30. Filmfest München 2013
Le Tarot de Filmfest München |
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(Un-) Gerechtigkeit: Love Steaks | ||
(Foto: daredo GmbH / BeMovie Medienproduktion und Vertrieb GmbH) |
Von Anna Edelmann & Thomas Willmann
Er hat den Vorteil, kein Filmemacher zu sein – sondern jemand, der auch Filme macht, wenn ihm danach ist. Und ganz wie ihm danach ist. Helge Schneider kann sich raushalten aus dem kompletten Betrieb, er hat keinerlei Karriere-Kompromisse nötig. Und er hat den Vorteil, dass man ihn als Regisseur unterschätzt, weil: »Er ist ja nur Komiker und Musiker.«
Nun ist 00 Schneider – Im Wendekreis der Eidechse kein solches Meisterwerk wie Jazzclub. Aber man spürt auch hier eine verblüffend umfassende Kenntnis von Kino und Klassikern – der Film scheint durchdrungen, getränkt von allen Polizeifilmen der Kinogeschichte, mit einem besonderen Faible für die Ära Melvilles, für das französische und italienische Genre der 1950er bis 70er. Und er sieht wunderschön aus: Er ist auf Super 16mm gedreht, hat eine Wärme und Patina, die ihn schon visuell über die meisten anderen Filme des Festivals erhebt.
Vor allem aber hat Schneider, unter der Schutzbehauptung des Humors, eine Narren-Freiheit zum Nicht-Narrativen, Obsessiven, dazu, seinen Schrullen nachzugehen und auch einfach mal nur ein paar Minuten stumme Tanzeinlage zu bieten, die in Wirklichkeit mehr Surrealismus ist als Klamauk. Unter all den Regisseuren des Festivals ist es womöglich ausgerechnet Helge Schneider, den man als den legitimsten Geistesverwandten Alejandro Jodorowskys ansehen kann.
Der undurchschaubare, bebrillte Blick des alten Meisters betört uns vom Cover des Filmfestmagazins. In der Black Box verrät der Magier ein Zunftgeheimnis: Wer auf der Leinwand dominant wirken will, darf nicht blinzeln. Ein echter Mann kneift nicht.
Michael Caine ist in Plauderlaune. Er als Stargast ist eine echte Zierde für das Filmfest München: Unbestreitbar einer der Großen – der diese Größe aber mit selbstsicherer Gelassenheit trägt. Der mit 80 Jahren noch immer eine enorme Coolness und Anziehungskraft ausstrahlt – aber in sich auch noch immer Maurice Micklewhite, den armen Jungen aus den Arbeitervierteln Londons, trägt und den Respekt vor den Legenden, mit denen er selbst zusammengearbeitet hat.
Er ist ein unerschöpflicher Quell von Anekdoten, die er beim Publikumsgespräch mehr als nur bereitwillig zum Besten gibt. Er erzählt von den Zeiten, in denen ihm Sir Laurence Olivier noch schriftlich vor dem ersten Dreh die Angst nehmen musste, durch die falsche Anrede einen faux pas zu begehen. Er erzählt von Stars des Goldenen Hollywood, die durch das Knallen der Pistolen in Western alle auf einem Ohr taub waren. Und weiß Spektakuläres zu berichten von Meisterregisseuren wie Mike Hodges. (»He can hear in both ears.«)
Michael Caine ist ein Mann von wahrem Adel. »Sir« vor dem Namen hin oder her, auch in einer post-feudalen Welt. Was junge Kollegen wohl antworten würden, wollte er sie im korrekten Gebrauch seines Titels instruieren? »Fuck off«, vermutet er, ohne zu Blinzeln.
Die Sonne, der Teufel/Tod, die Mäßigkeit: Das sind die drei Tarot-Karten, die Alejandro Jodorowsky in der Black Box für Nicolas Winding Refn legt. Der deutet es als günstige Zeichen für die Verwirklichung des gemeinsamen Projekts The Incal.
Das Ritual hat Tradition für die beiden befreundeten Regisseure. Der alte chilenische Surrealist hat in dem jungen Dänen einen Adepten gefunden. Only God Forgives ist Jodorowsky gewidmet, und vor wichtigen Entscheidungen sucht Winding Refn den Meister in Paris auf.
Jodorowsky ist ein Hohepriester der Kunst. Seine Filme in der Retrospektive machen einem bewusst, was den meisten der aktuellen Auswahl fehlt: Der Wille zum Wahnsinn; der Mut zum spektakulären Scheitern; das Kino als Magie, mit dem Glaube daran, dass es eine welt- und bewusstseinsverändernde Kraft sein kann.
Der Film, auf den man während des Festivals am neugierigsten wird, hat das kleine Manko, dass er nicht existiert: Nur in der Doku Jodorowsky’s Dune darf der Regisseur von seinem unvollendeten Kreuzzug erzählen, Frank Herberts »Dune« auf die Leinwand zu bringen. Unter seinen Mitstreitern wären gewesen Mick Jagger, Orson Welles, Salvador Dalí, Amanda Lear, Jean »Moebius« Giraud, H.R. Giger, Dan O’Bannon, Chris Foss, Pink Floyd. Er nannte sie seine »Krieger« – nicht einfach nur Film-Berufstätige, sondern Menschen mit Visionen und Obsessionen.
Diese bedingungslose Art des Filmemachens hat einen Klassiker hervorgebracht wie Montana Sacra: Der stets auskunftsfreudige Jodorowsky meint beim Gespräch nach dem Film, es habe 30 Jahre gedauert, bis bei dessen Vorführungen am Ende nicht der halbe Saal die Flucht ergriffen hatte. Aber das war auch das einzig Abgemilderte, Retrospektive, was der Film hatte. Seine rücksichtslose Mischung aus Esoterik, Katholizismus, Surrealismus, Satire, Sex, Gewalt und Bildersog trifft einen auch heute unvorbereitet und überwältigend. Und entlässt einen doch in befreiende Selbstverantwortlichkeit.
Und selbst mit 84 ist Jodorowsky seinem Irrwitz treu geblieben. Nach 23 Jahren Pause hat er sich, frisch wie am ersten Tag, wieder ans Fimemachen gewagt. Sein La danza de la realidad ist ein Kino-Ritual, in dem er (seinen eigenen Sohn in der Hauptrolle) mit seinem Vater ins Reine zu kommen versucht – so verrückt, überbordend, verstörend, besessen wie eh und je.
Die schönste Lehre, die man von dem alten Psychomagier fürs Leben mitgegeben bekommt, ist sein Umgang mit dem Debakel von Dune: Da ist kein Zorn, keine Trauer, kein verkrampftes Festhalten am Verlorenen, am »Was wäre gewesen, wenn...«. Die Trümmer des Projekts waren für ihn wie Saatkörner für Neues. Jodorowsky ist ein Anti-Yoda: Von wegen »There is no try«. Das vermeintliche Scheitern an einem wirklich großen Versuch kann der größere Gewinn sein als das Gelingen einer zu sicher l ösbaren Aufgabe.
Fürs Zwischenmenschliche blieb im Festival-Zeitplan wenig Zeit. Da ist es schön, dass das Filmfest darum besorgt war, dass es seinen Gästen an menschlicher Zuwendung nicht fehlte. Nichts brachte insbesondere weibliche Besucher so schnell ins Gespräch mit kontaktfreudigen Zeitgenossen, wie das Spazierentragen der ausgehändigten Umhängetasche nachts, nach Ende des letzten Films im Atelier, alleine in der Hauptbahnhofgegend. Das lag gewiss an dem daumengroßen Filmfest-Logo,
das Cineasten einfach verbindet.
Oder womöglich an dem über die gesamte Taschenbreite prangende Sky-Werbespruch: »Du willst es doch auch.«
Genau das rechte Maß an Offenherzigkeit ohne Aufdringlichkeit fand man auch für die Passage zum neuen Festivalkino und Pressevorführungszentrum im Atelier/City, entlang der dortigen Schaufenster des angrenzenden Sexshops. Um die internationalen Gäste nicht durch die anrüchige Auslage unangenehm zu berühren oder durch Plüschhandschellen, Elefantenrüsseltangas und Delphindildos versehentlich zu kinofremden Aktivitäten zu animieren, ließ man umdekorieren. Nun wurde hier dem großen Filmkünstler Alois Brummer Hommage erwiesen mit einer Poster- und Aushangbildschau, die das lebenslange Kreisen dieses Auteurs um das eine große Menschheitsthema anregend illustrierte. Ob Kriegsdrama (Graf Porno bläst zum Zapfenstreich), Historienepos (Katharina, die nackte Zarin) oder schonungslose Auseinandersetzung mit Zeitproblemen (Gefährlicher Sex frühreifer Mädchen, Beim Jodeln juckt die Lederhose) – stehende Ovationen waren Brummer stets gewiss.
Zwischen den Filmen lässt man sich nicht treiben – man wird gefahren. Die kostbaren Minuten, die man bisher relativ selbstbestimmt an Sonne und Luft verbrachte, sitzt man nun in S- und U-Bahnen ab, im Untergrund, unbemerkt vom Rest der Stadt. Um die deutlich länger gewordenen Distanzen zwischen den Kinos pünktlich zu überbrücken, von der Münchner Freiheit zum Rosenheimer Platz, von Atelier zu Arri.
Die Stimmung, mit der einen Filme wie The Spectacular Now oder Crystal Fairy entlassen, würde man gerne erst einmal in der Welt nachglühen lassen. Beides Filme mit einem schwierigen Protagonisten – der eine nach außen hin entspannt, betäubt sich immer mehr mit Alkohol, der andere jagt völlig verkrampft dem einen, legendären Mescal-Rausch nach –, aber Filme, die deren Fehler mit einer Grundakzeptanz begegnen. Man fühlt sich
aufgehoben und verstanden in seinem Menschsein.
Aber der Wagen, er rollt.
Man kann nicht sagen, dass die Auszeichnungen dieses Festivals unberechtigt waren. Aber wirkliche Gerechtigkeit hätte anders ausgesehen.
Es war unfair, ausgerechnet in diesem Jahr in der »Neues Deutsches Kino«-Reihe, in der ungewohnt viele FILME zu sehen waren, alle vier Förderpreise einem einzigen Werk zu verleihen. Dass Love Steaks sogar der Drehbuchpreis zugestanden wurde, hat selbst
die Macher überrascht – hatten sie nach eigener Aussage lediglich ein vages Handlungsgerüst als Improvisationsgrundlage. Es so wirken zu lassen, als hätte es da in diesem Jahrgang keine nennenswerte Konkurrenz gegeben, hat die Programmauswahl nicht verdient.
Es ist keine Frage, was Freedom Bus den One-Future-Preis eingetragen hat: Es ist eine höchst kluge Dokumentation über den schwierigen Prozess der Demokratie, mit offenem Ende, mitfühlender Halbdistanz zum Protagonisten und ohne Heischen von Emotion. Ein Film auch über die Frustrationen der Meinungsfreiheit, der Auseinandersetzung mit radikal anderen Überzeugungen.
Er
biedert sich mit diesen Qualitäten genau dem nicht an, was eigentlich Popularität ausmacht. Insofern hat der Publikumspreis für den Film – bei aller Aktualität durch die Ereignisse in Ägypten – doch überrascht. Er freut einen, aber legt gleichzeitig den Verdacht nahe, dass sich ein Trend der letzten Jahre fortsetzt: Es gewinnen Filme, die eine lokale Anhängerschaft mobilisieren können. Zur Abstimmung vergibt das Publikum keine Noten, sondern man kann während des
gesamten Festivals beliebig viele Stimmkarten für einen Favoriten einwerfen. Das heißt: Es gewinnt eher ein Film, der 50 Leute animieren kann, je 20 Karten abzugeben, als einer, der 900 Einzelstimmen für sich verbuchen kann.
Das Problem ist bekannt, auch den Verantwortlichen. Dieses Jahr wurde sogar vor einigen Vorstellungen explizit darauf hingewiesen, dass mehrfaches Abstimmen möglich ist – ohne klarzustellen, ob für einen Film oder mehrere. Man kann also bei diversen Siegern der letzten Jahre nicht von einem Missbrauch des Systems sprechen, sondern nur von einem cleveren Gebrauch. Auch wenn es so manchmal die Richtigen trifft – es schwächt erheblich die Bedeutung des Preises.
Sähe man sich zur schulmäßigen Kunstbewertung genötigt, und würde von den Filmen des Programms 2013 einen Notendurchschnitt berechnen – dann würde dieser höchstwahrscheinlich besser ausfallen als in den Jahren zuvor.
Aber das ist kein Grund zur ungetrübten Freude. Denn es liegt daran, dass diese Abschlussklasse fast nur aus braven 2er- bis 4er-Schülern bestand. Das gibt eine bequeme Sicherheit. Aber gerade deswegen investiert man emotional nicht soviel wie in einem
Jahrgang voller Hochbegabter und Schulverweigerer. Es fehlten die Extreme und Exzesse, die positiven wie negativen Überraschungen – die unerwarteten Glücksmomente, unverschämten Ärgernisse. Die Filme, von denen man wie von einer neuen Liebe nie aufhört zu erzählen. Jene, aufgrund derer man den Filmhochschulen ganzer Länder die Kameras entziehen möchte. Filme, über, für, gegen es sich zu streiten lohnt.
Freilich muss das auf dem Papier verführerisch geklungen haben: Eröffnung mit der Weltpremiere einer deutschen Oscar-Preisträgerin. (Was Oscars, zumal Auslands-Oscars, wirklich wert sind, jetzt mal unbenommen.) Das muss geflüstert und gezischelt haben: »Das machen wir! Da sind wir wer!«
Wäre aber klug gewesen, sich Caroline Links Exit Marrakech vorher mal anzuschauen. Marokko als pittoreske Bühne für das Vater-Sohn-Drama deutscher Wohlstandsbürger – ein Film, der sich explizit abschottet gegen die Welt. Ein arabischer Journalist darf sich mal als Advocatus Diaboli beschweren, dass man in Marokko westliche Subventionskunst macht, als gäbe es in dem Land grad nichts
Wichtigeres. Aber das findet in dem Film keine Konsequenz, genausowenig wie da Platz ist für auch nur ein Eckchen Europas, in dem sich jemand Sorgen um Geld machen müsste. Was legitim wäre, wenn der Vater-Sohn-Konflikt zu bannen vermochte. Aber Exit Marrakech ist vor allem: Fad. Es ist ein Film über Menschen, die nicht miteinander reden können, die aber dauernd alles aussprechen, was sie fühlen,
was sie wollen, was sie antreibt. Er leidet dramaturgisch also an der deutschen Fernseh-Krankheit – verbindet sie aber noch mit dem quälend schleppenden Rhythmus deutschen Bedächtigkeitskinos.
Was bleibt: Ein schöner, unbeabsichtigter Lacher, wenn anfangs Josef Bierbichler als Internatsleiter zum Besten gibt: »Lesen Sie das! Das ist gut, nicht? Tolstoi!«
Die langjährige Bastion, das CinemaxX, ist dem Filmfest weggebrochen. Die Festivalordnung ist in ihren Grundfesten erschüttert: Die Isar ist entmeilt.
Und es zeigt sich vehement: Ein Filmfest ist eben mehr und anderes als die Summe seiner Sitzplätze und Leinwände. Nichts gegen die Kinos Münchner Freiheit, gegen City und Atelier und deren Betreiber und Teams – die haben sich alle Mühe gegeben, das Festival willkommen zu heißen. Aber es ändert völlig die Art, wie dieses in
der Stadt verankert ist – oder nicht. Die Isarmeile – das Stück München zwischen Isartor und Rosenheimer Platz – hat uns Filmverrückten immer für eine Woche gehört, dort haben wir uns häuslich eingerichtet. Auf den Gängen zwischen den Kinos ist man sich begegnet, hat Schaubefehle und aktuelle Kurzwarnungen ausgetauscht (und zur Not auch Überlebensartikel wie Müsliriegel, Deos, Haarbürste, Pflaster oder gar Nachrichten von der Außenwelt), hatte seine festen
Wasserlöcher und Futterkrippen (und Zeit, sie aufzusuchen), hat alle zwei Jahre im Muffatbiergarten halbzeitweise EM- und WM-Spiele geschaut, hat dem Pressezentrum und der Lounge im Gasteig Kurzbesuche abgestattet und nachts beim Heimgehen noch als Abschiedsgruß ein paar Fetzen vom Open-Air-Kino-Soundtrack mitgenommen.
Diese Nähe und diese Wege sind nun weg – es fühlt sich alles eher an wie ein Familientreffen, bei dem alle in unterschiedlichen Sälen eines Großrestaurants sitzen. Die Isarmeile hat für und durch das Festival gelebt, hat im Festivalgroove mitgeschwungen – Sonnenstraße und Schwabing ist die Anwesenheit des Filmfests nicht anzumerken, denen ist es egal. Vor allem die Kinos Münchner Freiheit wirken wie eine Kapsel, die in eine übriggebliebene Lücke zwischen
U-Bahn-Sperrengeschoss, Kaufhaus und Bombenkrater versenkt wurde. Sie sind kein Ort, der ausstrahlt in die Umgebung.
Und nachdem letztes Jahr so groß die Glamour-Parole ausgegeben wurde, ist es dieses Jahr bezeichnend, dass das einzige »Premierenkino« der Carl-Orff-Saal ist – ein Mehrzwecksaal.
Die kleinen Erleuchtungen sind manchmal die schönsten. Joss Whedon, der sonst durchaus für Maximallösungen zu haben ist (The Avengers, Cabin in the Woods), verfilmt Shakespeares Much Ado About Nothing als
schwarz-weißes Heim-Spiel mit Freunden. Er nähert sich den heiligen Versen weder frömmelnd noch bilderstürmend. Statt nach der einen, grundsätzlichen Auslegung zu suchen, begeistert er sich und uns für die Detailfreuden des Stücks. Er macht viele Pointen schlicht wieder hörbar, kitzelt die Charakterkomik heraus, scheut auch nicht Slapstick-Einlagen, findet das Äquivalent zur historischen Ordnungshüter-Satire in Polizeifilm-Klischees. Und selbst die heute als rassistisch
empfundenen Stellen zensiert er nicht, sondern inszeniert unsere Reaktion vorweggenommen auf der Leinwand und erzeugt damit einen der besten Lacher.
Zweifel an Whedons Geschmackssicherheit drängen sich nur in einem Punkt auf: Wir wären enttäuscht, sollte der austauschbare kalifornische Villen-Stil kein Produktionsdesign sondern seine tatsächliche Inneneinrichtung sein.