18.04.2013
Cinema Moralia – Folge 59

Nassrasur für die deutsche Kino­branche

The Big Shave
Szene aus Martin Scorseses The Big Shave

Besser eine schlechte Projektion, als gar keine; dem deutschen Film täte ein Big Shave aber jedenfalls gut: Alan Posener und Martin Scorseses – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogehers, 59. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Alan Posener ist einfach großartig! Einer der besten Zeitungs-Autoren Deutsch­lands, genau, weil er eben spürbar unab­hängig ist, eine Nerven­säge im besten Sinn, ein Provo­ka­teur, und nach wie vor – unver­dient – ein Geheimtip, weil er halt in der »Welt« schreibt, und man die – aus Gründen, für die er nichts kann – nur im Flugzeug liest, oder gele­gent­lich im Hotel. Man muss sich auch wirklich nicht für den Post-Papst Ratzinger und den Vatikan inter­es­sieren, über den er zwei Bücher geschrieben hat, um seine Texte über so ein esote­ri­sches Sujet mit Gewinn zu lesen. Man muss auch seine Ansichten nicht immer teilen, zum Beispiel die, dass es sich bei der jüngst verstor­benen Margaret Thatcher um eine Revo­lu­ti­onärin handelt, die die Bedin­gungen für »Cool Britannia« schuf, dafür, dass eine neue Ober­schicht aus Popstars, Sportlern, Jour­na­listen und Künstlern das Gesicht des Uniteed Kingdom prägte. Aber auch in diesem Text finden einige groß­ar­tige, sehr zutref­fende, brillante Posener-Sätze und -Gedanken, wie den: »Damien Hirsts Haifisch in Fomaldehyd kann als Porträt Thatchers durch­gehen, seine zersägte Kuh als Symbol eines Landes, in dem ›die Menschen gezwungen sind, einander mit nüch­ternen Augen anzusehen‹. Oder den: ›Karl Marx hätte in ihr die Geis­tes­ver­wandte erkannt‹. Darauf muss man erst mal kommen, stimmt aber natürlich, weil beide von verschie­denen Ecken kommend an die Abschaf­fung des Staates geglaubt und an ihr gear­beitet haben.
Und die Welt die müsste man eigent­lich auch nicht lesen – gäbe es da nicht eben Alan Posener. Der ist der Solitär der ›Welt‹, darf scheinbar alles, und macht es auch. Vor ein paar Jahren hat er – in Springers ›Welt‹!!! – die Wahrheit über Springer-Alpha-Tier Kai Dieckmann geschrieben – ›Schein­hei­lig­keit‹,
›nied­rigste Instinkte‹ – und irgendwie überlebt.«

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Jetzt, heute, hat Posener mit der Unschuld dessen, der vor Außen einen unvor­ein­ge­nommen Blick auf die Verhält­nisse wirft, sich der deutschen Film­för­de­rung ange­nommen: »Zu Tode gefördert« ist sein tref­fender Beitrag in der heutigen »Welt« über­schrieben. Darin stellt er die »relativ beschei­denen« Summen, die in Deutsch­land für die Subven­tio­nie­rung der Film­in­dus­trie ausge­geben werden, den Kosten der Film­för­de­rung gegenüber.

24 Anstalten »mit Chefs und Vizechefs, PR-Leuten, Chef­se­kre­tärinnen und Reini­gungs­kräften, Dien­st­reisen nach Hollywood, Venedig, Berlin, Hof und Ober­hausen, Eröff­nungs­an­spra­chen, Meetings, Business Lunches, dem ganzen Brim­bo­rium der Büro­kratie halt« verwalten die im Welt­maß­stab »Peanuts« – 200 Mio Euro kostete Der Hobbit – Eine uner­war­tete Reise allein. Poseners hübsch zynisches Fazit: »Eine Arbeits­be­schaf­fungs­maß­nahme für Leute, die es in der wirk­li­chen Welt nicht einmal zu Film­kri­ti­kern, geschweige denn Regis­seuren gebracht hätten.«

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Mit dem Blick des Unschul­digen erkennt Posener die Realität. Sein Text ist einer der tref­fensten Texte zur deutschen Film­för­de­rung seit Menschen­ge­denken, eine Entlar­vungs­la­wine wie seiner­zeit Joe Hembus' »Der deutsche Film kann gar nicht besser sein.«
Wir zitieren: »Der Vielzahl der Förderer entspricht aufseiten der Branche eine Vielzahl von Lobby­or­ga­ni­sa­tionen. Deren Wirken konnte man am Montag begut­achten. Da gab es im Deutschen Bundestag eine Anhörung zur geplanten Novel­lie­rung des Film­för­de­rungs­ge­setzes. Dazu wurden 14 ›Sach­ver­s­tän­dige‹ geladen – nicht etwa Leute, die etwas von der Sache verstehen, also wie man gute Filme macht oder Geld gewinn­brin­gend einsetzt, Erfolgs­re­gis­seure oder Invest­ment­banker, sondern Lobby­isten, die kollektiv für die fort­dau­ernde Misere des deutschen Films verant­wort­lich sind.«

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Über ARD und ZDF schreibt Posener: »zuständig fürs Verpul­vern deutscher Rund­funk­ge­bühren in volks­pä­d­ago­gi­schen Mons­ter­pro­duk­tionen und für den Beweis, dass man es über Jahre hinweg mit viel Geld schaffen kann, nicht eine einzige sehens­werte TV-Serie auf die Beine zu bringen, ohne dass irgend­je­mand dafür zur Verant­wor­tung gezogen wird«, über die soge­nannte »Allianz« deutscher Produ­zenten »Zuständig für Leute wie David Groe­ne­wold«. Das war der der angeklagt ist, Christian Wulff bestochen zu haben. »Schon bei der Aufzäh­lung fallen einem die Augen zu. ... Dass auch und gerade im Film die Regel gilt: no risk, no fun; dass der ganze Trübsinn des deutschen Films damit zu tun haben könnte, dass er zu Tode gefördert wird, dass künst­le­ri­scher Anspruch und pädago­gi­sche Absicht ... belohnt werden, das kam bei der Anhörung nicht zur Sprache. Woher auch? Alle Lobby­gruppen hatten Vertreter geschickt, nur nicht die zwei wich­tigsten: die Steu­er­zahler und das Publikum.
Chapeau Kollege – schade, dass Alan Posener nicht für artechock schreibt – er hätte die richtige Einstel­lung.«

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Am Neben­tisch Gespräche über 60-jährige und ihre 20 Jahre jüngeren Freun­dinnen und Natur­kos­metik.

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Es ist eines dieser Gebäude, von denen man, auch wenn man sich etwas auskennt, nicht ganz sicher sagen kann, ob sie nun faschis­tisch sind oder doch neoklas­sisch, oder einfach preußisch, – ist ja eh fast dasselbe – oder eben ein Mix aus allem, von dem 1945 nur die Fassade übrig geblieben ist, und die wurde dann in den 50ern solide ausgebaut. Wahr­schein­lich Letzteres. Jeden­falls aber das Italie­ni­sche Kultur­in­stitut, auf der linken Seite der italie­ni­schen Botschaft, zwischen.
Vorne Tier­garten und Türken­grill, hinten gerade mal wieder eine dieser nervenden egei­er­li­chen, also öffentl­chen Gelöb­nisse der Bundes­wehr. Nervig, das will dann ja auch gesagt werden, weil ich etwa gegen die Bundes­wehr wäre – da war ich selber – sondern weil zwischen Afgha­ni­stan und so Latri­nen­putzen vom Bürger in Uniform nicht viel übrig ist, und die so verun­si­chert sind,
dass sie überall kompen­sa­to­risch präpo­tente Präsenz zeigen müssen, und 20-jährige Poli­zis­tinnen mit fetten schuss­si­cheren Westen nötig sind um unsere Vater­lands­ver­tei­diger zu schützen.

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Da findet dann ein Gespräch zur Scorsese-Austel­lung statt, die gerade in der Deutschen Kine­ma­thek-Berlin statt­findet. Der New Yorker Regisseur (geb. 1942) ist einer der großen Film­künstler der Gegenwart. Scorsese, einer der wich­tigsten Vertreter des italo­ame­ri­ka­ni­schen Kinos begann im Rahmen von »New Hollywood« gemeinsam mit Steven Spielberg, Francis Ford Coppola und Brian DePalma das US-Kino in seiner größten Krise von Innen zu erneuern.

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Im Januar war ich bereits mit Freundin Coco dort. Wenn man sich mit ihr unterhält, dauert es nicht lang, und man ist mitten in einem Gespräch über irgend­einen neuen Film, über das Kino an sich und das Leben, denn das eine ist vom anderen natürlich nicht zu trennen.
Als wir das Berliner Filmhaus erreicht haben, und die Ausstel­lung betreten, fällt einem mehr als »Krass!« zunächst nicht ein, zu baff ist man ange­sichts The Big Shave, Scorsese frühem Kurzfilm, der den Besucher völlig unvor­be­reitet direkt hinter dem Eingang überfällt, noch bevor man auch nur Zeit hatte, sich die erste Texttafel durch­zu­lesen: Ein Mann rasiert sich nass vor dem Spiegel, und die Prozedur wird immer blutiger, während es der Mann offen­kundig unbe­tei­ligt hinnimmt, und mündet schließ­lich in einen Schnitt durch die eigene Kehle. »Ein unglaub­lich toller Kurzfilm«, so müsste man Filme machen können! Gleich im nächsten Raum dann rührende Fami­li­en­szenen: Scorsese inter­viewt seine Eltern, bei Pasta, Rotwein und Gurken­salat. Aufmerksam betrachten wir alte, verges­sene Technik auf den Photos und die Kostüme, zum Beispiel von Robert De Niro in Taxi Driver. »Wie klein Schau­spieler sind! Der geht mir ja gerade bis hier« sagt Coco und tippt an ihre Schultern.

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Die Konfron­ta­tion mit Scorseses Werk lässt einem gar keinen Ausweg, als relativ schnell mit deutschen Zuständen zu verglei­chen. Warum ist ein solches Werk bei uns undenkbar? Warum haben selbst gestan­dene und verdiente Filme­ma­cher wie Schlön­dorff und Wenders, um von Solitären wie Klaus Lemke oder Edgar Reitz ganz zu schweigen, nicht die Möglich­keit, mit ähnlicher Schnel­lig­keit und Freiheit zu arbeiten? Die deutsche Film­för­de­rung ist da ebenso ein Thema, wie die Produ­zen­ten­land­schaft. Auch sie, Schau­spie­lerin und Regis­seurin, hat sich lange bemüht, ihren neuen, den dritten Spielfilm zu finan­zieren und die richtigen Produ­zenten zu finden. Gerade sieht es wieder ganz gut aus. Über ihr neues Projekt kann man öffent­lich noch nicht reden, aber es wird so kompro­misslos mutig und heraus­for­dernd werden, wie ihre bishe­rigen Arbeiten. Nach wie vor arbeitet sie als Schau­spie­lerin, aber noch span­nender ist es, eigene Filme zu machen.

Die Scorsese-Ausstel­lung macht klar, dass dieser Regisseur nur aus seinem Umfeld zu verstehen ist – der ameri­ka­ni­schen Einwan­der­er­kultur und New York. Das deutsche Pendant zu den Italo­ame­ri­cans wären die Deutsch­türken. »Fatih Akin bezieht sich ja immer wieder auf Scorsese«. Was aber wäre das deutsche New York? Der größte und spek­ta­kulärste Raum der Ausstel­lung zeigt einen großen Stadtplan, der die Orte mit kurzen Szenen illus­triert. New York wird gewis­ser­maßen filmisch karto­gra­phiert. Bis wir Deutschen uns unsere Geschichte ähnlich dicht im Kino erzählen, ist es noch ein langer Weg. »Von Scorsese und Tarantino können wir alles lernen: Wie man Filme machen, und wie man sie angucken sollte.«

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Das gestrige Gespräch zur Scorsese-Ausstel­lung wurde zunächst einge­leitet von dem wunder­baren Portrait, das Scorsese 1974 über seine Eltern gedreht hat: Italian/American. Das ist ein selten zu sehendes 45-Minuten-Stück – darum muss man den Veran­stal­tern wohl verzeihen, dass es vor immerhin 80-90 Zuschauern in desas­tröser Qualität von einer DVD herun­ter­ge­beamt wurde. Farben verzerrt, Ton verzerrt, über­be­lichtet, so klein, das es von hinten kaum zu erkennen war. es stimmte fast nichts. Natürlich gilt: Besser eine schlechte Projek­tion, als gar keine. Eigent­lich kann man das aber mit Scorsese, einem Mann, der extrem viel Wert auf Details und Qualität legt, nicht machen. Und ob sich die Deutsche Kine­ma­thek mit solchen Dingen einen Gefallen tut...

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Entschä­digen konnte dafür immerhin der herrliche Film, den ich auch noch nicht kannte, und die anschließende Diskus­sion. Italian/American zeigt vor allem Scorseses Eltern bei sich zuhause, im Gespräch mit dem Sohn und mit sich, beim Essen, beim Fotos vorzeigen. Die Mama in der Küche kocht ihre berühmte beste Pasta-Sauce, im Wohn­zimmer ist das Sofa mit einer durch­sich­tigen Plas­tik­folie überzogen.
Die Eltern erzählen von ihren Eltern, 1910 ist man aus Sizilien emigriert, die Arbeit war hart, das Leben auch. Sie erzählen vom Leben einer 11-köpfigen Familie in einer Drei­zim­mer­woh­nung, dem 10 Cent Kaffee, dem 45 Dollar Wochen­lohn, dem ersten Radio und Beginn der »Radio Days« (Woody Allen), in denen der Hörfunk die Jugend so kulturell sozia­li­sierte wie später Fernsehen und heute Internet.

Es geht auch um die anderen Einwan­derer-Commu­ni­ties, die die zuerst da waren, wie die Iren und die, die gleich­zeitig kamen: Die Juden und die Chinesen. Es gab Revier­kämpfe und brüchige Bündnisse; sie alle saßen im gleichen Boot: Outsider im protes­tan­ti­schen Amerika. Geduldet, lange nicht geliebt, und bis heute in einer Sonder­rolle. Es gab in Gottes eigenem Land der Freien und Gleichen zwar schon einen schwarzen US-Präsi­denten, aber noch keinen Italo­ame­ri­kaner, keinen Juden oder Chinesen, und auch erst einen irischen Katho­liken (Kennedy), und der wurde ermordet.

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Italian/American ist ein Denkmal Scorsese für seine Eltern und ein kluges, facet­ten­rei­ches Portrait von Little Italy, jenes Mikro­kosmos, in dem noch Scorsese aufwuchs, und der nach eigenen Regeln funk­tio­niert. Dort gilt das Gesetz der Straße, die Moral der Kirche und die Festig­keit der Fami­li­en­struk­turen. So ist dies auch eine gut beob­ach­tete Darstel­lung des Milieus, aus dem Anfang der 70er auch die Filme­ma­cher Brian De Palma, Francis Ford Coppola, Michael Cimino und Abel Ferrara kamen, Robert De Niro, aber auch der irischen Katho­liken Paul Schrader und Harvey Keitel und der Juden Jay Cox, Steven Spielberg und Woody Allen mit denen allen Scorsese befreundet ist und oft schon zusam­men­ar­bei­tete.

Vergessen wir nicht, dass Scorsese auch über die Iren und die Juden Amerikas schon Filme gemacht hat – Gangs of New York, The Age of Innocence, bzw. Casino – und das man Italian/American auch als Kommentar zu Coppolas The Godfather verstehen kann, der zur gleichen Zeit entstand, und vor dem Hinter­grund einordnen muss wie Sergio Leones Once Upon a Time in America (der auch nicht von New Yorker Italie­nern handelt, sondern von Juden) und Scorseses eigene Spiel­filme.

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Italian/American ist auch ein Schlüs­sel­film für Scorsese, der alle seine Themen versam­melt: Die Familie, der Katho­li­zismus, die Mean Streets, New York, den Einzelnen und die Gesell­schaft, die Liebe und den Tod und das kleine Glück dazwi­schen.
Die anschließende Diskus­sion war spannend, obwohl der männliche Teil des Ausstel­lungs­ku­ra­to­riums jeden Satz mit der Floskel »Wir zeigen in unserer Ausstel­lung ja auch...« einlei­tete, vor allem weil die Filme­ma­cherin Wilma Pradetto, die 1992 ein drei­mo­na­tiges Regie­prak­tikum am Set von The Age of Innocence gemacht hatte, sehr plastisch von Scorseses Person erzählte: Dass er jeden – jeden! – Tag mindes­tens fünf Filme anguckt, auch am Set in den Pausen; wie er sein Umfeld auf sein Film­wissen abcheckt, testet, wie er mit der Sprache des Kinos kommu­ni­ziert – »Hey Wilma, Farewell my lovely« (Wer’s versteht und mir ne Mail schreibt, bekommt das Saucen­re­zept von Mama Scorsese als Belohnung) – wie er permanent unter Strom steht, unter Stress und Körper­span­nung, schneller redet, isst und arbeitet als alle um ihn herum; wie er am Set an seinem Tisch einen Autorück­spiegel befestigt hat, um zu sehen, was hinter ihm vorgeht... Und so weiter.

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In den nächsten Wochen dazu noch viel mehr. Die Scorsese-Ausstel­lung, die aller­erste für diesen Meis­ter­re­gis­seur, ist großartig und läuft noch bis zum 12. Mai. Später dann in Turin und im Jahr 2015 in Paris. Und wer gerade eh in Berlin ist, könnte sich am Sonntag um 21 Uhr im Roten Salon der Volks­bühne Varia­tionen über die musi­ka­li­schen Werke des italie­ni­schen Kinos anhören, die unter dem Titel »D’amore e D’anarchia« von Lucia Chiarla darge­boten werden, mit Akira Ando, Vito Cassano und Andrea Marcelli an den Instru­menten.

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Eines noch hier. Dieser Tage wird das Programm von Cannes bekannt gegeben. Wir werden auch aktuell berichten und erlauben uns hiermit schon mal ein paar naseweise Speku­la­tionen über’s Lineup des Kino-Mekkas: Baz Lurmann’s The Great Gatsby nach F. Scott Fitz­ge­rald, aber in 3-D (oh Gott, was soll das denn werden) ist ja schon klar. Ebenso, dass Sofia Coppola in Cannes kein Glück hat, und – nachdem 2006 bereits Marie Antoi­nette sträflich unter Wert gewürdigt wurde – nun gar »nur« in Un Certain Regard läuft.

Gesetzt ist Cannes-Entde­ckung Nicholas Winding Refn mit seinem nach Wong Kar-wai ausse­henden Only God Forgives. Ebenso Asghar Farhadi, den Cannes jetzt der Berlinale abspenstig machen will. Ich glaube, dass allen Prognosen zum Trotz der fran­zö­si­sche Film Grace of Monaco mit Nicole »die Lippe« Kidman, nicht im Wett­be­werb laufen wird, ebenso nicht Pedro Almodóvar, der hier keine Preise gewinnt, auch nicht Ozon, auch nicht Lars von Trier mit Nympho­ma­niac, auch nicht Claire Denis. Die hat noch die besten Chancen, aber mein Bauch­ge­fühl glaubt nicht dran.

Dafür werden andere tolle fran­zö­si­sche Regis­seure laufen, die bisher unter­schätzt wurden: Zum Teil chronisch, wie Arnaud Desplechin, dem man endlich einen ganz großen Erfolg wünschte; Catherine Breillat; letztere viel­leicht außer Konkur­renz, und Arnaud des Pallières, der noch nie in einem A-Wett­be­werb war, jetzt aber mit der Kleist-Verfil­mung Michael Kohlhaas einen deutschen Stoff gemacht hat, mit mehr­heit­lich fran­zö­si­schem Geld, weil das, wie Sokurovs Faust mal wieder den deutschen Fördern zu hoch und zu »intel­lek­tuell« (was die Film­branche hier­zu­lande schon so als »intel­lek­tuell« bezeichnet) war. Die machen – s.o. – halt lieber Hanni und Nanni 3 und schicken dann aber gern 'ne fette Pres­se­mit­tei­lung voller Begeis­te­rung über die paar Cents, mit denen sie sich noch auf den roten Teppich gekauft haben. Michael Kohlhaas ist übrigens die erste Kino­ver­fil­mung des tollen Stoffes nach Schlön­dorffs einzigem Film, den er sich weigert auf DVD heraus­zu­bringen (und wer doch eine hat, versteht, warum). Und es ist wieder ein deutscher Klassiker aus dem Ausland: nach zwei Rohmer-Filmen nach Kleist, nach Tavianis Wahl­ver­wandt­schaften. Das deutsche Kino bleibt dagegen bei Goethe! stehen.

Steven Soder­bergh’s letzter Film (oder erste Fern­seh­ar­beit) Behind the Cande­labra, ein Biopic über Liberace mit Michael Douglas und Matt Damon als schwules Paar, außer Konkur­renz wie Woody Allen.
Ich tippe auch auf Atom Egoyan, Ari Folman, James Grey, Bong Joon-ho, Paolo Sorren­tino, die Coen-Brüder und Terrence Malick, der offenbar gerade alles rauslässt, was sich lange aufge­staut hat. Je nachdem wie es um diese Ameri­kaner steht, haben Kelly Reichardt und Alexander Payne auch ihre (Außen­seiter-)Chancen.

(to be continued)

Unter dem Titel »Cinema Moralia« sind hier in loser Folge Notizen zum Kino zu finden, aktuelle Beob­ach­tungen, Kurz­kri­tiken, Klatsch und Film­po­litik, sowie Hinweise. Eine Art Tagebuch eines Kino­ge­hers.