Cinema Moralia – Folge 115
Pack schlägt sich, Pack verträgt sich |
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Die Egon Bar begann als Wohnzimmerbar und ließ sich dann in einer ehemaligen Animierbar im Münchner Lehel nieder. Wo sie für viele ein zweites Wohnzimmer wurde. | ||
(Foto: Egon Bar München, Lehel) |
»Vergeßt, was ihr gelernt habt, fangt an zu spinnen, denkt das Undenkbare.« – Egon Bahr (1922 – 2015)
»Kunst ist keine Reflexion der Wirklichkeit. Sie ist die Wirklichkeit dieser Reflexion.« – Jean-Luc Godard
Es gehört zu den schönen Dingen an der Kultur, dass Politik und Kultur zwar viel miteinander zu tun haben, aber dass man Politik nicht anhand kultureller und Kultur nicht anhand politischer Kriterien abtun kann. Nehmen wir Leni Riefenstahl. Leni Riefenstahl war eine tolle Regisseurin. Und sie war eine Faschistin. Dass beides zusammengeht, ohne sich auszuschließen, dass das eine zutrifft und das andere, ist das Menschliche.
Dieses Menschliche haben wir zu tolerieren. Wir
müssen es nicht mögen. Aber wir müssen es aushalten, müssen aus moralischen, politischen, und – ja! – nicht zuletzt ästhetischen Gründen mit dem Florett des Unterscheidungsvermögens Widersprüche herausarbeiten – nicht um sie zu erledigen, sondern um sie zu ertragen.
Wie aber soll man von einer Gesellschaft erwarten, dass sie ernsthaftere Widersprüche erträgt, wenn sie es schon nicht aushält, dass eine Fernsehsendung ihren Reinheitsnormen nicht
entspricht, und diese nachträglich dann von einer öffentlich-rechtlichen Medienseite tilgt, wie eine Putzkolonne das Ungeziefer? Als hätte man sich zu schämen.
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Wenn sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen zu schämen hat, dann doch vielleicht eher dafür, dass eine »Jauch«-Sendung am Jahresanfang Pegida ein skandalöses Exklusiv-Forum geboten hat. Da saßen dann die Nazis in Nadelstreifen und konnten sich als Opfer spreizen, als »eine einfache Frau aus dem Volk« und dummes Zeug über »das Vakuum zwischen Politik und Volk« reden. Man sollte mit manchen Leuten einfach nicht sprechen, nicht als Politiker und schon gar nicht als
Fernsehmoderator.
Stattdessen wurde diese Rassistenmeute ohne Grund aufgewertet, so wie schon die AfD vom Fernsehen erst groß gemacht wurde, in dem die sogenannten Polit-Talkshows dem Rechtsextremismus/-populismus immer wieder ein Forum von zwanzig Prozent (einer von fünf Gästen) geben.
»Das sollte Jauch das Genick brechen« dachte ich schon damals und es gehört zu den erfreulichsten Fernsehnachrichten des Jahres, dass immerhin der weg ist.
Trotzdem ist diese Folge aus
keiner Mediathek verschwunden. Das muss sie auch nicht.
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Weitere Widersprüche, die man aushalten muss, sind zum Beispiel die Tatsache, dass der Bund über zwanzig Milliarden Euro Einnahmen-Überschüsse bereits im ersten Halbjahr 2015 erwirtschaftet hat, und es trotzdem nicht schafft, die hier ankommenden Flüchtlinge vernünftig unterzubringen, mit Nahrung und Kleidung zu versorgen und die Kinder mit Bildung. Dass es die Bürger sind, die wie am Beispiel von Filmemachern berichtet, sich engagieren – gut so. Aber wo ist der Staat? Das
Äquivalent zum großen Bürgerengagement ist ein weitreichendes Staatsversagen, ungeachtet vieler großartiger Individuen in den Behörden. Symbolisiert in der Kanzlerin, die überall redet, nur nicht wo sie es tun sollte: In Heidenau.
Ob’s regnet oder schneit, ob hoch die Sonne steht, Frau Merkel kommt zu spät.
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Der Münchner Kardinal Marx hat es gerade ganz gut auf den Punkt gebracht: Als es um die Bankenrettung ging, konnte sich Europa 2008 in wenigen Tagen einigen und es wurden große Belastungen gemeinsam geschultert. Wenn es jetzt um die Flüchtlinge geht, funktioniert das nicht. Das beschreibt die Prioritäten.
Wäre es aber für Europa nicht an der Zeit, statt Polizei und Militär auch die Bataillone des Verstandes und die Regimenter der Logik in Bewegung zu setzen?
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Irgendwann werden Filme über Merkel gemacht werden. Von einzelnen Projekten ist bereits zu hören. Hoffentlich werden da nicht nur Legenden weitergestrickt, Legenden von der Bürgerrechtlerin und dem widerständigen Ost-Mädchen.
Hoffentlich kommt da die Kanzlerin vor, die Machtpolitikerin. Denn die ist interessant, nicht das Mädchen vor dem Mauerfall.
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Über Sigmar Gabriel werden wohl eher keine Filme gemacht werden. Ich finde, dass Herumpöbeln sollte man eher den Künstlern und Möchtegernkünstlern, also den Til Schweigers überlassen. Der darf sagen: Fresse halten. Aber muss ein Sozialdemokrat von »Pack« reden? Er hat recht, keine Frage. Aber er lässt sich aufs Niveau der Gegner und Populisten am Straßenrand ein. Die SPD wird so keine Stimmen gewinnen.
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Pegida – was hieß das nochmal? Provinzdeppen, Egoisten, Grantler, Idioten, Dorftrottel, Ausländerfeinde.
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Die wirklich interessante Frage ist ja, warum es unsere Gesellschaft, die so vieles andere erträgt, nicht erträgt, wenn einmal über die »Frauenfrage« (wenn ich es jetzt mal so nennen darf) auf eine Weise geredet wird, die vielleicht dumm ist, vielleicht überflüssig, vielleicht politisch falsch?
Zudem die Sendung schon durch diese Debatte und wohl auch durch das Aussprechen tabuisierten, aber eben vorhandener Gedanken in jedem Fall mehr zum Thema beigetragen hat, als jeder
»Pro-Quote«-Bubble auf der Berlinale.
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Dieser Bubble war übrigens, wie ich leider erst jetzt erfahren habe, mit öffentlichen Geldern durchgefördert. Das ist postmoderne Protestkultur: Protestieren schon, aber bitte vom Staat bezahlt.
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Aber lassen wir das für heute. Wichtiger ist dieser Punkt: Es geht um Tabuisierung, Errichtung von Tabus. Die Leute sollen sich nicht mehr trauen, das zu sagen, was sie denken.
Vielleicht gar kein falscher Gedanke. Wir sollten ihn uns aber bewusst machen. Und eine Frage anfügen: Wenn wir schon tabuisieren, warum fangen wir dann bei der Genderbedatte an, und nicht bei Pegida, AfD und anderen Nazis?
Eine zweite Frage: Ist die Förderung eines Frauenrats und einer
Berlinale-Pro-Quote-Bubble wirklich wichtiger für unsere Gesellschaft als Gelder für Flüchtlinge?
Na gut, Gelder für Banken gibt’s ja auch...
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Angesichts der politischen Ereignisse allein der letzten Wochen frage ich mich: Was macht denn eigentlich das deutsche Kino mit alldem? Warum erleben wir weder bei den jungen Regisseuren, noch bei so Leuten wie Herzog, Wenders, Schlöndorff, Kluge irgendein Bemühen um Auseinandersetzung mit den Mitteln des Kinos. Bei Kluge vielleicht noch in seinen Fernsehsachen. Aber Herzog etc., die dazu eigentlich eine Position haben könnten, schweigen.
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Natürlich gibt es Einzelnes. Aber sowohl Kriegerin, wie Wir sind jung. Wir sind stark., wie Heil schossen am Ziel vorbei. Ins Herz der Gesellschaft trafen sie nicht.
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Das wahre Übel hat die Mitte der Gesellschaft längst erfasst: Der identitäre Diskurs. Das Denken in Gruppen, in Homogenitäten. Das Identifizieren und die Postmoderne mit ihrem schwachköpfigen Identitätsfetischismus ist die Ursache davon. Aber sie ist eine Chimäre: Die Geschichte gibt es, die Postmoderne gibt es nicht.
Wir sollten nicht rufen: »Ich bin!«, sondern »Ich bin nicht«. Wir sollten die Praxis der Identifizierung und des Identifizierens brechen, und
wieder Hegel und Adorno lesen, mit ihren Plädoyers fürs Nicht-Identische.
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Hilmar Hoffmann wird 90 Jahre alt. Wir gratulieren. »Kultur für Alle« bleibt der Maßstab jeder Kulturpolitik, die diesen Namen verdient.
Bei Hoffmann darf man natürlich Oberhausen nicht vergessen. Als dortiger Kulturdezernent gründete Hoffmann die Kurzfilmtage und verteidigte sie gegen politischen Gegenwind. 2014 war er dort zu Gast und erzählte lange von alten Zeiten.
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Letzte Woche starb Egon Bahr, der Metternich Willy Brandts, und einer der klügsten, besten Politiker der alten Bundesrepublik. Sein Tod ist ein unersetzlicher Verlust für Deutschland. Abgesehen davon, dass es in dieser Kolumne nicht immer und zwangsläufig um Film geht, hat dieser Wahlberliner bei näherer Betrachtung mehr mit dem Kino und mit München zu tun, als man glauben könnte.
Fangen wir mal damit an, dass einer der schönsten und interessantesten Bahr-Nachrufe vom
Münchner Filmemacher Alexander Kluge stammt. Auf »Spiegel Online« hat Kluge ein paar hochinteressante Filmbeiträge mit Bahr verlinkt.
Kluges sehr lesenswerter »Abschied von einem Freund und Charakter« verrät, wie nicht anders zu erwarten, vor allem viel über ihn: »Er war einer der großen vertrauenswürdigen Politiker in Deutschland und in der Welt«, schreibt Kluge über Bahr, »mit scharfem Unterscheidungsvermögen zwischen Phrase und Sache. Es gehört zur Sachlichkeit viel
Gefühl. Als der Kanzler Willy Brandt 1974 stürzte und ein letztes Mal zum Abschied vor die SPD-Fraktion trat, hat Egon Bahr als einziger geweint. ›Das Bohren harter Bretter‹ war sein Beruf. Charaktere wie Egon Bahr sind unersetzlich. Wenn ich zum Abschied sagen könnte: 'Auf Wiedersehen', wäre ich froher.«
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Nicht mehr ganz jugendliche Münchner werden sich auch noch mit Freude an die »Egon Bar« erinnern. Ein seltener Ruhm für einen Politiker, das nach ihm benannt wurde. Ein Bild von Bahr hing hinter Christian Blaus Bar in der Seitzstraße – es war ein ehemaliges Rotlichtlokal und Mitte der 90er einer der besten Ausgeh-Orte der Stadt. Und es gab auch ein Haus-Bier mit seinem Portrait. Irgendwann kam Egon Bahr sogar selbst.
So ein cooler Typ. Im Vergleich gibt Merkel gar nichts her,
ist ohne Geheimnis, jedenfalls ohne einers, das man lüften möchte.
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In den 50er Jahren war Egon Bahr auch der Lebensgefährte von Karina Niehoff (1920-1992), der seinerzeit besten Filmkritikerin der Republik. Beide hatten zusammen eine Tochter. Niehoff schrieb vor allem für den »Tagesspiegel«, aber auch für SZ und AZ. Bahr und Niehoff – ein Traumpaar. Zwei unbeugsame Charaktere. Ich hätte gern gewusst wie wohl eine gewitzte Filmkritikerin und ein nicht weniger gewitzter Politiker miteinander geredet und gelebt haben. Welche Filme sie zusammen sahen, und wie sie darüber sprachen.
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Die Filmemacherin Nicola Graef, die früher mal mit mir zusammen in München Politik und Philosophie studierte hat übrigens ein gutes Fernsehportrait über Bahr gemacht, aus dem man ebensoviel über das Handwerk des Politischen und menschliche Charakterstärke lernen kann, wie über das Fernsehen, wenn es Qualitätsfernsehen ist. »Der Geheimdiplomat«, wie Graef den Film nach Joseph Conrad genannt hat, ist auf YouTube abrufbar.
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Jederzeit frei anzusehen ist dort auch jene oben erwähnte »Plassberg«-Folge, die seit vergangener Woche aus der ARD-Mediathek verbannt wurde. Die FAZ nannte das »Zensur«, und wer möchte ihr widersprechen.
Ich bin alles andere als ein Plassberg-Fan, gucke »Hart aber fair« eigentlich niemals. Ich hätte diese Folge auch nie gesehen, wenn es nicht den idiotischen Protest gegen sie gegeben hätte. Danke Frauenrat!
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Es gibt nicht nur ein Recht auf Political Correctness, sondern auch eines auf Irrtum, auf Chauvinismus, auf Blödheiten und aufs Ausleben niederer Instinkte. Tolerieren heißt ertragen, und erst wo wir ertragen können, was uns nicht passt, erst wo wir jede Folge von Plassberg unzensiert ertragen können, kann man mit Recht von Freiheit sprechen.
(To be continued)