03.06.2013
66. Filmfestspiele Cannes 2013

Unfried­volle Konfron­ta­tionen

Szenenbild »Borgman«
Alex van Warmedams Borgman
(Foto: Pandastorm Pictures Kurt Media GmbH / Neue Visionen Filmverleih GmbH)

Mit grotesker, sozialer, sadistischer und symbolischer Gewalt läuft Cannes langsam zur Form auf

Von Dieter Wieczorek

Wenn ein Film ästhe­tisch und konzep­tuell im dies­jäh­rigen Wett­be­werbs­pro­gram Cannes aus dem Rahmen fiel, dann war das der nieder­län­di­schen Beitrag Borgman von Alex van Warmedams. Jeder Einstel­lung, jede Szene hier ist unvor­her­sehbar, pendelt zwischen Absur­dität, Groteske und Realismus. Bereits das Thema des Filmes zu nennen fiele schwer. Mit anderen Worten, hier sind Asso­zia­ti­ons­kraft und das Wirken des Unbe­wussten gefragt. In der ersten Einstel­lung jagt ein Priester mit Hand­lan­gern bewaffnet ein unde­fi­nier­bare Gruppe von Menschen, die sich komfor­table in Gräben und großen Höhlen einge­richtet im Wald verborgen halten. Einem unter ihnen gelingt es, in das Eigenheim einer bour­geoisen Familie einzu­dringen und dort langsam Fuß zu fassen, da er erst das Mitleid, dann das Begehren der Ehefrau und Mutter gewinnt. Diese Frau wiederum wird miss­han­delt, unter­drückt und geschlagen von ihrem Macho-Ehemann, seiner­seits Manager unter Druck von oben. In einer Reihe drolliger und herber Sequenzen gelingt es dem Eindring­ling, die Gescheh­nisse im Haus immer mehr unter seine Kontrolle zu bringen. Erst schirmt er die Familie von der Außenwelt ab, dann bringt er sie, unter Beihilfe seiner ins Haus gelotsten Kumpane, syste­ma­tisch um, die wenigen peri­pheren Kontakte der Familie einge­schlossen. Dies alles geschieht in melan­cho­li­scher Präzision. Ein Massen­grab wird geschau­felt im Eigen­heim­garten und frischer Rasen drüber gepflanzt. Dann zieht die rätsel­hafte Gruppe weiter. Mission erfüllt.
Man mag hier ein meta­pho­ri­sches Bild des Klas­sen­kampfes erkennen wollen. Eher jedoch geht es um einen erbar­mungs­losen Kampf zwischen nicht kommu­ni­zie­renden Gruppen, deren Kontext nicht geklärt und dessen Intention nicht eröffnet wird. Warmer­dams insze­niert folglich eher sozialer Gewalt als solche, die sich verselb­stän­digt hat. Die Kontext­lo­sig­keit macht stets alles möglich, schafft immer wieder Über­ra­schungen und eröffnet ein weites Register mögliche Situa­tionen und Gefühle. Für den Haupt­preis wäre Borgman ein Favorit gewesen.

Mit gewalt­tä­tigen Konflikten setzt sich auch der phil­ip­pi­ni­sche, oftmals preis­ge­krönte Filme­ma­cher Lav Diaz ausein­ander, in dem für seine Verhält­nisse vergleichs­weise kurzen 4-Stunden-Werk Norde, hangganan ng kasay­sayan (Norte, das Ende einer Geschichte). Seine Kamera lässt sich Zeit, über Land­schaften zu schweifen, auf Personen zu verharren und lang­at­migen Diskus­sionen zu folgen. Sie ist wie das Auge Gottes, das kommen­tarlos beob­achtet, ohne zu anti­zi­pieren, zu provo­zieren oder sich zu schnell in kontu­rierte Geschichten zu konfi­gu­rieren. Sie verharrt. Zuweilen versteckt sie sich hinter einer Säule oder Hauecke, als ob sie mit der Sicht eines in der fiktiven Situation präsenten Beob­ach­ters verschmilzt. Diaz Blick verharrt auf Ruinen und scheinbar belang­losen Nicht-Orten. Ein perso­nen­ori­en­tiertes Geschehen vollzieht sich eher trotz allem, auf dem Hinter­grund einer unbe­tei­ligten Natur, wahr­ge­nommen aus anthro­po­lo­gi­scher Ferne. Selbst als eine der Haupt­prot­ago­nis­tinnen umge­bracht wird, ist dieser Akt nicht einmal bild­würdig. Die Tat geschah im Off. Die Kamera gleitet lediglich a poste­riori über ihren neben einem nieder­ge­brannten Haus liegenden Kadaver hinweg.
Diaz lässt Intel­lek­tu­elle in pseu­do­phi­lo­so­phi­schen Palavern und apathisch wirkenden Lamen­ta­tionen auftreten. Einer unter ihnen sucht sein mörde­ri­sches Verbre­chen zu sühnen, und fällt doch wieder, in einer dieser über­ra­schenden Szenen, wo nach langen nichts sagenden Dialogen plötzlich eruptive Gewalt aufbricht, in seine unkon­trol­lierten Gewalt­gestus zurück, verge­wal­tigt seine bigotte Schwester und tötet seinen geliebten Hund. Die Konse­quenzen einer Welt ohne Wahrheit, ohne Werte, Sinn und Orien­tie­rung werden hier an einer an Dosto­jewski erin­nernden Weise durch­de­kli­niert.
Dias zeigt Verarmte unter extremen Druck, ausge­beutet von Reichen und unter­drückt von der Staats­ge­walt. Er bringt Verstörte und Unmäch­tige ins Bild. Er lässt destruk­tive, nicht näher benannte oder defi­nierte Kräfte am Horizont erscheinen. Sied­lungen brennen unkom­men­tiert ab, Menschen sind in perma­nente Angst und Unsi­cher­heit versetzt. Diaz zeigt ohne Pathos oder Dekla­ra­tion eine unkon­trol­lierte, tyran­ni­sierte phil­ip­pi­ni­sche Gesell­schaft, allein durch die subtil beob­ach­tende Kamera. Auch einen guten, selbst­losen, sich nicht aufge­benden Menschen lässt er auftreten, der unschuldig über Jahre hinweg in Haft sitzt und selbst in diesem kastrierten Leben noch die Kraft findet, anderen zu helfen. Doch der Kadaver, der neben der Hausruine liegt, ist seine geliebte Frau.

Als der viel­leicht provo­kan­teste Film in der „Un Certain Regard“ Sektion Cannes, in dem auch Dias Film platziert wurde, wäre der deutsche Beitrag zu nennen. Anläss­lich seiner Urauf­füh­rung erlebte man selbst fast unüblich gewordene Pfiffe, immer ein gutes Zeichen, das ein Film aus der belang­losen Schmal­kost hervor­ragt und nicht gleich­gültig lässt. Tore tanzt von Katrin Gebbe ist zwei­fellos ein schmerz­hafter Film. In seinem Mittel­punkt steht ein junger Mann, der in die Gehirn­wä­sche einer extremen christ­li­chen Gruppe gerät, wo er lernt, dass Jesus ihn liebt, er aber bereit sein muss, alles zu erleiden, um Jesus gerecht zu werden. Selbst schüch­tern und seiner unsicher ist die Kata­strophe vorpro­gram­miert, als er in die Hände einer Schre­ber­garten-Klein­fa­milie gerät, mit einem gewalt­tä­tigen Macho-Ehemann an der Spitze, begleitet von seiner frus­trierten, sadis­tisch veran­lagten Ehefrau samt ihrem ähnlich konfi­gu­rierten Freun­des­kreis. Syste­ma­tisch wird Tore erst seiner Habe beraubt, dann zum Haus­knecht ernied­rigt, im nächsten Schritt zur Prosti­tu­tion gezwungen und schliess­lich zerstü­ckelt. Er selbst vermag die ganze Zeit über nicht – dies ist der viru­lenter Punkt – sich zur Wehr zu setzen, da er sich als Gottes Opferlamm und Messias deutet und eine Mission zu erfüllen zu haben glaubt: die ebenfalls unter­drückte Haus­tochter aus den inzes­tuösen Zwängen ihrer Familie zu befreien und das Eltern­paar zum Guten zu bekehren. Dies sich im Detail anzu­schauen fällt nicht leicht, und doch ist Gebbes Film einer dieser eindring­li­chen, wichtigen Werke, die auf Grenz­si­tua­tionen insis­tieren, hier auf einer selbst­zer­stö­re­ri­schen Reli­gio­sität, wo die üblichen psychi­schen Abwehr­me­cha­nismen nicht mehr greifen. Der Zuschauer wird hier zum Mitge­fan­genen, sein Selbst­er­hal­tungs­re­per­toire ange­sichts dieses Show-down-Effekts provo­ziert. Gebbes Film erinnert an Lars von Triers 2011 in Cannes präsen­tierte Melan­cholia, ein Film, der ebenfalls für viel Unruhe sorgte, noch stärker jedoch an dessen Meis­ter­werk der Selbst­auf­gabe Breaking the Waves (1996).

Melan­cholie und symbo­li­sche Gewalt sind Grundtöne auch in Paolo Sorren­tinos La grande bellezza. Die italie­ni­sche Ober­schicht, wenig tangiert von sozialen Problemen oder unmit­tel­barer Staats­ge­walt, stellt hier den Rahmen. Aber im Zentrum des obszönen Reichtums und perver­tierter Lebens­ge­nuss­prak­tiken steht Jep Gambar­della, die unan­tast­bare graue Eminenz in der aris­to­kra­ti­schen Welt. Mit Gelas­sen­heit kommen­tiert er die ihn umge­benden Prot­ago­nisten. Er entlarvt und zerbricht ihre Egozen­trik in unver­hoh­lener Rede, letztlich ange­wi­dert von der allsei­tigen mons­trösen Ober­fläch­lich­keit. Erst auf seinen morgend­li­chen, einsamen Spazier­gängen atmet der Grand­sei­gneur auf, würdigt die evidenten Schön­heiten des Alltags und des einfachen Lebens. Offen bleibt, ob sie ihn noch wirklich inter­es­sieren.
Mit belus­tigtem Blick zeigt Sorren­tiono Gegen­warts­kunst als Teil des mondänen Spek­ta­kels. Der Haupt­schau­platz des Gesche­hens Rom wird in majes­tä­ti­schem Licht präsen­tiert: splendide Terrassen und Gemächern, ausge­klü­gelte Archi­tek­turen und die verbor­gene Schätze der Museen, die bei einem nächt­li­chen Rundgang ohne Publikum Revue passieren. Gambar­della ist ein Mann mit Stil, der gelernt hat, dass Verzicht auf sexuell-emotive Angebote die reiz­vol­lere Variante sein kann, die geringe Lebens­zeit zu nutzen.
Würden­träger und Kirchen­ver­treter, buddhis­ti­sche Mönche mit einge­schlossen, finden alle ihren wohl­feilen Platz in den üppigen Szenarien. Lediglich eine Gegen­figur kris­tal­li­siert sich: eine Mutter-Teresa-Gestalt, eine zahnlose nahezu Hundert­jäh­rige, die auf harten Boden schläft, wenig und immer das gleiche isst und auf Knien lange Treppen aufsteigt zu einer verehrten Hostie. Diese demütige Frau weigert sich, über sich zu sprechen. Zu dieser Frau pilgern in einer der meta­pho­ri­schen Schlüs­sel­szenen Sorren­tinos die Vertreter der Intel­li­gentia und der etablierten Staats- und Kirchen­mächte. Gewiss wirkt auch diese Verehrung lediglich wie eine weitere Variante der allge­meinen Perver­sion, ein Apercu, eine Anekdote dienlich für den nächsten Smalltalk. Die Verwei­ge­rung der alten Frau ist die einzige noch mögliche Geste der Selbst­er­hal­tung.
Sorren­tino stellt in diesem Panorama der Dekadenz die Sinnfrage: worauf kommt es an, was zählt noch im Leben? Viel­leicht stellt sich die Frage lediglich noch hier, wo Über­le­bens­hast nicht mehr Thema ist. Die Antwort bleibt aus. Was bleibt ist der melan­cho­li­sche Blick Gambar­dellas auf die monetäre Vergeb­lich­keit. Sowohl in seiner ästhe­ti­schen Anlage wie durch seine Thematik kann La grande bellezza als Verlän­ge­rung und Aktua­li­sie­rung von Federicos Fellinis La Dolce Vita (1960) gelesen werden.