15.02.2015
65. Berlinale 2015

Streit­kunst und Regelwerk

Jafar Panahi
Jafar Panahi in seinem »künsterischen« Taxi
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH)

Preise, Politik und erste Bilanzen – Berlinale-Tagebuch, 15. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Und sie gilt wieder, die Berlinale-Regel! Es sind nur fünf Chancen von 23, und doch kann man sie voraus­sagen, die Sieger der Bären. Es gewinnen in Berlin fast immer Filme, die ihre Pres­se­vor­stel­lung an den ersten fünf Tagen hatten, und zwar um 9 Uhr morgens. Auch auf die anderen Preis­träger traf dieses Gesetz in diesem Jahr fast voll­kommen zu: Panahi Freitag morgen. der Guate­mal­teke am Samstag früh. Pablo Larrain aus Chile am Montag­morgen, der Russe dann am Dienstag. Nur Bill Condon mit Mr. Holme (Sonn­tag­früh) hatte irgendwas falsch gemacht.

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Festivals seien dazu da, Filmen eine Aufmerk­sam­keit zu geben, die sonst nicht gesehen werden. Das hatte Darren Aronofsky irgend­wann anfangs des Festivals gesagt.

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Das Offen­kun­dige ist ja immer eine gute Prognose bei der Berlinale. Der Goldene Bär für den irani­schen Regisseur Jafar Panahi – da konnte die Jury gar nichts falsch machen, denn sie unter­s­tützt einen geschun­denen, drang­sa­lierten Künstler, der sich nicht einschüch­tern lässt, und formu­liert ein im Westen unstrit­tiges, irgendwie wohl­feiles, aber eben doch auch, gut vier Wochen nach »Charlie Hebdo«, notwen­diges Beharren auf Kunst- und Meinungs­frei­heit.
Dieser Preis ist aber auch die verdiente Auszeich­nung für einen der besten Filme des dies­jäh­rigen Wett­be­werbs, einen Film, der eben nicht nur poli­ti­sches Statement ist, sondern auch ein künst­le­ri­sches. Taxi, der bereits mit der Leipziger Firma »Weltkino« einen deutschen Verleih gefunden hat, denkt klug über das Kino nach, über den Sinn unseres Lebens, und versucht mit

So erinnerte die Entschei­dung auch ein wenig an diese Zeugnisse für Erst­klässler, wo auch den schwächsten Schülern noch ein paar ermun­ternde Herzchen ins Zeugnis geschrieben werden, Noten dagegen längst ange­schafft sind, denn es gibt ja gar keine schlechten Filme mehr, sondern nur wenige Gute. Nach dieser Logik könnte man natürlich gleich allen Teil­neh­mern einen Preisbär geben.
Die Harmonie auf der Bühne fügt sich in die Gemüt­lich­keit eines Gute-Laune-Festivals. Wellness ist allge­meiner Zeitgeist, insofern nicht über­ra­schend. Man darf sich dann aber auch nicht wundern, warum die besseren, die wich­ti­geren, und – ja! – auch die poli­ti­scheren Filme in Cannes laufen. In Inter­views erklärt der Berlinale-Chef dazu fröhlich, die Berlinale stünde halt an dritter Stelle, statt zerknirscht und energisch daran zu arbeiten, dass selbst verspielte Terrain wieder aufzu­holen.

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Trotzdem: Diese Berlinale war nicht die Schlech­teste. Es war fast schon ein guter Wett­be­werb für Berlinale-Verhält­nisse, der Durch­schnitt war deutlich besser, als in den letzten zwei, drei Jahren, auch wenn es nichts wirklich Heraus­ra­gendes gab, auch in den Neben­reihen keine Filme, wie im Vorjahr Boyhood oder  Snow­piercer, über die alle sprachen.
Gespro­chen wurde unter den Festi­val­gästen dafür vor allem über das, was man gerade verpasst hatte – kein Wunder: Bei 411 Filmen kommen auch für den profes­sio­nellen Vielseher auf jeden besuchten Film zehn, die man nicht gesehen hat. Ein Kino-Overkill, der offenbar nicht nur bei den Besuchern einen Tunnel­blick erzeugt:
»Ich hab ja 'nen neuen Vertrag, und ... ich hab jetzt nichts mitge­kriegt von Kontro­versen. Ich krieg' immer nur 'nen Pres­se­spiegel mit guten Bespre­chungen.«
So Berlinale-Chef Dieter Kosslick bei der Abschluß­ze­re­monie. Viel­leicht sollte er sich mal anstatt mit den immer­glei­chen Clac­queuren auch mit ein paar Leuten umgeben, die ihm auch neue Blick­weisen eröffnen.

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Über­ra­schend defensiv agiert, besser reagiert die Berlinale statt­dessen sogar auf offener Bühne:
»Man ist so froh, dass man nicht Dieter Kosslick ist, oder? Weil man es den Kritikern nie recht machen kann...«
Das sagt die immerhin von Kosslick selbst enga­gierte Fern­seh­mo­de­ra­torin Anke Engelke bei der Abschluss­gala. Ein solcher Satz beweist nur eines: Unsere Kritik zeigt Wirkung! Gut so.
Dabei sind die Kritiker ja genau genommen gar nicht wichtig – im Ernst: Es geht nicht um Kritiker. Sondern besten­falls um Kritik. Also um die Inhalte. Mit denen hat Kosslick aber ganz offen­kundig gar kein Problem, sondern nur mit den Leuten, von denen sie stammt, und die er nicht mundtot machen, nicht zum Schweigen bringen kann.

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Also nochmal zum Mitschreiben, liebe Berlinale-Pres­se­ab­tei­lung:
Erstens geht es nicht um »die Kritiker«, denen man es ja »nie recht machen kann.« Sondern allen­falls um ein paar Argumente. »Die Kritiker« gibt es sowieso nicht. Es geht aller­dings schon darum, ein besseres Festival zu machen, dass derart für sich selber spricht, dass ein paar noto­ri­sche Nörgler ohne Bedeutung bleiben.
Hier haben sie Bedeutung, weil sie Gehör finden unter Gästen, in der Branche, unter seriösen Bericht­erstat­tern, beim Publikum.
Zweitens: Es geht um seriöses Auftreten, um Geschmack und um Souver­ä­nität. In Cannes oder Venedig wären auch solche Auftritte wie der des Berlinale-Direktors und die Mode­ra­tion von Engelke undenkbar. Weil man sie geschmacklos findet.
Drittens: Es geht um Anspruch und Wirk­lich­keit. Konser­va­tiver formu­liert: um Doppel­moral. Man behauptet »politisch« zu sein, und »ein poli­ti­sches Festival« zu machen. Gut. Ist ja eine legitime Möglich­keit. Hier müsste man aber jetzt natürlich, wenigs­tens ansatz­weise defi­nieren, was das heißen kann und soll. Und was man unter »Politik« und »politisch« eigent­lich versteht.
Was Dieter Kosslick unter Politik versteht, weiß ich auch nach 14 Jahren nicht, oder allen­falls gibt es eine leise Ahnung. Ich habe den Eindruck, er versteht gar nichts darunter, bzw. alles.

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Politik, wie ich sie verstehe, heißt Streit. Eben zivi­li­siert, durch Regeln und Verfahren und Tabus, darum ist sie ja Politik und kein Krieg, aber durchaus Streit. Im besten Sinn: Wett­ei­fern um das Richtige, Austragen eines Dissens. Dafür muss er klar kommu­ni­ziert werden. Dann kann am Ende auch ein Konsens stehen, oder ein Kompro­miss. Das muss er aber nicht, denn manchmal wird man sich einfach nicht einig, auch unter vernünf­tigen Menschen, weil beide Seiten über­zeu­gende Argumente haben und auch vernünf­tige Menschen ihre blinden Flecken.
Politik heißt darum auch, Position zu beziehen. Mit Klarheit und mit Mut.
Es ist dann eben schon das Problem, wenn man in Inter­views und Pres­se­kon­fe­renzen viel von der Gleich­be­rech­ti­gung der Frauen redet, aber dann so einen reak­ti­onären Quatsch wie »Fifty Shades of Grey« zeigt und zum Event hochjazzt.

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Politisch Filme zu zeigen, ein poli­ti­sches Festival zu machen, das hieße in diesem Vers­tändnis, nicht alles zu machen, und jeden Wider­spruch im Wellness-Bad versöhnen zu wollen. Sondern Wider­sprüche als produk­tive Heraus­for­de­rungen zu verstehen, als Poli­ti­sie­rungsakt, und sie darum zu fördern.
Ein poli­ti­sches Festival hieße Mut zum Streit. Nicht Streit mit Kosslick-Kritikern, sondern Streit über Filme. Produktiv, nicht polemisch. Klare Kante und Kontur statt Programm-Völlerei.
Gerade für das deutsche Kino, das die Berlinale doch gern hätscheln möchte, war der dies­jäh­rige Wett­be­werb von der Ausnahme Victoria abgesehen, ein Reinfall. Andreas Dresen, Werner Herzog, Wim Wenders – große Namen, aber erschüt­ternd schlechte Filme.
Denn nicht um Hege und Pflege darf es gehen, auch nicht darum, Regis­seuren, die ihre beste Zeit lange hinter sich haben und die Berlinale im Übrigen gar nicht brauchen, eine ökono­mi­sche Rampe für den Kinostart zu schenken.

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Sondern auch im übrigen Programm eines Festivals geht es eigent­lich um etwas ganz einfaches: um sicheren Geschmack, kluges Kura­tieren, um eine ordnende Hand. Darum nicht alles zu zeigen, sondern Bestimmtes. Wie die Liebe zu Menschen hat schließ­lich auch die Liebe zum Kino etwas mit Unter­schei­dungs­ver­mögen zu tun.