Die Filmfest-Fünfzehn |
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Zielt direkt ins Unterbewusste: Holy Motors von Leo Carax |
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(Foto: Arsenal Filmverleih GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Strutter
Brett stürmt wutentbrannt in den Plattenladen seines ehemaligen Idols Damon. Eben hat er erfahren, dass seine Ex-Freundin Justine jetzt mit Damon zusammen ist. Brett Fäuste sind kampfbereit geballt.
Ein paar Minuten später verlässt er das Geschäft mit einer im Grunde für ihn unerschwinglichen türkischen Progrock-Platte für 150 Dollar.
Noch indier geht’s kaum: Der durch Crowdfunding ermöglichte Film der American Independent-Größen
Alison Anders & Kurt Voss ist ein wunderbares Werk über Verlassenwerden, Loslassen und Musik.
(Edelmann & Willmann)
Holy Motors
Ein Kinosaal voller bewegungsloser Menschen mit geschlossenen Augen: Aber nicht einfach Schlafende, nein – Träumende!
Viel mehr als dieses Anfangsbild könnte und sollte man von Holy Motors eh nicht beschreiben. Leos Carax (Les amants du Pont-Neuf) hat hier ein Teil hingeklotzt, das wie kaum ein anderer Film direkt aus dem Unterbewusstsein ins Unterbewusstsein geht. Denis Lavant spielt sich durch eine bizarre Reihe von offensichtlichen Fiktionen (und Genres), die einem beim Zuschauen dennoch so wahr werden wie intensive Träume.
Holy FUCKING Motors!
(Edelmann & Willmann)
The Deep Blue Sea
»Passion«, Leidenschaft, lehnt sie rundweg ab. Als ihre Schwiegertochter Hester (Rachel Weisz) nachfragt, was die alte Dame denn statt dessen dulde, antwortet sie: »Guarded enthusiasm.« (Gezügelter Enthusiasmus.)
Für die »Greatest Generation« hat sich nach dem Krieg der Überlebenskampf von außen nach innen verlagert. Das antrainierte Zurückstellen der
eigenen Bedürfnisse schlägt um in Repression. Hester zerreibt sich zwischen einem Ehemann, der sie fürsorglich liebt, und einem Liebhaber, nach dem sie sich verzehrt. Terence Davies malt das England um 1950 in dunklen, weichen Tönen – unter deren beherrschter Oberfläche schmerzhafte Bitterkeit schwärt.
(Edelmann & Willmann)
L’ultimo terrestre
Luca lässt sich noch einmal den Weg beschreiben. Vorbei an der penetrant glücklichen Familie auf der riesigen Werbetafel. Hinein ins nächtlich leerstehende Möbelhaus. Wo er von einer älteren Hure mit starrer 60er-Jahre Coiffure empfangen wird. Ausgestellt ist Betten-Bandbreite, nach Luxus und Preis gestaffelt, die dem Kunden je nach Status zugewiesen werden. Für Luca reicht es nur zum Modell »Kellner«.
Die Welt von L’ultimo terrestre ist wie eine leicht traumverschobene Version der uns vertrauten. Fremd genug, dass es nicht verwundert, dass die Ankunft von Außerirdischen hier nur als Randerscheinung wahrgenommen wird. Die Frage, ob die Menschheit im Universum alleine ist, ist für diese Menschen zweitrangig im Vergleich mit der persönlichen Einsamkeit. Das Regiedebut des italienischen Comic-Künstlers Gipi (Gianni Alfonso Pacinotti) ist eine willkommen
eigenwillige, zwischen Hoffnung und Härte vermittelnde Parabel mit Anklängen ans Goldene Zeitalter der SF, als Aliens unserem Dasein noch den wertenden Spiegel vorhielten – quasi ein »Sei fei«-Film.
(Edelmann & Willmann)
Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel
»Die hab ich gestern Nacht noch gehäkelt.« Der Regisseur Lehmann (Robert Gwisdek) drückt den zwei ihm noch verbliebenen Schauspielern Stirnbänder in die Hand. Sie sollen dem Träger für das große Schlachtenfinale die Kraft von zehn Männern verleihen. Die Darsteller nehmen die Geheimwaffe mit amüsierter Resignation in Empfang. Was
eigentlich ein großes Historien-Epos hätte werden sollen, ist nach Verlust von Finanzierung und Crew ein No-Budget-Unterfangen geworden, das nur noch von Lehmanns monomanischer Begeisterung am Leben gehalten wird. Doch siehe da: Der Zauber funktioniert. Beim Durchzählen hört man tatsächlich die Stimmen von 30 kampfbereiten Männern.
Fiktion verlangt einen Grad an Wahnsinn, an Bereitschaft zur bedingungslosen Selbstauslieferung. Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel ist nicht nur eine charmante Satire auf Filmgeschäft und Kleinstadtsoziotop mit stimmig gezeichneten Charakteren. Sondern ebenso ein Plädoyer für Kino als Illusion, für kindliches Fantasieren von Welten. Was im heutigen deutschen Film anscheinend leider nur durchs Hintertürchen möglich ist – als Mockumentary.
(Edelmann &
Willmann)
Paradise Lost 3: Purgatory
Jessie Misskelley, Jr., hat sich ein tonsurartiges Zifferblatt auf die Glatze tätowieren lassen. Doch Zeiger hat die Uhr keine. Für ihn steht seit Jahren die Zeit still. Erst wenn er aus dem Gefängnis entlassen wird, soll auf der Tattoo-Uhr eine Stunde erscheinen, erklärt er.
Am Ende des Films ist Misskelley tatsächlich frei, und mit ihm Damien Echols und Jason Baldwin. Von 1994, als sie alle noch Teenager waren, bis 2011 waren
die »West Memphis Three« eingesperrt. Sie sollen drei Buben umgebracht haben – doch alles spricht dafür, dass ihr einziges Vergehen damals war, in einem extrem konservativen Staat Außenseiter gewesen zu sein, als man grad Sündenböcke brauchte. Die Dokumentarfilme von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky haben von Anfang an den Fall und die Zweifel international öffentlich gemacht und wach gehalten. Ohne sie wäre es wohl nie zur Neubewertung und schließlich Freilassung
gekommen. Paradise Lost 3 erzählt die Geschichte noch einmal von Anfang an – bis zum Ende, das keineswegs schlicht happy, das nur ein frustrierend kompromissbeladener Teilsieg der Gerechtigkeit ist. Der Film ist eine formal gradlinige und bewusst parteiische (um nicht zu sagen: emotional auch manipulative) Doku. Sie lebt aber eben von ihrem starken Thema, vom Einblick in absurde Satanismus-Paranoia, die Abhängigkeit des Rechtssystems von den
persönlichen Agenda seiner Vertreter, die Eigendynamik von Rachegelüsten. Durch seinen 18 Jahre überspannenden Bogen aber ist es vor allem ein beklemmender Film über die Zeit und wie sie Wunden heilen und schlagen kann.
(Thomas Willmann)
Weitere Highlights waren:
L’ordre et la morale
The Ambassador
Damsels in Distress
The Color Wheel
Am Ende kommen Brüderchen und Schwesterchen dann endlich doch noch zusammen. Zehn Minuten dauert die Inzest-Szene – haben wir gehört. Gesehen haben wir sie nicht mehr, zu dem Zeitpunkt saßen wir schon beim Eiskaffee. Der war auch schwarz-weiß, und seine schmelzende Sahne »gekonnt grobkörnig« (Zitat Katalogtext). Die Einverleibung jedoch deutlich erbaulicher.
Nichtbrennende Kinosäle verlässt man nicht vor Ende des Nachspanns
– alter Cineasten-Ehrenkodex. The Color Wheel hat es außergewöhnlicherweise trotzdem geschafft, uns vorzeitig die Flucht ergreifen zu lassen. Wir waren keineswegs von der unerhörten formalen Innovation eines US-Indies über labernde Twenty-somethings auf Roadtrip in willkürlichen LoFi-Bildern überfordert. Unser Problem war kein filmisches, sondern ein menschliches: Regisseur, Co-Autor und Hauptdarsteller Alex Ross Perry, ein Unsympath
sondergleichen, setzt hier seiner Selbstverliebtheit ein monumental nerviges Denkmal. Es strotzt vor unangebrachtem Stolz auf seinen demonstrativen Dilletantismus – Takes mit Texthängern werden verwendet, weil man ja ironisch über dem Werk steht – und einer vermeintlichen Witzigkeit, die sich ständig nur über die ach so uncoole Restmenschheit mokkiert. Für Ross Perry und seine seelenverwandte Film-Schwester Carlen Altman führt in ihrer Eitelkeit gar kein Weg am
Inzest vorbei: Alle anderen sind ihrer eh unwürdig.
(Edelmann & Willmann)
Weitere Lowlights:
Unconditional
The Comedy
Invasion
Francophrenia