66. Filmfestspiele Cannes 2013
Grenzüberschreitungen |
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La Jaula de Oro von Diego Quemeda-Diez | ||
(Foto: Impuls Home Entertainment) |
Von Dieter Wieczorek
Der Film ist viel gelobt, auch bejubelt worden. Einige der Meisterkritiker fanden ihn einzigartig, eine wenige erklärten ihn zum Meisterwerk. Bereits im Vorfeld der Projektion verlangte die franzosische Tageszeitung Liberation nach dem ausgleichenden Pendant einer Darstellung weiblicher Homosexualität, nachdem die männliche bereits in hinreichend expressiven Bildern in L’inconnu du lac (Der Fremde am See) des Franzosen Alain Guiraudie praktiziert worden war. La vie d’Adéle – Chapitre 1 & 2, ebenfalls aus Frankreich kommend, befriedigte dann auch reichlich diese Nachfrage. Doch sei’s drum. Ist Abdellatif Kechiches Film ein Meisterwerk? Im Zentrum steht eine junge, sich suchende Frau, sich suchend vor allem auf erotischem Feld. Eher konturlos, eher persönlichkeitsschwach ist sie angewiesen und abhängig auf und von allen Zeichen der Zuwendung und Zustimmung. Ihrer eigenen Gefühle und Begehrens unsicher, nähert sie sich erst ohne Befriedigung zu finden einem Mann an, überlässt sich dann hingebungsvoll einer ihr an Reife und Selbstsicherheit weit überlegenden Frau und Künstlerin, die für sie zur Vertrauten, zum Vorbild, zur Angebeteten, zur Freundin und Geliebte zugleich wird. Da die Angenetete jedoch fern jeder Monogamie lebt, ist die Katastrophe programmiert. Es fließen Tränen, gewiss nur die der Schüchternen. Psychische Wunden bleiben zurück. Alles in allem: eine alltägliche Geschichte, situiert im aktuellen, französischen Milieu, versehen mit französischen Ideologemen und Redensformen, die besonders in den verbalen Attacken der Mitschüler Adeles deutlich werden. Dies ist vielleicht noch der interessanteste Aspekt in Kechiches Werk: die hautnahe Aufzeichnung verbaler, normativer Gewalt durch die gleichaltrigen Kameraden, die alles wissen wollen, alles mit ihrem 100-Worte-Vokabular kommentieren und nicht unbewertet lassen. Kechiches rekonstruiert eine kleine, triste, lokale Welt, gefilmt in Nahansicht und Naheinstellung, besonders selbstredend die ausgiebigen Sequenzen der sexuellen Spiele der jungen Frauen. Aber kein wirklich virulentes politisches, soziales oder auch nur überraschend psychologisches Thema, das über die fragilen Befindlichkeiten hinausginge, dringt ein in dieses Werk. Die Welt bleibt, wie oft im französischen Film, draußen. Das libidinöse Zwangshandlungskartell dominiert. Der schlichte (französische) Alltag wird hofiert, mit zuweilen kleinen abgründigen Blicken auf die Schulhöfe. Warum nicht? Doch Enthusiasmus und pathetische Rhetorik scheint hier fehl am Platze.
La jaula de oro von Diego Quemada-Diez, leider nicht im Wettbewerb platziert, sondern in der Parallelsektion Un Certain Regard, fächert da schon ein weit komplexeres Spektrum auf. Auch dort stehen Jugendliche im Zentrum, jedoch solche, die gefährliche Grenzen überqueren auf der Suche nach einem würdigen Leben. Aus Guatemala kommend gelangen sie zunächst und bereits unter erheblichen Risiken nach Mexiko. Ihr Ziel jedoch sind die USA. Von kriminellen
Grenzdealern in der Einöde im Stich gelassen, wo sie unter Beschuss geraten, fallen sie bald darauf in die Hände von Frauenhändlern. Hier werden die Freunde für immer von ihrer Begleiterin getrennt. Es folgt eine weitere Gefangennahme durch Geiselhändler, bei der nur diejenigen überleben werden, die Verwandte oder Freunde in den Staaten haben, um die Geldforderungen zu erfüllen.
Der Spanier Quemada-Diez bietet ein reiches Panorama der Gefühle, der Annäherungen und Spannungen
zwischen den 15-Jährigen auf ihrer lebensgefährlichen Reise. Eifersucht schon hier, doch auch eine Freundschaft entsteht, von einer Stärke, die den einen für den anderen sein Leben riskieren lässt. Quemada-Diez arbeitet mit subtilen Zwischenzonen, thematisiert auch interne ethnische Konflikte zwischen den jungen Emigranten. Die Beobachtung sozialer Realität hält sich die Wage mit einer psychologisch überzeugenden Interaktion. Hier einmal ein Werk, wo ein Krisenszenario nicht
zum austauschbaren Hintergrundsbild degradiert wird, sondern im Detail die stets unvorhersehbar Handlung mitbestimmt. Selbst Bilder poetischer Klarheit finden Eingang in diesem beeindruckenden Werk ohne Happy End.
Eine Figur dominiert – neben Steven Spielberg als Leiter der Hauptjury – die 66. Edition des Festivals in Cannes: Roman Polanski. Bereits ausführlich zu Wort gekommen im erwähnten Dokumentarfilm Seduced and Abandoned von James Toback, wo er sich kritisch zur Gegenwartssituation des Weltkinos äußert, riskiert er in dem auf zwei Personen beschränkten Wettbewerbsbeitrag Venus im Pelz alles und gewinnt. Doch auch in einem weiteren Dokumentarfilm kommt er zu Wort: als aufmerksamer und hautnaher Beobachter des von ihm bewunderten Formel-1-Spezialisten Jackie Stewarts. Frank Simons Weekend of a Champion geht zurück ins Jahr 1971 und schildert den atemberaubenden Alltag eines Rennsportlers zu einer Zeit, da während des Zeitraumes von fünf Jahren 2 von 3 Fahrern tödlich verunglückten in ihren jede Sicherheitstechnologie missenden Fahrzeugen. Der Rennring von Monaco galt als einer der hinterhältigsten aufgrund seiner ungeschützten Bürgersteigtreppen und engen Kurven. Nicht nur Stewart, auch seine Frau, beide von Polanski befragt in freundschaftlichem Einvernehmen, kommen zu Wort. Simon zeigt sie zusammen bei Stewarts Repräsentationspflichten, bei Fachgesprächen in Garagen und in ihren luxuriösen Hotelzimmern. Er lässt den Zuschauer gar eine Rennrunde mit Stewart fahren (zarten Gemütern sei diese Sequenz abgeraten). Zu Ende seines Filmes sieht man die beiden Veteranen »Polanski und Stewart in der aktuellen Gegenwart auf einer Couch sitzen und über die alten Zeiten plaudern. Natürlich geht es auch hier um Leben und Tod, als Thema. Simon bietet einen eindringlichen Einblick hinter die Kulissen eines Lebens, in dem der Tod auf der Tageskarte steht und der Freundeskreis immer schmaler wird.«
Mit großen Erwartungen wurde Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive gesichtet. Jarmusch flechtet jedoch lediglich eine amüsante Kostümkulisse um Jahrhunderte alte Vampire, die gleichzeitig auch im Laufe ihrer eigenartigen Parcours Schlüsselfiguren der Kulturgeschichte gewesen sind, bestens vertraut, auf Du-und-Du mit den Größen der Welt. Sie werfen sich die Referenzen und Apercus ihrer literarischen und musikalischen Vergangenheiten wie Federbälle zu. Jarmusch bietet ein Werk voller Objektästhetik. Die Vampire lieben das Rare, Feine, Erlesene und haben auch alle Mittel, ihren Liebeleien zu frönen. Im Mittelpunkt steht das distinguierte, halb melancholisch, halb aristokratisch distanzierte, vampirende Liebespaar, geboten von Tilda Swinton und Tom Hiddleston, deren Lebensgeschichte bis auf Adam und Eva zurück geht. Sie sind es selbst. Leider bietet Jarmusch hier keinen Kommentare zu Gott als apfelneidischen Dialogpartner. Zuweilen muss sich das Paar im Aktionsstress der Opfer schon per Säurebad entledigen, bevor es leichthin die Länder und Zeitzonen wechselt. In dieser scherelosen Leichtigkeit ist natürlich nichts mehr übrig oder lebendig geblieben, was wir einst an dem Jarmusch der Stranger Than Paradise oder des Down By Law so schätzten: diese liebevolle Gestaltung der Aussenseiter und Undergrads, die um Würde und Überleben rangen und dies mit Stil allen Widrigkeiten zum Trotz. Only Lovers Left Alive ist ein substanzloser, gefällig dahin plätschernder Film, der durch einige Drolligkeiten in der Situationsgestaltung erfreut, doch nicht mehr als das bieten kann.