72. Filmfestspiele von Venedig 2015
Das Narrativ im Konjunktiv |
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Fast Food aus Frankreich: Julie Delpy geht baden mit Lolo | ||
(Foto: NFP marketing & distribution GmbH / Warner Bros. Entertainment GmbH) |
Es gehört zu denen schönsten Belastungen eines Filmkritikers: Wie erzählt man das hier alles bloß? Wie schafft man ein Gefühl dafür, was es heißt, in Venedig zu sitzen und Filme zu gucken, wie macht man klar, was einem da so im Kopf herumschwirrt, was einem schwerfällt, und was leicht, und wie man es eigentlich schafft, während eines Filmfestivals so 100.000 bis 120.000 Zeichen, inklusive Leerzeichen in den Laptop geklopft zu haben, also etwa 10.000 Zeichen am Tag.
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Diese Schätzung ist noch konservativ. E-Mail rechne ich da gar nicht mit und auch nicht die eigentlichen Notizen. Die mache ich im Kino und gleich nach dem Film, um mir Details merken zu können. es sind Stichworte, kurze Szenenbeschreibungen, Sätze die mir auffallen, Beobachtungen. Da die Notizen chronologisch sind (so schreibe ich sie auch ab), geben sie ein Gefühl dafür, wie ich den Film gesehen habe, und was für einen Film ich überhaupt gesehen habe. Der ist ja nicht notwendig
mit dem eigentlichen identisch und noch nicht mal mit dem, wie ich selbst den Film am Ende finde.
Die Notizen in den Computer zu übertragen, zwingt mich dazu, den Film im Geist noch mal durchzugehen. Da fällt mir dann auch einiges auf, etwa was ich schon kurz nach dem Kino wieder vergessen habe.
Aus den Notizen wird dann der Text über den Film, manchmal wörtlich, manchmal völlig davon abweichend.
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Wie schafft man das also? Es geht damit los, dass wir, genau gesagt, eben gar nicht in Venedig sitzen, sondern auf dem Lido. Da ist mehr Ruhe, wobei dieses Wort nur relativ zu verstehen ist, da sind weniger Touristen. Das Festival findet in den alten, nur notdürftig und immer aufs Neue provisorisch renovierten Räumen des alten Casino und des Filmpalasts statt, die beide Anfang der 30er Jahre gebaut wurden, zur Zeit des italienischen Faschismus also. Genau diesen protzigen, monumental-martialischen Eindruck machen die Gebäude auch, sie repräsentieren aber eben auch den alten Glanz eines vergangenen Europa. Architektonisch gibt es eine Menge Schlechteres als das hier.
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Vor allem am Anfang laufen sehr viele Filme, und als Beobachter versucht man natürlich, gerade an diesen ersten Tagen vieles zu sehen: Einmal, um überhaupt reinzukommen, ein Gefühl für das diesjährige Festival zu bekommen, und dann auch um einfach Schritt zu halten, nicht von Anfang an hinten dran zu sein.
Die Folge: man kommt zu wenig zum Schreiben. Und wenn man Zeit hätte, ist man zu müde, oder will halt auch mal mit Menschen reden. Man will auch als asozial gelten, weil man lieber
schreibt. Man muss aber schreiben. Will es vielleicht auch, um sich selbst klar zu machen, was man da jetzt gesehen hat.
Bitte nicht missverstehen: Es gibt keinen Grund zur Klage. Das sind alles Belastungen, die ich wahnsinnig gern ertrage. Luxusprobleme. Ich will hier nur einmal hinschreiben, was mir beim Arbeiten so durch den Kopf schwirrt.
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Man ist gerade in diesem Anfangszustand, wenn man noch keine »Altlasten« der letzten Tage abzutragen hat, ganz im Hier und Jetzt, ganz angewiesen auf das, was die Programmierung des Festival einem vorsetzt. Und auf den Zufall des eigenen Geschmacks und der Erzählungen der Anderen.
Venedig ist auch deshalb ein tolles Festival, weil es so entspannt ist. Man kann jeden Film irgendwie sehen. Die Nebenreihen sind nicht unbedingt die schwächeren Reihen. Man kann da Meisterwerke ebenso entdecken, wie im Wettbewerb absolute Desaster erleben. In den Orrizonti findet man oft die gewagteren, innovativeren Filme. Andererseits ist der Wettbewerb auch nicht so, dass man dort jeden Film sehen muss. Man kann es sich nie genau ausrechnen in Venedig – das Festival riskiert ziemlich viel.
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In Venedig ist es so – oder es fällt mir mehr auf –, dass im Gegensatz zu Cannes die Filme oft zu Paarungen programmiert werden. Auch so kommt Ordnung ins Chaos, und es bildet sich allmählich das heraus, was man heute gern als »Narrativ« bezeichnet, also die Erzählung eines Festivals, eines Jahrgangs, bestimmte Themen, Tendenzen, Geschmäcker und Schwerpunkte, die sich über einzelne Filme hinweg überlappen.
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Paris, freilich auf ganz unterschiedliche Weise, steht gleich zweimal am Donnerstag im Fokus, denn sowohl Alexander Sokourovs Francofonia, für mich an den ersten zwei Tagen der beste Wettbewerbsbeitrag, als auch Julie Delpys Komödie Lolo inszenieren ausgiebig die französische Hauptstadt – wenn auch naturgemäß äußerst unterschiedlich.
Auch geht es zweimal um unbekannte Seiten von Boston, und jeweils im gewissem Sinn um den »Boston Globe«. In Thomas McCarthys Film Spotlight steht die Zeitung und ihre Arbeit fast völlig im Zentrum, in Black Mass ist sie es immerhin, die mit einem Artikel den Stein derart massiv ins Rollen brachte, der zur Aufklärung eines der größten Kriminalfälle und Polizeiskandale in der jüngeren Geschichte der Stadt führte. Der Stil der Filme ist dagegen je härter die Story, um so mehr anschmiegsam, konsumierbar, weich. Schlechte Musik, zudem massiv eingesetzt, und cleane Ästhetiken sind andere auffallende Gemeinsamkeiten der ersten Tage.
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Auch wird schnell deutlich, dass es in ganz vielen Filmen erstmal um ernste, irgendwie politisch wichtige und moralisch empörende »Themen« geht: Kinder leiden gleich zweimal, als Kindersoldaten in Cary Fukunagas Beasts of No Nation und in Spotlight, denn von der Zeitung recherchiert wird da massenhafter Kindesmissbrauch in der Katholischen Kirche Bostons. Um Krankenkassen. Um Krankenversorgung in Rodrigo Plas Un Monstruo de mil cabezas. Klingt so erzählt wahnsinnig lasngweilig, finde ich, aber bestimmte Redaktionen lieben dies, so wie andere nur etwas über »Stars« hören wollen, weil diese »Themen« angeblich »politisch« sind, und dadurch Relevanz über das Kino hinaus versprechen.
Dieses so verstandene »Politische« eines Films gehört für mich zu den fragwürdigsten Kategorien unserer Wahrnehmung des Kinos. Denn manche Filme werden schon durch durch die Regionen aus denen sie kommen, und durch die vollkommen anderen Lebenswelten, die sie zeigen, politisiert. Diese Regionen sind krisenhafter, leben im sozialen oder ökonomischen Ausnahmezustand, oder einem Normalzustand der uns Wohlstandsmenschen extrem erscheint – das muss ja schon an und
für sich politisch sein. Das gilt für Filme aus Lateinamerika oder auch für türkische Filme.
Natürlich liegt es tatsächlich eher an den Betrachtern, was man da »politisch« nennt, und was man aus Filmen als politisch herausliest, oder in sie politisch hineinliest.
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Was auf eine andere Weise politisch ist, das sind die Stile. Man kann gerade auf solchen Filmfestivals auch immer insofern politisch gemachtes Kino sehen, als unsere Stilempfindungen und Geschmäcker irritiert und herausgefordert werden. Dass unserer Mainstreamblick, den wir ja alle haben – wir sind so formatiert übers Fernsehen und über den konventionellen Film, dass wir bestimmte Sachen erstmal erwarten, dass wir einen Film daraufhin sehr schnell decodieren, dass wir wissen: Dies ist der Böse, dies ist der Gute, mit dem wir bangen sollen –, dass dieser Blick herausgefordert werden kann und wird, ist gerade das Reizvolle von Filmfestivals. Sie zeigen uns: Kino ist so viel mehr, als nur dieses eine Schema. Es gibt ganz andere Schemata, und es gibt natürlich auch Filme, die völlig ohne Erzähl- und Bild-Schemata arbeiten oder die es gar schaffen, dem Betrachter ihr eigenes Betrachtungsschema vermitteln.
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All dies sind mögliche Formen, dieses Festival zu strukturieren und zu erzählen: Es gibt auch ein mögliches ökonomisches Narrativ: Am Donnerstagabend gehe ich mit meinem italienischen Kritikerfreund Ugo noch ein letztes Bier trinken, in einer Strandbar. Dort kommen wir mit einem jungen Mann ins Gespräch, der schon ein paar Drinks im Kopf hat. Er kommt von hier und erzählt, er habe ein paar Jahre bei der Mostra gearbeitet. An einem Pizzastand. 400 Euro habe er verdient, an den zehn Tagen Festival. »Am Tag?« fragen wir, und ahnen, dass das auch wieder nicht sein kann. Nein, an den zehn Tagen. Zusammen. Also 40 Euro am Tag. Das sei ganz gut gewesen, sonst verdiene er hier weniger. Kaum zu glauben, an diesem Ort, der noch teurer ist als Cannes. Man darf nicht denken, dass hier alle von den Touristen und dem Festival profitieren.
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Worauf ich mich denn freue, werde ich auch ein paar Mal gefragt. Auch dies ist eine mögliche Form, ein Filmfestival zu erzählen. Wahrheitsgemäß nenne ich neben den vielen Filmen aus Lateinamerika und den viereinhalb türkischen Filmen (der Dokumentarfilm über Orhan Pamuk hat einen britischen Regisseur) auch den neuen Film des Italieners Marco Bellocchio. Bellocchio steht für brisantes, politisch engagiertes, stilistisch oft extremes und gewagtes Kino. Dann der neue Film von
Amos Gitai, einem israelischen Regisseur, den ich eigentlich immer blöd fand. Man hört nichts Gutes über diesen Film, aber da er von der Ermordung des israelischen Ministerpräsidenten Rabin vor 20 Jahren handelt und von den Folgen dieser Tat erwarte ich mir doch Polit-Kino (s.o.) im besten Sinn: Ein Blick in die politischen Eingeweide der israelischen Gesellschaft.
Schließlich: Jerzy Skolimowski, jener großartige polnische Regisseur der Filme macht, die alles sind nur
nicht jenes heilige getragene Kino, das wir sonst so oft aus Osteuropa zu sehen bekommen.
(to be continued)