritte Szene: Der Wagen steht vor dem Gebäude, in das eingebrochen wird. Der Fahrer, unser Held, soviel ist schon klar sitzt am Lenkrad, er trägt Lederhandschuhe, ein Zahnstocher steckt im Mund. Seine Lippen sind geschlossen, er atmet offenbar ruhig, scheint leicht zu lächeln. Im Hintergrund sieht man die Einbrecher zuerst ein äußeres Gitter knacken, dann eine Tür einbrechen. Der Fahrer nimmt seine Armbanduhr, macht sie am Lenkrad fest, stellt fünf Minuten ein. Aus dem Off hört man wieder das Basketballspiel. Es geht in seine letzten Minuten. Lauter als dies noch hört man den Polizeifunk: »An alle Einheiten. Einbruch in der...« Er stellt das Funkgerät neben das Lenkrad. Einer der Einbrecher kommt zurück, schwer beladen. Der andere lässt auf sich warten. Der erste Einbrecher ist nervös, redet mit sich selbst: »Come on, man.« Unser Held bleibt cool. Gespannte Ruhe. Der zweite Mann ist dann endlich auch im Auto. Tür zu. Aus dem Funk kommt: »In zwei Minuten sind wir da.« Der Fahrer fährt los, durch die Frontscheibe sieht man 50 Meter weiter hinten einen Polizeiwagen langsam ankommen. Der Fahrer parkt den Wagen schnell auf der rechten Straßenseite, Lichter aus. Der Polizeiwagen fährt weiter. Im Funk ist zu hören: »All clear.«
Der Wagen fährt wieder los, eine Weile ganz normal über die Straße, auf eine Schnellstraße, über eine Brücke. Das Basketballspiel geht im Radio in seine letzten Minuten. Plötzlich taucht der Kegel eines Hubschrauberscheinwerfers auf, er erfasst den Wagen. Im Polizeifunk die Bestätigung. Der Fahrer gibt Gas, rast über die Brücke. Im Funk das Kommando, das alle Einheiten in diese Richtung befördert. Der Wagen rast weiter, das Licht des Scheinwerfers klebt an ihm. Hinter der Brücke macht der Wagen plötzlich eine scharfe 90-Grad-Linkskurve. Der Scheinwerfer verliert ihn, sucht ihn, kreist haarscharf am immer noch überaus schnell durch die enge Seitenstraße fahrenden, auf dem schlechten Belag hin- und hergeschüttelten Wagen vorbei. Die Gefahr ist immer noch unmittelbar. Dann hält der Wagen nach einer neuen unvermittelten Drehung unter einer Brücke, die den Scheinwerferblick verstellt. In Funk hört man gleich darauf die Meldung einer »Schießerei in der So-und-so-Straße, alle Einheiten dahin...« Der Hubschrauber zieht ab.
Der Wagen setzt sich wieder in Bewegung, fährt flüssig im Verkehr mit. An einer Straßenkreuzung schaltet die Ampel auf Rot. Der Wagen hält. Auf der entgegenkommenden Fahrbahn kommt langsam ein Streifenwagen entgegen. Hält gleichfalls an der Ampel. Im Funk hört man, wie der Fahrer der Zentrale meldet: »Gegenüber an der Ampel hält ein Fahrzeug, auf das die Beschreibung passt.« Die Ampel schaltet auf Grün. Vollgas! Das erste Auto wird links überholt, dann das nächste rechts, kurz auf der Gegengeraden, im Rückspiegel ist zu sehen, dass der Polizeiwagen mit Blaulicht die Verfolgung aufgenommen hat. Aber der Fluchtwagen rast schneller durch den nächtlichen Straßenverkehr von Downtown L.A. Im Radio: »Noch wenige Sekunden, dann hat L.A. den Sieg. … drei … zwei … eins … Sieg!!!« Plötzlich scharf rechts, in den Eingang eines Parkhauses hinein. Der Wagen rollt aus, seine Insassen verlassen ihn, mischen sich unter die aufbrechenden Basketballfans. Der Fahrer zieht eine Kape auf und die Jacke aus, darunter wird ein blaues Fanshirt des LA-Teams sichtbar, und ruhig schlendert er direkt an den Polizeiwagen vorbei, die gerade ins Parkhaus einbiegen…
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Vierte Szene: Flugbilder über ein nächtliches, in intensiven Neon-Farben getauchtes LA. Die Titel sind Pink. Erinnerungen an Gaspar Noes Enter the Void. An Michael Manns frühe Filme. An Miami Vice. Der Titel-Song läuft: »There’s something inside you/ you cannot explain/ the people look at you/ as you were still the same.« Man sieht den Fahrer wieder fahren. Blicke. Im Parkhaus. Er trägt eine helle (eigentlich heute unmögliche) Jacke im Retro-Design, innen schwarzes Leder, außen Gold-Beige, darauf eingestickt am Rücken ein großer goldgelber Skorpion. Im Parkhaus sieht man eine junge Frau, aus einem Aufzug gehen, gespielt von Carey Mulligan, mit blonden, eher kurzen Haaren. Da sieht man sie zum ersten Mal.
Die vier Szenen zusammen sind ein perfekter Auftakt. Eine Übung in Coolness, in Stil, in Ökonomie. In Nostalgie für die 80er Jahre. Genaues Handwerk; von Seiten des Fahrers wie seines Regisseurs. Man würde sich auf diesen Fahrer unbedingt verlassen.
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Hard-Boiled-Wonderland. Der Fahrer wird bis Ende des Films keinen Namen tragen. Er nennt sich nur Driver. Eine Kinofigur voller Aura und Geheimnis. Ein Samurai, und er wird das mehr und mehr bis zum Ende, erinnert er an Delon bei Melville. Gespielt von Ryan Gosling, der ein Darsteller ist wie Christian Bale, kühl, glatt, gesichtslos, sehr amerikanisch in seiner Allerweltshaftigkeit. Er ist Stuntman und Automechaniker, der schönen Nachbarin namens Irene, antwortet er, als sie ihn fragt: »What do you do?« – »I drive«. Als er mit ihr redet, steckt er den Zahnstocher hinters Ohr. Sie hat ein Kind, ohne Mann dazu; bzw. kommt der Mann dann irgendwann doch, aus dem Gefängnis. Zuvor fallen schöne Sätze wie dieser: »I am not doing anything this weekend. If you want a ride or something...« Das Glück ist das des Autofahrens.
Ansonsten Jobs, und Menschen. Als Driver einem namens Bernie Rose vorgestellt wird (den Albert Brooks in einem überaus unerwarteten, wirklich oscarreifen Auftritt spielt), will er ihm erst nicht die Hand geben, nästelt an seinen Fahrer-Handschuhen rum: »My hands are dirty« – »Mine as well«. Dann geben sie sich die Hand.
So lakonisch, schnell, super straight, und materiell ist der ganze Film. Es gibt einen zweiten Überfall, bei dem der Driver nur beteiligt ist, weil er Irenes frischentlassenem Mann eine zweite Chance verschaffen will. Dieser Überfall geht schrecklich schief. Was der Driver dann tut, tut er völlig selbstlos. Innerlich kalt. Ein Samurai. Aber er fühlt für Irene. Ihr verschafft er ihr Recht auf Glück, auf Neuanfang.
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Der Film ist eine große 80er-Hommage und lebt ansonsten nicht von der im Prinzip kleinen, wenn auch feinen Story, sondern von Bildern. Etwa dem, in dem der Driver einen Zuhälter in einer Gogo-Bar zusammengeschlagen hat. Während der blutend auf dem Boden liegt, ruft er dessen Boss an. Vier fünf nackte Frauen sitzen völlig ungerührt, höchstens erstaunt drumherum. So ein Bild kennt höchstens von Abel Ferrara. Oder als Brooks einen alten Freund töten muss: ergibt ihm die Hand. Hält sie fest als er mit dem Skalpell dessen Arm aufschlitzt. »It’s done. There’s no pain. It’s over, it’s over...«
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Dabei hatte dieser zweite Donnerstag gar nicht so gut angefangen. Morgens hatte ich zum ersten Mal den 8.30 Uhr-Film knapp verpasst, einfach, weil der Almodóvar schon um viertel nach acht voll war, und ich etwas zu spät aus dem Haus gegangen war. Dafür habe ich dann flugs umentschieden, und mir in der Semaine den chinesischen Beitrag angeschaut: Sauna On Moon ist hübsch, aber nichts Besonderes, und vielleicht doch etwas abgestanden in seinen Klischees vom netten, ganz normalen Nuttendasein. Vergleicht man den mal mit The High Life von Zhao Dayong, der letztes Jahr hier abgelehnt wurde, kann man sich nur wundern. Denn der war um Klassen besser.
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Pech im Spiel. Oder eben mit The Yellow Sea. Der geht los mit einem Majong-Spiel. Schnell, hart schlägt das Schicksal zu. Eine kurze Hoffnung für den, den die Kamera begleitet, dann gewinnt der andere. Sein Gegner ruft aus: »Was für ein Glück ich habe.« Und Glück und Pech als Leitmotiv sind etabliert.
In vier Kapiteln erzählt der Film die Geschichte einer verlorenen Seele. Ein Südkoreaner in China. Er ist Cab-Driver, hat Schulden: 60.000 Yuan. Geldeintreiber suchen ihn auf, wecken ihn: »Go make some money«. Aber es wird nichts. Wieder Pech im Spiel, Schlägerei, Suff, Verzweiflung. Gu-Nam ist fertig. Und wir erleben die Geburt des Film Noir aus der Verzweiflung.
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Schön, geschmeidig wird erzählt, das Gu-Nam jemand anbietet, seine Schulden zu zahlen. »I am Myun. Lets go eat.« In der Suppenküche wird klar: Er soll einen in Korea umbringen. »Willst Du Dein Leben wie diese Hunde verbringen?« Er sagt zu, fährt auf einem illegalen Boot zurück. Schwache werden ins Meer gekippt. Er hat zehn Tage Zeit. Der Filmnimmt sich Zeit, uns zu zeigen, wie Gu-Nam den Tatort auskundschaftet. Das Verbrechen vorwegnimmt. Er imaginiert die Tat: Treppenhaus, Gitter, Fahrstuhl, sechster Stock, Lichtschranke. Dann ist es soweit. Doch plötzlich sind zwei andere Typen da, die das Opfer gleichfalls töten wollen, und alles gerät aus dem Ruder. Dann beginnt der zweite Film, eine irrwitzige Fluchtgeschichte, dann wird alles ein koreanischer Mafia-Thriller. Plastiksäcke, sind wichtig, Menschen werden zu Paketen. Lakonisch, rasant. Der beste Mafia-Film, den man seit langer Zeit gesehen hat. Auch hier zahlreiche Autoverfolgungsjagdten, Whow-Momente! Ausschöpfen können wir diesen facettenreichen, klugen Film jetzt nicht. Nur darauf hinweisen, dass dies der beste Film des Festivals war, und keiner versteht, warum er nicht auch im Wettbewerb lief.
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Wer nicht hassen kann, kann auch nicht lieben. Es ist gar nicht anders zu sagen: So wie jeder auf so einem Festival seine Lieblingsfilme hat – in meinem Fall wie gerade gesagt Nicolas Winding Refns Drive, The Yellow Sea von Na Hong-jin und Terrence Malicks The Tree of Life –, so hat jeder auch seine Hassfilme. Das sind bei mir in der Regel jene Werke, die ich als Soz-Päd-Kino empfinde, Filme, die ihr Publikum sozialpädagogisch betreuen wollen, und sich dafür ebenso vergnüglich grunzend in Hässlichkeiten suhlen, wie eine Wildsau in der Schlammgrube. Oder die sich als Wohlfühlkino verkleiden, also jeden Preis, vor allem jeden künstlerischen, dafür zu zahlen bereit sind, alle Zuschauer, und zwar noch den allerletzten, mit einem guten Gefühl nach Hause zu schicken. Als ob es immer aufs gute Gefühl ankäme. Am schlimmsten sind natürlich dann jene Filme, die beides irgendwie verbinden. Mein persönlicher Hassfilm ist daher in diesem Jahr Aki Kaurismäkis Le Havre, gefolgt von Paolo Sorrentinos This Must Be the Place. Zweimal mittelklassiger, lahmer Arthouse-Mainstream in selten zu findender Perfektion. Und das einzig positive, was ich über diese Filme sagen kann, ist: Sie wecken eine gewisse, wenn auch perverse, Leidenschaft. Daher gönne ich mir im Folgenden eine kleine Erleichterung.
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Man hatte es ja fürchten müssen. Irgendwann am letzten Festival-Sonntag breitete sich ein Gerücht aus unter den professionellen Beobachtern in Cannes: Man habe Aki Kaurismäki zurückgeholt zum Festival – das deute ja wohl eindeutig darauf hin, dass der Finne am Abend einen Preis erhalten werde. Andere wussten zu erzählen, Kaurismäkis Produzenten liefen »schon strahlend durch die Stadt.« Whatever that means.
Viel hatte schon in den letzten Tagen dafür gesprochen: Großer Applaus für den Film. Einhellig waren diejenigen Kritikerkollegen, mit denen ich mich befreundet fühle in ihrem positiven Urteil, nur die Intensität variierte. Es also diesmal nicht nur jener sehr erfahrene Kollege, der glaube ich jeden Kaurismäki-Film aus Prinzip toll findet, der ihn mochte. Und auch die anderen, weniger befreundeten (was ja auch ein bisschen was mit Geschmack zu tun haben kann), waren äußerst angetan. Komisch. Denn als ich dann in Kaurismäki ging, in einer Nachholvorführung, weil ich am Morgen der Pressevorführung etwas anderes tun musste, sah ich einen schlechten, ungemein langweiligen Film.
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Der Terror der Cuteness. Was sieht man? Schön gefilmte, häßliche Menschen, mit »originellen«, also zerfurchten, faltigen Gesichtern. Lakonisch-stur sind die Gesichter und Gesten. Marcel Marx ist Schuhputzer, aber alle haben heute Turnschuhe an. Böse böse Moderne, früher war alles besser. Nur einer hat schwarze Schuhe, lässt sie putzen, er hat auch deinen Koffer und Handschellen, an denen der befestigt ist. Dann kommen andere zerfurchte Trenchcoatträger und der Kunde ist tot. Auch diesen Tod nimmt Marcel ungerührt hin. Im Folgenden taucht der Film erst einmal ein ins Glück der kleinen Leute. Marcel kann zwar nicht beim Bäcker und Gemüsehändler zahlen, aber er bringt alles Geld nach Hause, bekommt dafür von seiner Frau Arletty ein Lächeln und 5 Euro für einen Aperitif, den Rest des wenigen Geldes verstaut sie feinsäuberlich in einer Blechschale.
Ganz süüüüüß diese zerknüllten 5-Euro-Scheine. Und ganz süüüüüß diese Frau, wie sie ihre Not doch vor dem geliebten Mann verbirgt. Diese cuteness hier ist das Schlimmste. Zu der gehört natürlich auch das Spiel mit den Namen: Marx, klar. Arletty, aha, genau, der Zaunpfahl-Verweis also auf das Kino von Marcel Carné. Der liegt immerhin nahe, denn Carnés Filme – zum Beispiel Hassfilme für einen wie Truffaut – muss auch nicht jeder mögen. Auch sie triefen von genau der gleichen Niedlichkeit.
Dann sieht man Arletty Zwiebeln schneiden, und trotzdem nicht weinen, und dann den Kopf auf ihre recht hässlichen Hände stützen. Recht öde, schon hier. Derweil trinkt Marcel seinen Aperitif gemeinsam mit Hund Laika in einer Bar namens »La Moderne«.
Kaurismäkis Bilder sind meist statisch, allenfalls kleine Schwenks kommen vor. Kein Zoom. Halbtotalen. Viel Schuß-Gegenschuß. Die Welt ist eine gekünstelte Nostalgiewelt. mit Hollywood-Licht, Musik aus den 50ern, Telefonen aus Roy-Andersson-Filmen. Nur die Busse sind neu. Aber Computer und Handys gibt es nicht. Die Story entwickelt sich dann über arme Flüchtlinge in einem Container. Schwarzafrikaner, deren Gesichter als Portraits aneinandergereiht werden, wieder in Halbtotalen: Menschen, die aus traurigen braunen Knopfaugen traurig gucken. Kitsch-Musik dazu aus dem Off.
Derweil ist Arletty im Krankenhaus. Es sieht nicht gut aus. »So there is no hope.« sagt sie. Der Arzt: »miracles happen.« Sie: »not in my quarter.« Da lacht die Kritikerschar. Kati Outinen spricht ein überaus holprigres Französisch. Aber sie ist ja auch Finnin. Ich kämpfe mit dem Schlaf. Ein schwarzer Junge flieht, er heißt Idrissa, kommt bei Marcel unter, der ihn dann fragt »Quo vadis Idissa?« Jetzt sind alle nett, und Marcel bekommt viel zu essen, obwohl er nicht zahlen kann. Sie sind alle so herzensgut und bieten ihr Geld an.
Es wird immer langweiliger. Immer diese glotzenden Gesichter, diese herumstehenden Körper. Dann Folklore, Ethno-Musik aus dem Transistorradio. Ein Flüchtlingslager. Dann wieder Glotzen, Herumstehen. Bedeutungsschwanger wird ein Kafka-Buch in die Kamera gehalten, ein paar Sekunden zu lang, um nicht unbemerkt zu bleiben. Man hält es nicht aus.
Der ganze Film ist wie naive Malerei. Die Menschen lächeln nicht. Das ist wohl die angebliche Schönheit der armen Leute. Tristesse-Schmierentheater. Natürlich geschehen am Schluss Wunder: Der Polizist ist nett. Idrissa kommt nach London. Arletty stirbt nicht. Das kleine Kino der großen Wunder.
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Kaurismäki ist von den ganzen Regisseuren der bekannten Cannes-Familie, jenen mit Wettbewerbs-Abo, der einzige, der nichts, aber auch gar nichts riskiert. Der einfach immer das Gleiche macht. Das hat mit Kino nicht viel zu tun, es ist Kunsthandwerk der Betroffenheit, Niedlichkeitsschmonzette. Arthouse-Mainstream, der gerade dem richtigen Kino in allen Ländern die Luft abschnürt. Kaurismäki sehen wir dauernd, aber welchem anderen finnischen Regisseur wären wir in den letzten Jahren schon in Cannes oder Berlin oder Venedig begegnet? Warum nicht? Weil die anderen so schlecht sind, und Kaurismäki so gut, oder weil Kaurismäki schlicht und einfach die Gelder blockiert und die Plätze in solchen Festivals. Dafür dürfte man dann doch etwas mehr erwarten?
Aber man weiß schon jetzt, was alles wieder geschrieben werden wird über diesen Film. Wie menschlich er ist, und wie schön, wie rührend und wie positiv in seiner Aussage. Und man wird gewiss sein, dass der Autor dieser Zeilen ein schlechter Mensch sein muss, dass der sich all dem verweigert, oder schlimmer noch, dass er all das nur schreibt, um sich wichtig zu machen. Auch das ist schön daran, dass Kaurismäki keinen Preis gewonnen hat – das diese Unterstellung jetzt etwas weniger zieht.
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Old Boys Club. Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt, dass mein persönlicher Hassmograph auch ein ganz guter Detektor für die Vorhersage der FIPRESCI-Preise ist, jedenfalls auf großen Festivals, auf denen die FIPRESCI, die internationale Kritikerorganisation die Jurys zumeist mit über 60-Jährigen, vor allem Männern, besetzt. Da kommt dann, das zeigt die Erfahrung, selten Gutes bei heraus, und ein Verband, der sich selbst auf die Fahnen geschrieben hat, Entdeckungen zu machen, mutige, gewagte Filme auszuzeichnen, wirkt dann seltsam erstarrt, wie Stalinismus in der Endphase – und gibt einem Regisseur einen Preis, der bereits 17 Spielfilme gedreht hat – und zudem dem einzigen unter all den bekannten Regissseuren, der nichts Neues versucht, sondern einfach das macht, was er immer schon gemacht hat. Man würde daher gerne die Begründung für diesen Preis lesen, aber die Begründungen hat die FIPRESCI leider schon vor Jahren abgeschafft.
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»Ich mache Filme über Loser.« Am Abend erzählte Sara Brito aus Madrid (die den Film mag, obwohl wir sonst bei fast jedem Film einer Meinung sind), was sie vorhin erlebt hatte: Mit ihrem Kollegen Alex war sie essen – »in der ohne Frage besten Bar in Cannes, einer echten Kaurismäki-Bar«, wie Sara mit spanischer Passión hinzufügte –, da saß am Nebentisch plötzlich Kaurismäki. Er war also da. Ganz normal angezogen, mit knallrotem Kopf, weil er schon seine übliche Ration Alkohol intus hatte, und trank eine Flasche Schnaps leer. Ok, offenbar wollte er sich noch umziehen, und dann auf der Bühne anständig vollgetankt stehen. Sara schickte Alex hin, er sollte ihm ein paar Fragen stellen. Kaurismäki hatte verständlicherweise wenig Lust, antwortete trotzdem: Ein paar technische Dinge, dann übrigens: »Ich mache keine Filme über arme Leute. ich mache Filme über Loser. Denn ich bin selbst ein Loser.« Tolles Zitat, oder? Erst ein paar Stunden später dämmerte es uns, dass der Finne, der eben sympathischer ist, als seine Filme, damit auch gleich noch den Schlüssel zur Preisverleihung gegeben hatte. Auch da war er nämlich ein Loser.
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Wer bei Screendaily führt, der stets verliert. Am Ende war dann ja die Jury mal ausnahmsweise klüger, als die Kritiker, und tat das einzige richtige: Sie gab Kaurismäki gar nichts. Und ganz umsonst waren all die vorgenannten Gedanken und Erwägungen, wer denn wohl den Preis gewinnen werde... Immerhin hat sich eine andere sehr stabile Cannes-Regel wieder einmal bewahrheitet. das fast schon eherne Gesetz: Wer den Kritikerspiegel des Festival-Dailys der Zeitschrift »Screen« anführt – in diesem Jahr Le Havre –, gewinnt nichts, jedenfalls keine Goldene Palme. Gut, wenn man sich wenigsten auf etwas verlassen kann.
Die Kritiker, die da ihre Wertungen abgeben, sind zum Teil auch zwischen 60 und 80, und zumindest einer von ihnen sitzt dann auch in der FIPRESCI-Jury. Der einzige von ihnen, der als Autor wirklich interessant ist, ist Nick James von Sight & Sound. seine Wertungen allerdings kann ich auch seltenst nachvollziehen. Aus Deutschland sitzt dort Jan Schulz-Ojala vom Westberliner Tagesspiegel.
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Geschmacklos. Eher ein Fall von Shoa-Exploitation war dagegen This Must Be the Place das erschütternd miserable Werk vom Italiener Paolo Sorrentino im Wettbewerb. Sean Penn spielt dort so langsam und schleppend einen Ex-Rockstar namens Chayenne, der irgendwie im Kinderstadium hängengeblieben ist, oder 20 Jahre Drogenmissbrauch hinter sich hat. Erwachsen wird die traurige Gestalt erst, als in New York sein alter Vater stirbt, einst jüdischer KZ-Insasse. Zeitlebens hatte er versucht, jenen SS-Schergen zu finden, der ihn einst in einem polnischen Lager gequält hatte. Erschüttert macht sich Cheyenne auf den Weg, um diesen Plan mithilfe des berühmten Nazujägers Mordechai Midler zu erfüllen. Das gelingt zwar schließlich – doch Mord, KZ-Opfer und Nazijagd sind hier nur Mittel, um die Hauptfigur erwachsen werden zu lassen und einem Film irgendeine Bedeutung anzuschminken, der erschreckend nichtssagend ist, und miserabel inszeniert, ohne Rhythmus und Ökonomie, und daher ganz zu recht keinen Preis erhielt, außer dem der notorischen Betroffenheitsfraktion von der ökumenischen Jury.
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Liebe, Hass und Reflexion. Aber darf man sowas überhaupt sagen? Liebe und Hass... Man könnte natürlich einwenden, Filmkritik habe dochmehr mit Reflektion und weniger mit Hassen oder Lieben zu tun, und es seien nur Filmfestivals, die diese starken Reaktionen ganz besonders wecken.
Und das stimmt ja auch: Filmkritik hat mit Reflexion ganz viel zu tun. Aber eben doch auch genauso viel mit Gefühlen – deren Extremform die Worte »Liebe« und »Hass« eher symbolisch markieren, denn exakt bezeichnen. Ich hätte auch von Zu/Abneigung sprechen können, aber jeder hier weiß ja, was gemeint ist.
Im Übrigen scheint mir, man sollte beides nicht allzu scharf trennen, denn Gefühle sind sehr wohl auch eine Form der Reflexion – dass ich trotzdem gern im Zweifel auf Vernunft und Argumente vertraue, und dass Gefühle das Denken nicht ersetzen, im Gegenteil es erst auslösen, dass also hier nicht dem Irrationalismus das Wort geredet werden soll, ist geschenkt.