66. Filmfestspiele Cannes 2013
Unfriedvolle Konfrontationen |
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Alex van Warmedams Borgman | ||
(Foto: Pandastorm Pictures Kurt Media GmbH / Neue Visionen Filmverleih GmbH) |
Von Dieter Wieczorek
Wenn ein Film ästhetisch und konzeptuell im diesjährigen Wettbewerbsprogram Cannes aus dem Rahmen fiel, dann war das der niederländischen Beitrag Borgman von Alex van Warmedams. Jeder Einstellung, jede Szene hier ist unvorhersehbar, pendelt zwischen Absurdität, Groteske und Realismus. Bereits das Thema des Filmes zu nennen fiele schwer. Mit anderen Worten, hier sind
Assoziationskraft und das Wirken des Unbewussten gefragt. In der ersten Einstellung jagt ein Priester mit Handlangern bewaffnet ein undefinierbare Gruppe von Menschen, die sich komfortable in Gräben und großen Höhlen eingerichtet im Wald verborgen halten. Einem unter ihnen gelingt es, in das Eigenheim einer bourgeoisen Familie einzudringen und dort langsam Fuß zu fassen, da er erst das Mitleid, dann das Begehren der Ehefrau und Mutter gewinnt. Diese Frau wiederum wird
misshandelt, unterdrückt und geschlagen von ihrem Macho-Ehemann, seinerseits Manager unter Druck von oben. In einer Reihe drolliger und herber Sequenzen gelingt es dem Eindringling, die Geschehnisse im Haus immer mehr unter seine Kontrolle zu bringen. Erst schirmt er die Familie von der Außenwelt ab, dann bringt er sie, unter Beihilfe seiner ins Haus gelotsten Kumpane, systematisch um, die wenigen peripheren Kontakte der Familie eingeschlossen. Dies alles geschieht in
melancholischer Präzision. Ein Massengrab wird geschaufelt im Eigenheimgarten und frischer Rasen drüber gepflanzt. Dann zieht die rätselhafte Gruppe weiter. Mission erfüllt.
Man mag hier ein metaphorisches Bild des Klassenkampfes erkennen wollen. Eher jedoch geht es um einen erbarmungslosen Kampf zwischen nicht kommunizierenden Gruppen, deren Kontext nicht geklärt und dessen Intention nicht eröffnet wird. Warmerdams inszeniert folglich eher sozialer Gewalt als solche, die
sich verselbständigt hat. Die Kontextlosigkeit macht stets alles möglich, schafft immer wieder Überraschungen und eröffnet ein weites Register mögliche Situationen und Gefühle. Für den Hauptpreis wäre Borgman ein Favorit gewesen.
Mit gewalttätigen Konflikten setzt sich auch der philippinische, oftmals preisgekrönte Filmemacher Lav Diaz auseinander, in dem für seine Verhältnisse vergleichsweise kurzen 4-Stunden-Werk Norde, hangganan ng kasaysayan (Norte, das Ende einer Geschichte). Seine Kamera lässt sich Zeit, über Landschaften zu schweifen, auf Personen zu verharren und langatmigen Diskussionen zu folgen. Sie ist wie das Auge Gottes, das kommentarlos
beobachtet, ohne zu antizipieren, zu provozieren oder sich zu schnell in konturierte Geschichten zu konfigurieren. Sie verharrt. Zuweilen versteckt sie sich hinter einer Säule oder Hauecke, als ob sie mit der Sicht eines in der fiktiven Situation präsenten Beobachters verschmilzt. Diaz Blick verharrt auf Ruinen und scheinbar belanglosen Nicht-Orten. Ein personenorientiertes Geschehen vollzieht sich eher trotz allem, auf dem Hintergrund einer unbeteiligten Natur, wahrgenommen
aus anthropologischer Ferne. Selbst als eine der Hauptprotagonistinnen umgebracht wird, ist dieser Akt nicht einmal bildwürdig. Die Tat geschah im Off. Die Kamera gleitet lediglich a posteriori über ihren neben einem niedergebrannten Haus liegenden Kadaver hinweg.
Diaz lässt Intellektuelle in pseudophilosophischen Palavern und apathisch wirkenden Lamentationen auftreten. Einer unter ihnen sucht sein mörderisches Verbrechen zu sühnen, und fällt doch wieder, in einer
dieser überraschenden Szenen, wo nach langen nichts sagenden Dialogen plötzlich eruptive Gewalt aufbricht, in seine unkontrollierten Gewaltgestus zurück, vergewaltigt seine bigotte Schwester und tötet seinen geliebten Hund. Die Konsequenzen einer Welt ohne Wahrheit, ohne Werte, Sinn und Orientierung werden hier an einer an Dostojewski erinnernden Weise durchdekliniert.
Dias zeigt Verarmte unter extremen Druck, ausgebeutet von Reichen und unterdrückt von der Staatsgewalt.
Er bringt Verstörte und Unmächtige ins Bild. Er lässt destruktive, nicht näher benannte oder definierte Kräfte am Horizont erscheinen. Siedlungen brennen unkommentiert ab, Menschen sind in permanente Angst und Unsicherheit versetzt. Diaz zeigt ohne Pathos oder Deklaration eine unkontrollierte, tyrannisierte philippinische Gesellschaft, allein durch die subtil beobachtende Kamera. Auch einen guten, selbstlosen, sich nicht aufgebenden Menschen lässt er auftreten, der
unschuldig über Jahre hinweg in Haft sitzt und selbst in diesem kastrierten Leben noch die Kraft findet, anderen zu helfen. Doch der Kadaver, der neben der Hausruine liegt, ist seine geliebte Frau.
Als der vielleicht provokanteste Film in der „Un Certain Regard“ Sektion Cannes, in dem auch Dias Film platziert wurde, wäre der deutsche Beitrag zu nennen. Anlässlich seiner Uraufführung erlebte man selbst fast unüblich gewordene Pfiffe, immer ein gutes Zeichen, das ein Film aus der belanglosen Schmalkost hervorragt und nicht gleichgültig lässt. Tore tanzt von Katrin Gebbe ist zweifellos ein schmerzhafter Film. In seinem Mittelpunkt steht ein junger Mann, der in die Gehirnwäsche einer extremen christlichen Gruppe gerät, wo er lernt, dass Jesus ihn liebt, er aber bereit sein muss, alles zu erleiden, um Jesus gerecht zu werden. Selbst schüchtern und seiner unsicher ist die Katastrophe vorprogrammiert, als er in die Hände einer Schrebergarten-Kleinfamilie gerät, mit einem gewalttätigen Macho-Ehemann an der Spitze, begleitet von seiner frustrierten, sadistisch veranlagten Ehefrau samt ihrem ähnlich konfigurierten Freundeskreis. Systematisch wird Tore erst seiner Habe beraubt, dann zum Hausknecht erniedrigt, im nächsten Schritt zur Prostitution gezwungen und schliesslich zerstückelt. Er selbst vermag die ganze Zeit über nicht – dies ist der virulenter Punkt – sich zur Wehr zu setzen, da er sich als Gottes Opferlamm und Messias deutet und eine Mission zu erfüllen zu haben glaubt: die ebenfalls unterdrückte Haustochter aus den inzestuösen Zwängen ihrer Familie zu befreien und das Elternpaar zum Guten zu bekehren. Dies sich im Detail anzuschauen fällt nicht leicht, und doch ist Gebbes Film einer dieser eindringlichen, wichtigen Werke, die auf Grenzsituationen insistieren, hier auf einer selbstzerstörerischen Religiosität, wo die üblichen psychischen Abwehrmechanismen nicht mehr greifen. Der Zuschauer wird hier zum Mitgefangenen, sein Selbsterhaltungsrepertoire angesichts dieses Show-down-Effekts provoziert. Gebbes Film erinnert an Lars von Triers 2011 in Cannes präsentierte Melancholia, ein Film, der ebenfalls für viel Unruhe sorgte, noch stärker jedoch an dessen Meisterwerk der Selbstaufgabe Breaking the Waves (1996).
Melancholie und symbolische Gewalt sind Grundtöne auch in Paolo Sorrentinos La grande bellezza. Die italienische Oberschicht, wenig tangiert von sozialen Problemen oder unmittelbarer Staatsgewalt, stellt hier den Rahmen. Aber im Zentrum des obszönen Reichtums und pervertierter Lebensgenusspraktiken steht Jep Gambardella, die unantastbare graue Eminenz in der
aristokratischen Welt. Mit Gelassenheit kommentiert er die ihn umgebenden Protagonisten. Er entlarvt und zerbricht ihre Egozentrik in unverhohlener Rede, letztlich angewidert von der allseitigen monströsen Oberflächlichkeit. Erst auf seinen morgendlichen, einsamen Spaziergängen atmet der Grandseigneur auf, würdigt die evidenten Schönheiten des Alltags und des einfachen Lebens. Offen bleibt, ob sie ihn noch wirklich interessieren.
Mit belustigtem Blick zeigt
Sorrentiono Gegenwartskunst als Teil des mondänen Spektakels. Der Hauptschauplatz des Geschehens Rom wird in majestätischem Licht präsentiert: splendide Terrassen und Gemächern, ausgeklügelte Architekturen und die verborgene Schätze der Museen, die bei einem nächtlichen Rundgang ohne Publikum Revue passieren. Gambardella ist ein Mann mit Stil, der gelernt hat, dass Verzicht auf sexuell-emotive Angebote die reizvollere Variante sein kann, die geringe Lebenszeit zu
nutzen.
Würdenträger und Kirchenvertreter, buddhistische Mönche mit eingeschlossen, finden alle ihren wohlfeilen Platz in den üppigen Szenarien. Lediglich eine Gegenfigur kristallisiert sich: eine Mutter-Teresa-Gestalt, eine zahnlose nahezu Hundertjährige, die auf harten Boden schläft, wenig und immer das gleiche isst und auf Knien lange Treppen aufsteigt zu einer verehrten Hostie. Diese demütige Frau weigert sich, über sich zu sprechen. Zu dieser Frau pilgern in einer der
metaphorischen Schlüsselszenen Sorrentinos die Vertreter der Intelligentia und der etablierten Staats- und Kirchenmächte. Gewiss wirkt auch diese Verehrung lediglich wie eine weitere Variante der allgemeinen Perversion, ein Apercu, eine Anekdote dienlich für den nächsten Smalltalk. Die Verweigerung der alten Frau ist die einzige noch mögliche Geste der Selbsterhaltung.
Sorrentino stellt in diesem Panorama der Dekadenz die Sinnfrage: worauf kommt es an, was zählt noch im
Leben? Vielleicht stellt sich die Frage lediglich noch hier, wo Überlebenshast nicht mehr Thema ist. Die Antwort bleibt aus. Was bleibt ist der melancholische Blick Gambardellas auf die monetäre Vergeblichkeit. Sowohl in seiner ästhetischen Anlage wie durch seine Thematik kann La grande bellezza als Verlängerung und Aktualisierung von Federicos Fellinis La Dolce Vita (1960) gelesen werden.