69. Filmfestspiele Cannes 2016
162 Minuten |
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Andrea Arnolds American Honey hat vieles mit Maren Ades Toni Erdmann gemeinsam, und dann auch wieder nicht. | ||
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH) |
Von Till Kadritzke
Die beiden Filme teilen wenig miteinander, abgesehen von den paar harten Fakten: Nicht nur sind Toni Erdmann und American Honey von Frauen gemacht worden, deren Nachnamen mit »A« anfangen, und die deshalb, hätte sich nicht Frauenversteher Almodóvar dazwischengeschoben, stolz am Kopfe der meist alphabetisch sortierten Wettbewerbsliste thronen würden. Diese beiden Filme sind zudem auch exakt gleich lang – und mit 162 Minuten tatsächlich ziemlich lang. Mit dieser Flucht ins Epische jedoch könnten sie unterschiedlicher kaum umgehen. Maren Ades Film ist sehr präzise gebaut, konstruiert eine Welt in und mit der Zeit, hat ein Gespür dafür, welche Momente wann nachhallen, ohne sie dafür manipulieren oder dramatisieren zu müssen. Andrea Arnold dagegen versucht verzweifelt, die Zeit zu vergessen, ihr Film ist ein einziges offenes Ende, scheint selbst zu kaum zu wissen, wohin die Reise seiner Protagonistin geht oder wie lange sie dauern wird. Er versucht nur, soweit es irgendwie geht, mitzureisen, oder besser: sich mitreißen zu lassen.
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Aber von vorn: Über Maren Ades grandiosen Film wurde viel geredet und geschrieben, dabei vielleicht etwas zu viel über Szenenapplaus und weniger über Szenen, etwas zu viel über deutschen Humor im Allgemeinen und zu wenig über den Humor dieses Films im Besonderen. Bei mir wirkt Toni Erdmann vor allem nach, weil hier ein Film seine Figuren nicht durch Introspektion oder Selbsterkenntnis ein paar Wahrheiten entlockt, sondern durch gnadenlose Eskalation. Der Film unterläuft nicht einfach Erwartungen, wie man das mittlerweile gerne mal für etwas andere Filme konstatiert, sondern agiert das, was in ihm angelegt ist, bis zur letzten Konsequenz aus. Belässt es nicht bei jener dramaturgischen Einkehr, die gern subtil genannt wird, häufig aber auch einfach feige ist.
So kommt es im deutschen Kino ja zum Beispiel häufiger mal vor, dass sich Familienmitglieder gegenseitig Besuche versprechen – und ihre Blicke ebenso wie die der Angesprochenen dabei verraten, dass daraus eh nichts wird. Lauter leere Versprechungen ersticken die Action im Keim. Ade nun nimmt mittels ihres Protagonisten Winfried solche dahingesagten Phrasen ernst, schaut sich an, was passiert, wenn dieser Winfried tatsächlich nach Bukarest kommt, seine Tochter Ines besucht – und sein ganzes Kostüm- und Scherzartikel-Arsenal mitbringt. Im Kino passieren diese Dinge nämlich gerade nicht »eh nicht«, sondern doch.
Die Verkleidungen, die der Vater sich überzieht, die Identität des Toni Erdmann, die er sich ausleiht, um sich dieser Unternehmensberaterin von Tochter anzunähern, stehen dabei nicht für eine plumpe Kritik an der Fassadenhaftigkeit der modernen Business-Welt. Vielleicht ist Toni Erdmann eher so etwas wie ein Aufruf zur Vervielfältigung der Fassaden. Denn letztlich führt dieser Erdmann ja nur jene Bewegung konsequent zuende, der sich die Welt, für die seine Tochter steht, verschrieben hat: die ständige Flexibilität und Neuerfindung. Wo Ines die entsprechenden Ressourcen aus ihrem Innen herauszuholen versucht – mit ihren stetigen Anpassungen an Meeting-, Network- und Präsentations-Situationen, mit ihrem über Skype zugeschaltetem Personal Coach, in dieser ewigen Feedback-Schleife der perfekten Performance –, holt Winfried sie sich von außen: Schminke, Masken, Kostüme, falsche Namen, falsche Visitenkarten.
Nicht um Entfremdung geht es also, sondern um Verfremdung. Dieser kann gelingen, was einer schonungslosen Offenheit zwischen Vater und Tochter niemals gelingen wird: weniger große Versöhnung als neue gemeinsame Erfahrungen. Dafür darf man den Zufall nicht ausschließen, auch nicht im Kino, und schon gar nicht mit dem Argument, dass so etwas ja ohnehin nicht passiert. Es passiert: Wenn das passende Kleid und der pünktliche Empfang von Gästen nicht in eine Rangfolge zu bringen sind, dann steht man eben nackt da. Und passt die eigene Performance der neuen Situation an. Schließlich heißt es doch eh, gegen das Lampenfieber helfe es, sich das Publikum als ein nacktes vorzustellen. Noch so ein Spruch, den Toni Erdmann sehr ernst nimmt.
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Gab es in Cannes kaum jemanden, der in die Lobeshymnen für Toni Erdmann reingrätschen wollte, ist Andrea Arnold mit ihrer Liebeserklärung an jugendliche Fluchtimpulse kaum auf Gegenliebe gestoßen. Nur wenige, die ich gesprochen oder gelesen habe, konnten mit American Honey etwas anfangen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass dieser Film gar nicht so richtig will, dass man etwas mit ihm anfängt; vielleicht auch damit, dass Länge und Bildsprache von einer Ambition künden, die dem Film selbst dann recht egal ist. Diese Ambition steckt ja schon im Titel. Was mit »American« anfängt, das verspricht mythologische oder zeitanalytische Annäherungen an Fiktionen der unbegrenzten Möglichkeiten und den neuesten Fakten, die diese begrenzen.
Tatsächlich findet American Honey im Mittleren Westen unzählige Americana-Motive. Das 4:3-Format des Films lässt die Truckstops und Billboards, die öden Landschaften, die Neonschilder der Fastfood-Ketten nach Fotografien aussehen. Und doch ist Arnolds Film eigentlich bescheiden. Er zieht sich nicht in eine Amerika-Totale zurück, sondern vollführt einen Zoom auf Streetview-Level, bis auf einen Highway irgendwo in Kansas – und folgt dann dem Begehren, das er dort antrifft. In diesem Fall: Die 18-jährige Star, gespielt von der Newcomerin Sasha Lane, die sich zu Rihannas »We Found Love« in einem Walmart von dem verrückten Jake (Shia LaBoeuf) angezogen fühlt und sich seiner Crew anschließt. Diese Crew reist durch wohlhabende Gegenden und verkauft Magazin-Abos.
Andrea Arnold ist mehrere Monate mit einer solchen Crew durch die Staaten gereist, aber trotz dieser Annäherungsform, die eher dem dokumentarischen Kino entspricht, ist American Honey weniger eine begleitende Studie, die von Trostlosigkeit und Prekarität erzählt, als eine rasante Fahrt zu wilden Pop-Beats. Star, ihre Jungs und Mädels, vor allem die Musik, die sie hören, sind dem Film selbst in jeder Hinsicht vorgängig, bestimmen ihn derart, dass es der Kamera nur gerade so zu gelingen scheint, aus ihren Bewegungen irgendwie Kino zu machen. Von Pop begleitete Filme drohen ja schnell zu nerven, in Musikvideo-Ästhetik und Bebilderungen von Playlists abzugleiten. Hier jedoch sind es diese jungen Menschen selbst, die die Tonspur zudröhnen. Man kann Arnolds Haltung ihren Figuren gegenüber für simpel affirmativ halten, aber ist der Film gar nicht in der Lage etwas zu affirmieren, kann nichts anderes zu tun als sich affizieren zu lassen und selbst wieder 18 zu werden. »We found love in a hopeless place«, heißt es bei Rihanna. Dankbare Catchline für diesen Film. Andrea Arnold gibt sich diesem ohnehin schon überstrapazierten Track nicht nur in einer, sondern in zwei Sequenzen hin. Und beide Male ist es ganz wunderbar.