Cinema Moralia – Folge 55
Der japanische Godard |
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Nagisa Oshima am Set |
»Diese Vitalität, die den Menschen eigen ist, die im Kerker eingeschlossen sind, den Kriminellen, die ... um zu leben sich unausweichlich dem modernen Japan widersetzen und sich die Stirn an ihm stoßen müssen, sie existiert in mir nicht.«
Nagisa Oshima am 24. Mai 1974 in seinem Tagesbuch
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Er sei der bestangezogenste Regisseur gewesen, mit dem er je zusammengearbeitet habe – immerhin kein Geringerer als David Bowie hat dies über Nagisa Oshima gesagt. Merry Christmas, Mr. Lawrence, dieser Bowie-Film von 1983 über die Brutalität eines japanischen Kriegsgefangenenlagers gehört zu den bekanntesten Filmen von Oshima, der am vergangenen Dienstag im Alter von 80 Jahren in Fujisawa bei Tokio verstorben ist.
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Eine persönliche Erinnerung: 1992, es gab noch kein artechock, ich war kein Filmkritiker, ging aber als normaler Besucher mit der damals noch möglichen Dauerkarte aufs Filmfest München. Die Werkschau unter dem Titel »Das frühe Werk« zeigte zwar auch dieses nicht komplett, dürfte aber eine der ersten Retrospektiven gewesen sein, die ich einigermaßen verfolgt habe. Oshima, da war er gerade 60, war selber gekommen. Auch hier fiel auf, wie elegant er angezogen war. Es gab ein Podiumsgespräch und irgendwann konnte man mit ihm reden. Wie er bisher die Tage verbracht habe, in München? Natürlich ging dieser universal gebildete Bürger ins Museum, um sich in der Pinakothek die alten Meister anzuschauen. Am nächsten Tag sei er dann nach Dachau gefahren, weil er unbedingt das NS-Konzentrationslager mit eigenen Augen sehen wollte. Nur in beidem, im Kunstsinn des Bildungsbürgers und in der Konfrontation mit dem Schrecken liegt der ganze Oshima.
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Da sah man dann Filme wie Nackte Jugend, Grab der Sonne, Nacht und Nebel über Japan (Nihon no Yoru to Kiri), dessen Titel bewusst als Echo von Alain Resnais' Auschwitz-Dokumentation formuliert war, mit denen Oshima um 1960 schlagartig zur Führungsfigur der »Neuen Welle« Japans und geworden war, und zum Sprachrohr einer Generation, die zu jung war, um im Krieg gekämpft zu haben, aber alt genug, um unter den speziellen Spannungen der japanischen Gesellschaft zwischen dem Erbe des japanischen Militarismus, die Folgen des Kriegs und der Atomschläge von Hiroshima und Nagasaki, der Amerikanisierung Japans durch die US-Besatzung und den allgemeinen Verwerfungen der Modernität zu leiden. Davon handeln seine frühen Filme. Da geht es um die junge Generation, die Rebellen der frühen 60er, das was bei uns mit ‘68 verbunden ist, was sich dort schon ein bisschen früher ereignete. Darin geht es auch um Vergangenheitsbewältigung Japans, um den politischen Kampf gegen Wiederbewaffnung und Restauration. Er hat sich sehr stark orientiert am europäischen Kino, an Rossellini, also am Neorealismus, dann auch an der Nouvelle Vague. Bald galt er als Führungsfigur der Shochiku New Wave als der »japanische Godard«. Er hat Japan auch umgekehrt für die Europäer und das Europäische geöffnet. Und wie Godard war auch Oshima ein großer Frauenregisseur – während sein verehrter Landsmann Akira Kuriosawa, der vor allem von Hollywood beeinflusst war und später auf die USA zurückwirkte, viel eher ein Männerregisseur war.
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Sittenbilder vom Japan der 60er Jahre, außer Atem: Die Studentin Makoto fährt per Autostopp. Im Wagen eines Geschäftstypen. Er fragt sie, warum sie nicht mit dem Zug fahre. Und sie antwortet: »Autos sind bequemer.« Als sie aussteigt, geht er ihr an die Wäsche. Der Film beginnt abrupt, und bleibt direkt und gradlinig. Man braucht einen Augenblick, um zu realisieren, dass man schon mittendrin im Geschehen ist. Kiyoshi, Student der Philosophie, der auch gut mit der Faust argumentiert, kommt zufällig vorbei und attakiert den Fahrer. Der gibt Geld für Schweigen. Kiyoshi und Makoto verlieben sich ineinander und haben eine Arbeit: Sie praktizieren das so gut funktionierende Spiel fortan als Broterwerb. Moralische Skrupel kennen die rebellischen Kids nicht. Haut den reichen Säcken halt einen rein! Ein Erweckungserlebnis – ein Film wie Nackte Jugend war ein Manifest aus Lebenshunger und Freiheitsdurst.
Noch besser: Das Grab der Sonne, das auch symbolisch vom Untergang Japans handelt, vom Ende des »Land der aufgehenden Sonne«. »Die Grablegung dieses Japan, in dem sie nicht mehr leben mögen – und gleichzeitig die der repräsentativen Kinoästhetik, die nationale und amerikanische Elemente besonders intensiv verschmolzen hat.« schrieb Frieda Grafe. Resignation und Wut, Unsicherheit und Zweifel, Bonjour Tristesse!
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Geboren und aufgewachsen in der alten Kaiserstadt Kyoto studierte Oshima zunächst politische Geschichte an der Kyoto-University, wo er bereits früh zum Führer einer linken Studentenorganisation wurde, und 1954 seinen Abschluß machte. Er wurde Filmkritiker, bald Herausgeber der Zeitschrift »Eiga Hihyo«, bevor er selber begann, Filme zu machen. Als Regie-Assistent bei den Shochiku Studios verdiente er sich erste Sporen. Es folgten weitere radikale Arbeiten wie Tod durch Erhängen (Kôshikei, 1968) und Tagebuch eines Shinjuku-Diebes (Shinjuku Dorobo Nikki, 1969)
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Zum Schicksalsfilm Oshimas wurde aber Im Reich der Sinne (Ai no corrida) von 1976, diese einmalige Verschmelzung von Sex und Gewalt, Kunst und Pornographie. 1976 lief sie auf der Berlinale, im Forum, das damals noch kämpferisch und provokativ war, und spätestens, als ein Staatsanwalt auf die Idee kam, ihn beschlagnahmen zu müssen – für ein paar Stunden, bevor ein Gericht diesen Zensurakt wieder aufhob – war Oshima auch hierzulande berühmt. Es war die Zeit der Kinosexskandale. Das hat ihn nicht mehr losgelassen. Auch jetzt wieder in allen möglichen Nachrufen ging es um diesen Film. Natürlich unverdient. Denn Im Reich der Sinne ist zwar schon ein guter und wichtiger Film. Aber über den sind alle anderen Werke Oshimas vergleichsweise in Vergessenheit geraten. Ob Im Reich der Sinne für das europäische Kino wirklich so etwas Neues war, weiß ich nicht. Diese Grenzüberschreitung und Vermischung zwischen Kunst und Pornographie kannte man doch schon, v or allem von den auch nicht faschismusunterfahrenen Italienern: von Pier Paolo Pasolini, Laetitia Cavani, Lina Wertmüller oder auch Bernardo Bertolucci. Und wie bei diesen reduzierte man ein hochkomplexes Stück über die Verbindung des Politischen und des Sexuellen, der Erotik mit dem Faschismus auf das vermeintlich Skandalöse des Gezeigten. Das Intellektuelle, um das es Oshima zweifellos ging, wurde mal wieder ignoriert, gerade auch in Deutschland, wo man eigentlich besser wusste, wissen musste, was es mit Faschismus auf sich hatte.
Juristisch gibt es diese Unterscheidung weiterhin natürlich bis heute, da hat der Film wiederum gar nichts bewirkt. Aber er war doch ein Durchbruch für die Darstellung von Nacktheit um Sex im Autorenkino. hinter diesen Film konnte man nicht zurück. Oshima hat trotzdem immer darauf hingewiesen, dass diese Tabus, die er in dem Film angeblich gebrochen hat, in der traditionellen japanischen Kultur gar nicht existieren, dass diese im Grunde erst durch die Modernisierung, im modernen Japan und auch durch den amerikanischen Puritanismus nach Japan gewissermaßen importiert worden sind. Zudem bewerten wir wohl manches über. Denn im japanischen Kino geht es immer anders um Sexualität, weil das Verhältnis zu ihr dort ein ganz anderes ist.
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Grenzüberschreitungen und Tabubrüche haben ihn ansonsten durchaus interessiert. Noch die Groteske Max, mon amour, in der Charlotte Rampling die Gattin des britischen Botschafters spielt, die sich im Wortsinn in einen Affen verliebt, noch sein letzter Film Tabu, der von einem schwulen Samurai handelt. Jedenfalls die Tabus des Japanischen, der japanischen Kultur. Die hat er angegriffen. Und auch schon im erwähnten Merry Christmas, Mr. Lawrence – der erzählt von den Verbrechen in einem japanischen Kriegsgefangenenlager und den Verbrechen an den Kriegsgefangenen, und er handelt dabei auch von der untergründigen Homosexualität des Faschismus, in der Verbindung mit dem japanischen Faschismus.
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Oshima war Linksintellektueller, Pazifist, Gegner der Todesstrafe, Rebell und Provokateur. Einmal trat er im Kino als Schauspieler auf, natürlich bei Chris Marker, in dessen Leven Five.
Rituale sind in seinem Kino sehr wichtig. Die spielen auch bei Im Reich der Sinne eine ganz zentrale Rolle. Die Tradition hat er geschätzt, sie ist aber zugleich für ihn auch
etwas gewesen, das man attackieren muss: »Diese Tristesse, wird sie die Krankheit unserer Epoche, dieser Epoche wo wir hin und her treiben wie die Medusen, in einer kontrollierten und dirigierten Gesellschaft? Oder kann am Ende das menschliche Wesen, wenn es altert – ein ewiger Prozeß –, nur Ungewissheit anstelle von Gewissheit finden? Ich kann das nicht klären ... deshalb meine tiefe Traurigkeit.« (Nagisa Oshima)
(To be continued)
Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beobachtungen, Kurzkritiken, Klatsch und Filmpolitik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kinogehers.