30.05.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Gren­zü­ber­schrei­tungen

La Jaula de Oro
La Jaula de Oro von Diego Quemeda-Diez
(Foto: Impuls Home Entertainment)

Expliziter Sex, Grenzüberschreitungen, Lebensrisiken und melancholische Vampire in Cannes

Von Dieter Wieczorek

Der Film ist viel gelobt, auch bejubelt worden. Einige der Meis­ter­kri­tiker fanden ihn einzig­artig, eine wenige erklärten ihn zum Meis­ter­werk. Bereits im Vorfeld der Projek­tion verlangte die fran­zo­si­sche Tages­zei­tung Libe­ra­tion nach dem ausglei­chenden Pendant einer Darstel­lung weib­li­cher Homo­se­xua­lität, nachdem die männliche bereits in hinrei­chend expres­siven Bildern in L’inconnu du lac (Der Fremde am See) des Franzosen Alain Guiraudie prak­ti­ziert worden war. La vie d’Adéle – Chapitre 1 & 2, ebenfalls aus Frank­reich kommend, befrie­digte dann auch reichlich diese Nachfrage. Doch sei’s drum. Ist Abdel­latif Kechiches Film ein Meis­ter­werk? Im Zentrum steht eine junge, sich suchende Frau, sich suchend vor allem auf eroti­schem Feld. Eher konturlos, eher persön­lich­keits­schwach ist sie ange­wiesen und abhängig auf und von allen Zeichen der Zuwendung und Zustim­mung. Ihrer eigenen Gefühle und Begehrens unsicher, nähert sie sich erst ohne Befrie­di­gung zu finden einem Mann an, überlässt sich dann hinge­bungs­voll einer ihr an Reife und Selbst­si­cher­heit weit über­le­genden Frau und Künst­lerin, die für sie zur Vertrauten, zum Vorbild, zur Ange­be­teten, zur Freundin und Geliebte zugleich wird. Da die Ange­ne­tete jedoch fern jeder Monogamie lebt, ist die Kata­strophe program­miert. Es fließen Tränen, gewiss nur die der Schüch­ternen. Psychi­sche Wunden bleiben zurück. Alles in allem: eine alltäg­liche Geschichte, situiert im aktuellen, fran­zö­si­schen Milieu, versehen mit fran­zö­si­schen Ideo­lo­gemen und Redens­formen, die besonders in den verbalen Attacken der Mitschüler Adeles deutlich werden. Dies ist viel­leicht noch der inter­es­san­teste Aspekt in Kechiches Werk: die hautnahe Aufzeich­nung verbaler, norma­tiver Gewalt durch die gleich­alt­rigen Kameraden, die alles wissen wollen, alles mit ihrem 100-Worte-Vokabular kommen­tieren und nicht unbe­wertet lassen. Kechiches rekon­stru­iert eine kleine, triste, lokale Welt, gefilmt in Nahan­sicht und Nahein­stel­lung, besonders selbst­re­dend die ausgie­bigen Sequenzen der sexuellen Spiele der jungen Frauen. Aber kein wirklich viru­lentes poli­ti­sches, soziales oder auch nur über­ra­schend psycho­lo­gi­sches Thema, das über die fragilen Befind­lich­keiten hinaus­ginge, dringt ein in dieses Werk. Die Welt bleibt, wie oft im fran­zö­si­schen Film, draußen. Das libi­dinöse Zwangs­hand­lungs­kar­tell dominiert. Der schlichte (fran­zö­si­sche) Alltag wird hofiert, mit zuweilen kleinen abgrün­digen Blicken auf die Schulhöfe. Warum nicht? Doch Enthu­si­asmus und pathe­ti­sche Rhetorik scheint hier fehl am Platze.

La jaula de oro von Diego Quemada-Diez, leider nicht im Wett­be­werb platziert, sondern in der Paral­lel­sek­tion Un Certain Regard, fächert da schon ein weit komple­xeres Spektrum auf. Auch dort stehen Jugend­liche im Zentrum, jedoch solche, die gefähr­liche Grenzen über­queren auf der Suche nach einem würdigen Leben. Aus Guatemala kommend gelangen sie zunächst und bereits unter erheb­li­chen Risiken nach Mexiko. Ihr Ziel jedoch sind die USA. Von krimi­nellen Grenz­dea­lern in der Einöde im Stich gelassen, wo sie unter Beschuss geraten, fallen sie bald darauf in die Hände von Frau­en­händ­lern. Hier werden die Freunde für immer von ihrer Beglei­terin getrennt. Es folgt eine weitere Gefan­gen­nahme durch Geisel­händler, bei der nur dieje­nigen überleben werden, die Verwandte oder Freunde in den Staaten haben, um die Geld­for­de­rungen zu erfüllen.
Der Spanier Quemada-Diez bietet ein reiches Panorama der Gefühle, der Annähe­rungen und Span­nungen zwischen den 15-Jährigen auf ihrer lebens­ge­fähr­li­chen Reise. Eifer­sucht schon hier, doch auch eine Freund­schaft entsteht, von einer Stärke, die den einen für den anderen sein Leben riskieren lässt. Quemada-Diez arbeitet mit subtilen Zwischen­zonen, thema­ti­siert auch interne ethnische Konflikte zwischen den jungen Emigranten. Die Beob­ach­tung sozialer Realität hält sich die Wage mit einer psycho­lo­gisch über­zeu­genden Inter­ak­tion. Hier einmal ein Werk, wo ein Krisen­sze­nario nicht zum austausch­baren Hinter­grund­sbild degra­diert wird, sondern im Detail die stets unvor­her­sehbar Handlung mitbe­stimmt. Selbst Bilder poeti­scher Klarheit finden Eingang in diesem beein­dru­ckenden Werk ohne Happy End.

Eine Figur dominiert – neben Steven Spielberg als Leiter der Hauptjury – die 66. Edition des Festivals in Cannes: Roman Polanski. Bereits ausführ­lich zu Wort gekommen im erwähnten Doku­men­tar­film Seduced and Abandoned von James Toback, wo er sich kritisch zur Gegen­warts­si­tua­tion des Weltkinos äußert, riskiert er in dem auf zwei Personen beschränkten Wett­be­werbs­bei­trag Venus im Pelz alles und gewinnt. Doch auch in einem weiteren Doku­men­tar­film kommt er zu Wort: als aufmerk­samer und hautnaher Beob­achter des von ihm bewun­derten Formel-1-Spezia­listen Jackie Stewarts. Frank Simons Weekend of a Champion geht zurück ins Jahr 1971 und schildert den atem­be­rau­benden Alltag eines Renn­sport­lers zu einer Zeit, da während des Zeit­raumes von fünf Jahren 2 von 3 Fahrern tödlich verun­glückten in ihren jede Sicher­heits­tech­no­logie missenden Fahr­zeugen. Der Rennring von Monaco galt als einer der hinter­häl­tigsten aufgrund seiner unge­schützten Bürger­steig­treppen und engen Kurven. Nicht nur Stewart, auch seine Frau, beide von Polanski befragt in freund­schaft­li­chem Einver­nehmen, kommen zu Wort. Simon zeigt sie zusammen bei Stewarts Reprä­sen­ta­ti­ons­pflichten, bei Fach­ge­sprächen in Garagen und in ihren luxu­riösen Hotel­zim­mern. Er lässt den Zuschauer gar eine Rennrunde mit Stewart fahren (zarten Gemütern sei diese Sequenz abgeraten). Zu Ende seines Filmes sieht man die beiden Veteranen »Polanski und Stewart in der aktuellen Gegenwart auf einer Couch sitzen und über die alten Zeiten plaudern. Natürlich geht es auch hier um Leben und Tod, als Thema. Simon bietet einen eindring­li­chen Einblick hinter die Kulissen eines Lebens, in dem der Tod auf der Tages­karte steht und der Freun­des­kreis immer schmaler wird.«

Mit großen Erwar­tungen wurde Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive gesichtet. Jarmusch flechtet jedoch lediglich eine amüsante Kostüm­ku­lisse um Jahr­hun­derte alte Vampire, die gleich­zeitig auch im Laufe ihrer eigen­ar­tigen Parcours Schlüs­sel­fi­guren der Kultur­ge­schichte gewesen sind, bestens vertraut, auf Du-und-Du mit den Größen der Welt. Sie werfen sich die Refe­renzen und Apercus ihrer lite­ra­ri­schen und musi­ka­li­schen Vergan­gen­heiten wie Feder­bälle zu. Jarmusch bietet ein Werk voller Objek­täs­thetik. Die Vampire lieben das Rare, Feine, Erlesene und haben auch alle Mittel, ihren Liebe­leien zu frönen. Im Mittel­punkt steht das distin­gu­ierte, halb melan­cho­lisch, halb aris­to­kra­tisch distan­zierte, vampi­rende Liebes­paar, geboten von Tilda Swinton und Tom Hidd­leston, deren Lebens­ge­schichte bis auf Adam und Eva zurück geht. Sie sind es selbst. Leider bietet Jarmusch hier keinen Kommen­tare zu Gott als apfel­nei­di­schen Dialog­partner. Zuweilen muss sich das Paar im Akti­ons­stress der Opfer schon per Säurebad entle­digen, bevor es leichthin die Länder und Zeitzonen wechselt. In dieser schere­losen Leich­tig­keit ist natürlich nichts mehr übrig oder lebendig geblieben, was wir einst an dem Jarmusch der Stranger Than Paradise oder des Down By Law so schätzten: diese liebe­volle Gestal­tung der Aussen­seiter und Under­grads, die um Würde und Überleben rangen und dies mit Stil allen Widrig­keiten zum Trotz. Only Lovers Left Alive ist ein substanz­loser, gefällig dahin plät­schernder Film, der durch einige Drol­lig­keiten in der Situa­ti­ons­ge­stal­tung erfreut, doch nicht mehr als das bieten kann.