26.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Heim­su­chungen

Pedro Almodóvars Julieta
Pedro Almodóvars Julieta: Kein großer Film, aber ein hübscher.
(Foto: Tobis Film GmbH)

Nicht nur bei der Preisverleihung fehlte das Eigentliche: Über abwesende Präsenzen im diesjährigen Wettbewerb von Cannes – Epilog von Till Kadritzke

Von Till Kadritzke

Über die teils enttäu­schenden, teils geradezu erschre­ckenden Entschei­dungen der Jury um George Miller ist bereits ausführ­lich geschrieben worden. Viel­leicht sollte man sie lieber mit Ignoranz strafen. Man könnte sagen, irren sei mensch­lich, und die Jury in Cannes besteht schließ­lich auch nur aus Menschen. Vor allem aber besteht die Jury in Cannes aus einer sehr großen Anzahl an Menschen. Aus einer so großen Anzahl, dass radikale, eigen­wil­lige, die richtige Leute vor den Kopf stoßende Entschei­dungen eigent­lich ein Ding der Unmög­lich­keit sind. Wenn Holocaust-Reprä­sen­tierer Laszlo Nemes mit Ex-Chanel-Model Vanessa Paradis über Kino-Mastur­bierer Nicolas Winding Refn disku­tiert, kommt am Ende eben Ken Loach heraus. Der kleinste gemein­same Nenner schlägt jedes einzeln erfahrene Erlebnis. Und so sind Filme dieses Cannes-Jahrgangs, die mir präsent bleiben werden, bei der Preis­ver­lei­hung eigen­tüm­lich abwesend.

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Die Präsenz des Abwe­senden: das war auch in den Filmen selbst ein wieder­keh­rendes Motiv. Schon in Cristi Puius Sier­an­evada, dem ersten im Wett­be­werb gezeigten Beitrag, ist es ein Toter, der als filmi­scher Magnet funk­tio­niert. Seine zum Leichen­schmaus versam­melten Angehö­rigen lässt der Film in einer ziemlich kleinen Wohnung aufein­an­der­prallen. Eine meist im Flur veran­kerte und von dort aus unauf­ge­regt die Bewe­gungen der Figuren nach­zie­hende Kamera ist die Entspre­chung für einen abwe­senden Blick, der längst seinen Frieden gefunden zu haben scheint. Während­dessen wird das Leben der Lebenden unab­lässig irritiert. Über das Festmahl selbst wird zwar geredet, gegessen wird aber erst in der letzten Einstel­lung des knapp dreis­tün­digen Films. Davor wird auf den Priester gewartet, sorgt die pubertäre Tochter für Wirbel, muss ein Baby wieder einschlafen, Verschwörungs­theo­rien disku­tiert und Ehekrisen eskaliert werden. Cristian Mungius im Vergleich ziemlich plumpes Gewis­sens­fragen-Stück Bacalau­reat erhielt den Regie­preis; Landsmann Puiu hingegen war mit seiner gran­diosen Nahrungs­ver­zehr­ver­zö­ge­rung bei der Preis­ver­lei­hung überhaupt nicht vertreten.

Auch im letzten gezeigten Film des Wett­be­werbs, Paul Verhoe­vens gran­diosem Elle, wird die von Isabelle Huppert gespielte Michèle von einem Abwe­senden heim­ge­sucht: ihrem Vater. Dieser ist zwar nicht tot, aber wegge­sperrt, seit er vor 35 Jahren 27 Menschen getötet hat – und mehrere Tiere, die Michèle in einer tollen Weih­nachts­szene einzeln aufzählt. Als über der Handlung schwe­bendes großes Arschloch prägt dieser Massen­mörder Verhoe­vens Film, noch prägender für Michèle ist aber wohl jenes Foto, das damals am Tatort von ihr entstand, mit Nachthemd im Garten, gefun­denes Presse-Fressen. Das kleine psycho­pa­thi­sche Mädchen, dieses Label wird man so schnell nicht los. Für Elle ist dieser Hinter­grund auf den ersten Blick nur einer von unzäh­ligen Erzähl­strängen, doch scheint er dem Film auch so etwas wie geheimer Ausgangs­punkt zu sein, medial vermit­telte Urper­ver­sion, die diesen Film fest im Griff hat und immer wieder heimsucht.

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Gänzlich anders ange­legten Verbin­dungen von Heim­su­chung und Medien ging Olivier Assayas in seinem Personal Shopper auf den Grund. Den geheimen Zusam­men­hang zwischen Spiri­tua­lität und Technik – spätes­tens seit den 1960er Jahren ja eher als Gegensatz gedacht –, macht der Film sehr explizit, als er auf den Geister-Chic im 19. Jahr­hun­dert und die zur gleichen Zeit entste­hende Morse-Technik verweist. Wie schon in den Die Wolken von Sils Maria spielt Assayas mit Medien- und Tech­nik­ge­schichte, baut alte Filme in seinen neuen Film ein. Wie immer macht er das sehr konkret, verankert im Hier und Jetzt, und das heißt heute: per YouTube. Zugleich aktua­li­siert der Film den Spir­tua­li­täts-Technik-Komplex in seiner Form. Es gibt hier nämlich gerade nicht nur die vielfach erwähnten expli­ziten Geis­ter­szenen, die in den Pres­se­vor­füh­rungen teilweise Gelächter und Buhrufe hervor­riefen. Assayas versteht auch unsere neuen smarten Helfer­lein als abwesende Präsenzen, als Medien im doppelten Sinne, als Zugang zu anderen Welten.

So kommu­ni­ziert die von Kristen Stewart gespielte Prot­ago­nistin nicht nur ständig per Skype, sie erhält auch unheim­liche Nach­richten auf ihr iPhone – von einer Nummer, die sie nicht kennt und hinter der sie bald wahlweise ihren verstor­benen Bruder oder einen creepy Stalker vermutet. Den Unbe­kannten Teil­nehmer der Smart­phones inter­pre­tiert Assayas als »ghost in the machine« unserer Zeit. Und diesen Geist lässt er dann noch in unserem Unbe­wussten herum­wil­dern. Kristen Stewarts Handy­kon­takt spricht jeden­falls von verbo­tenen Begehren, vom Wunsch nach Trans­gres­sion. Viel­leicht ist das radikale Außen also ein unver­stan­denes Innen. Auf ein Wieder­sehen dieses in alle Rich­tungen offenen Films freue ich mich jetzt schon. Assayas zumindest hat am Sonn­tag­abend einen Regie-Preis bekommen. Dass er sich diesen aller­dings mit Cristian Mungiu teilen musste, zeugt davon, dass es selbst gegenüber diesem Film in der Jury Vorbe­halte gab.

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Auch bei altge­dienten Autoren­fil­mern wie Pedro Almodóvar oder den Dardenne-Brüdern, die seit etlichen Jahren regel­mäßig in den Wett­be­werb einge­laden werden, bestimmten im Bild abwesende Entitäten den jeweils entschei­denden Flucht­punkt. In Almo­dó­vars Julieta ist es die verschwun­dene Tochter der titel­ge­benden Prot­ago­nistin, die irgendwo im Off lebt. Nicht nur ist sie irgend­wann einfach aus dem Leben der Mutter verschwunden, auch hat sie alles dafür getan, ihren Aufent­haltsort zu verschleiern. Almodóvar geht von Julietas Trauma der verlo­renen Tochter aus – den die Frau just dann wieder heimsucht, als sie gerade einen Neuanfang versuchen will – und entfaltet dann mithilfe von Rück­blenden im Stile des klas­si­schen Holly­woods das ganze Drama. Kein großer Film, aber ein hübscher.

Bei den Dardennes ist es wiederum eine Tote, die das Leben der charmant kontroll­wü­tigen Jenny (stark gespielt von Adèle Haenel) durch­ein­ander bringt, einer allseits beliebten Ärztin, die mit Dardenne'scher Noncha­lance als eine Quasi-Heilige porträ­tiert wird. Als die Sprech­stunde eines Abends längst vorbei ist, klingelt es an der Praxis, aber Jenny befiehlt ihrem Prak­ti­kanten, nicht ranzu­gehen. Am Tag darauf taucht die Polizei auf; die Leiche einer afri­ka­ni­schen Migrantin wurde gefunden, auf dem Über­wa­chungs­video des Praxis­ein­gangs ist zu sehen, wie sie verzwei­felt klingelt und dann wegrennt. Innerlich wirft das Jenny aus der Bahn, äußerlich lässt sie sich nichts anmerken, subli­miert ihren kühl-empa­thi­schen Habitus in den Modus der Hobby-Detek­tivin und gibt sich ihrem Willen zum Wissen hin. In dieser Konstel­la­tion einer heilen Welt, die ihren eigenen dunklen Unterbau entdeckt, scheinen die Dardennes mit ihrem inneren Lynch zu kämpfen, töten diesen in einem viel zu deut­li­chen Ende dann aber endgültig ab, und so bleibt eigen­tüm­lich wenig übrig von diesem Film.

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Almodóvar und die Dardennes sind ebenfalls leer ausge­gangen auf der Preis­ver­lei­hung am Sonntag, was noch viel eher nach­zu­voll­ziehen ist als die Ignoranz gegenüber den Werken von Nicolas Winding Refn, Maren Ade, Cristi Puiu oder Paul Verhoeven. Der Schrecken deutete sich schon früh an, denn die Bildregie der Verlei­hung fängt bereits im Laufe der ersten halben Stunde – in denen noch keine Palmen vergeben werden – die Gesichter der anwe­senden Filme­ma­cher und Darsteller ein. Und es waren immer dieselben Gesichter: Mungiu und Asghar Farhadi, Loach und Xavier Dolan. So ahnte man bereits das Kommende, und es blieb kaum etwas anderes übrig als auf eine weitere unan­gekün­digte Heim­su­chung zu warten: die Skype-Schaltung zu Kristen Stewart, die endlose Verzö­ge­rung der Entschei­dung für die Goldene Palme à la Cristi Puiu, oder, noch besser, den über­ra­schenden Schnitt auf einen im Publikum hockenden Toni Erdmann, der mit einem einzigen souver­änen Grinsen dieser ganzen Veran­stal­tung den Wind aus allen Segeln genommen hätte.