17.01.2013
Cinema Moralia – Folge 55

Der japa­ni­sche Godard

Nagisa Oshima am Set
Nagisa Oshima am Set

»Diese Epoche wo wir treiben wie Medusen«: Erinnerungen an Nagisa Oshima– Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 55. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Diese Vitalität, die den Menschen eigen ist, die im Kerker einge­schlossen sind, den Krimi­nellen, die ... um zu leben sich unaus­weich­lich dem modernen Japan wider­setzen und sich die Stirn an ihm stoßen müssen, sie existiert in mir nicht.«
Nagisa Oshima am 24. Mai 1974 in seinem Tagesbuch

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Er sei der best­an­ge­zo­genste Regisseur gewesen, mit dem er je zusam­men­ge­ar­beitet habe – immerhin kein Gerin­gerer als David Bowie hat dies über Nagisa Oshima gesagt. Merry Christmas, Mr. Lawrence, dieser Bowie-Film von 1983 über die Bruta­lität eines japa­ni­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen­la­gers gehört zu den bekann­testen Filmen von Oshima, der am vergan­genen Dienstag im Alter von 80 Jahren in Fujisawa bei Tokio verstorben ist.

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Eine persön­liche Erin­ne­rung: 1992, es gab noch kein artechock, ich war kein Film­kri­tiker, ging aber als normaler Besucher mit der damals noch möglichen Dauer­karte aufs Filmfest München. Die Werkschau unter dem Titel »Das frühe Werk« zeigte zwar auch dieses nicht komplett, dürfte aber eine der ersten Retro­spek­tiven gewesen sein, die ich eini­ger­maßen verfolgt habe. Oshima, da war er gerade 60, war selber gekommen. Auch hier fiel auf, wie elegant er angezogen war. Es gab ein Podi­ums­ge­spräch und irgend­wann konnte man mit ihm reden. Wie er bisher die Tage verbracht habe, in München? Natürlich ging dieser universal gebildete Bürger ins Museum, um sich in der Pina­ko­thek die alten Meister anzu­schauen. Am nächsten Tag sei er dann nach Dachau gefahren, weil er unbedingt das NS-Konzen­tra­ti­ons­lager mit eigenen Augen sehen wollte. Nur in beidem, im Kunstsinn des Bildungs­bür­gers und in der Konfron­ta­tion mit dem Schrecken liegt der ganze Oshima.

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Da sah man dann Filme wie Nackte Jugend, Grab der Sonne, Nacht und Nebel über Japan (Nihon no Yoru to Kiri), dessen Titel bewusst als Echo von Alain Resnais' Auschwitz-Doku­men­ta­tion formu­liert war, mit denen Oshima um 1960 schlag­artig zur Führungs­figur der »Neuen Welle« Japans und geworden war, und zum Sprach­rohr einer Gene­ra­tion, die zu jung war, um im Krieg gekämpft zu haben, aber alt genug, um unter den spezi­ellen Span­nungen der japa­ni­schen Gesell­schaft zwischen dem Erbe des japa­ni­schen Mili­ta­rismus, die Folgen des Kriegs und der Atom­schläge von Hiroshima und Nagasaki, der Ameri­ka­ni­sie­rung Japans durch die US-Besatzung und den allge­meinen Verwer­fungen der Moder­nität zu leiden. Davon handeln seine frühen Filme. Da geht es um die junge Gene­ra­tion, die Rebellen der frühen 60er, das was bei uns mit ‘68 verbunden ist, was sich dort schon ein bisschen früher ereignete. Darin geht es auch um Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung Japans, um den poli­ti­schen Kampf gegen Wieder­be­waff­nung und Restau­ra­tion. Er hat sich sehr stark orien­tiert am europäi­schen Kino, an Rossel­lini, also am Neorea­lismus, dann auch an der Nouvelle Vague. Bald galt er als Führungs­figur der Shochiku New Wave als der »japa­ni­sche Godard«. Er hat Japan auch umgekehrt für die Europäer und das Europäi­sche geöffnet. Und wie Godard war auch Oshima ein großer Frau­en­re­gis­seur – während sein verehrter Landsmann Akira Kuriosawa, der vor allem von Hollywood beein­flusst war und später auf die USA zurück­wirkte, viel eher ein Männer­re­gis­seur war.

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Sitten­bilder vom Japan der 60er Jahre, außer Atem: Die Studentin Makoto fährt per Autostopp. Im Wagen eines Geschäfts­typen. Er fragt sie, warum sie nicht mit dem Zug fahre. Und sie antwortet: »Autos sind bequemer.« Als sie aussteigt, geht er ihr an die Wäsche. Der Film beginnt abrupt, und bleibt direkt und gradlinig. Man braucht einen Augen­blick, um zu reali­sieren, dass man schon mitten­drin im Geschehen ist. Kiyoshi, Student der Philo­so­phie, der auch gut mit der Faust argu­men­tiert, kommt zufällig vorbei und attakiert den Fahrer. Der gibt Geld für Schweigen. Kiyoshi und Makoto verlieben sich inein­ander und haben eine Arbeit: Sie prak­ti­zieren das so gut funk­tio­nie­rende Spiel fortan als Brot­er­werb. Mora­li­sche Skrupel kennen die rebel­li­schen Kids nicht. Haut den reichen Säcken halt einen rein! Ein Erwe­ckungs­er­lebnis – ein Film wie Nackte Jugend war ein Manifest aus Lebens­hunger und Frei­heits­durst.

Noch besser: Das Grab der Sonne, das auch symbo­lisch vom Untergang Japans handelt, vom Ende des »Land der aufge­henden Sonne«. »Die Grab­le­gung dieses Japan, in dem sie nicht mehr leben mögen – und gleich­zeitig die der reprä­sen­ta­tiven Kinoäs­thetik, die nationale und ameri­ka­ni­sche Elemente besonders intensiv verschmolzen hat.« schrieb Frieda Grafe. Resi­gna­tion und Wut, Unsi­cher­heit und Zweifel, Bonjour Tristesse!

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Geboren und aufge­wachsen in der alten Kaiser­stadt Kyoto studierte Oshima zunächst poli­ti­sche Geschichte an der Kyoto-Univer­sity, wo er bereits früh zum Führer einer linken Studen­ten­or­ga­ni­sa­tion wurde, und 1954 seinen Abschluß machte. Er wurde Film­kri­tiker, bald Heraus­geber der Zeit­schrift »Eiga Hihyo«, bevor er selber begann, Filme zu machen. Als Regie-Assistent bei den Shochiku Studios verdiente er sich erste Sporen. Es folgten weitere radikale Arbeiten wie Tod durch Erhängen (Kôshikei, 1968) und Tagebuch eines Shinjuku-Diebes (Shinjuku Dorobo Nikki, 1969)

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Zum Schick­sals­film Oshimas wurde aber Im Reich der Sinne (Ai no corrida) von 1976, diese einmalige Verschmel­zung von Sex und Gewalt, Kunst und Porno­gra­phie. 1976 lief sie auf der Berlinale, im Forum, das damals noch kämp­fe­risch und provo­kativ war, und spätes­tens, als ein Staats­an­walt auf die Idee kam, ihn beschlag­nahmen zu müssen – für ein paar Stunden, bevor ein Gericht diesen Zensurakt wieder aufhob – war Oshima auch hier­zu­lande berühmt. Es war die Zeit der Kino­sex­skan­dale. Das hat ihn nicht mehr losge­lassen. Auch jetzt wieder in allen möglichen Nachrufen ging es um diesen Film. Natürlich unver­dient. Denn Im Reich der Sinne ist zwar schon ein guter und wichtiger Film. Aber über den sind alle anderen Werke Oshimas vergleichs­weise in Verges­sen­heit geraten. Ob Im Reich der Sinne für das europäi­sche Kino wirklich so etwas Neues war, weiß ich nicht. Diese Gren­zü­ber­schrei­tung und Vermi­schung zwischen Kunst und Porno­gra­phie kannte man doch schon, v or allem von den auch nicht faschis­mus­un­ter­fah­renen Italie­nern: von Pier Paolo Pasolini, Laetitia Cavani, Lina Wert­müller oder auch Bernardo Berto­lucci. Und wie bei diesen redu­zierte man ein hoch­kom­plexes Stück über die Verbin­dung des Poli­ti­schen und des Sexuellen, der Erotik mit dem Faschismus auf das vermeint­lich Skan­dalöse des Gezeigten. Das Intel­lek­tu­elle, um das es Oshima zwei­fellos ging, wurde mal wieder ignoriert, gerade auch in Deutsch­land, wo man eigent­lich besser wusste, wissen musste, was es mit Faschismus auf sich hatte.

Juris­tisch gibt es diese Unter­schei­dung weiterhin natürlich bis heute, da hat der Film wiederum gar nichts bewirkt. Aber er war doch ein Durch­bruch für die Darstel­lung von Nacktheit um Sex im Autoren­kino. hinter diesen Film konnte man nicht zurück. Oshima hat trotzdem immer darauf hinge­wiesen, dass diese Tabus, die er in dem Film angeblich gebrochen hat, in der tradi­tio­nellen japa­ni­schen Kultur gar nicht exis­tieren, dass diese im Grunde erst durch die Moder­ni­sie­rung, im modernen Japan und auch durch den ameri­ka­ni­schen Puri­ta­nismus nach Japan gewis­ser­maßen impor­tiert worden sind. Zudem bewerten wir wohl manches über. Denn im japa­ni­schen Kino geht es immer anders um Sexua­lität, weil das Verhältnis zu ihr dort ein ganz anderes ist.

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Gren­zü­ber­schrei­tungen und Tabu­brüche haben ihn ansonsten durchaus inter­es­siert. Noch die Groteske Max, mon amour, in der Charlotte Rampling die Gattin des briti­schen Botschaf­ters spielt, die sich im Wortsinn in einen Affen verliebt, noch sein letzter Film Tabu, der von einem schwulen Samurai handelt. Jeden­falls die Tabus des Japa­ni­schen, der japa­ni­schen Kultur. Die hat er ange­griffen. Und auch schon im erwähnten Merry Christmas, Mr. Lawrence – der erzählt von den Verbre­chen in einem japa­ni­schen Kriegs­ge­fan­ge­nen­lager und den Verbre­chen an den Kriegs­ge­fan­genen, und er handelt dabei auch von der unter­grün­digen Homo­se­xua­lität des Faschismus, in der Verbin­dung mit dem japa­ni­schen Faschismus.

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Oshima war Links­in­tel­lek­tu­eller, Pazifist, Gegner der Todes­strafe, Rebell und Provo­ka­teur. Einmal trat er im Kino als Schau­spieler auf, natürlich bei Chris Marker, in dessen Leven Five.
Rituale sind in seinem Kino sehr wichtig. Die spielen auch bei Im Reich der Sinne eine ganz zentrale Rolle. Die Tradition hat er geschätzt, sie ist aber zugleich für ihn auch etwas gewesen, das man atta­ckieren muss: »Diese Tristesse, wird sie die Krankheit unserer Epoche, dieser Epoche wo wir hin und her treiben wie die Medusen, in einer kontrol­lierten und diri­gierten Gesell­schaft? Oder kann am Ende das mensch­liche Wesen, wenn es altert – ein ewiger Prozeß –, nur Unge­wiss­heit anstelle von Gewiss­heit finden? Ich kann das nicht klären ... deshalb meine tiefe Trau­rig­keit.« (Nagisa Oshima)

(To be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.