69. Filmfestspiele Cannes 2016
Heimsuchungen |
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Pedro Almodóvars Julieta: Kein großer Film, aber ein hübscher. | ||
(Foto: Tobis Film GmbH) |
Von Till Kadritzke
Über die teils enttäuschenden, teils geradezu erschreckenden Entscheidungen der Jury um George Miller ist bereits ausführlich geschrieben worden. Vielleicht sollte man sie lieber mit Ignoranz strafen. Man könnte sagen, irren sei menschlich, und die Jury in Cannes besteht schließlich auch nur aus Menschen. Vor allem aber besteht die Jury in Cannes aus einer sehr großen Anzahl an Menschen. Aus einer so großen Anzahl, dass radikale, eigenwillige, die richtige Leute vor den Kopf stoßende Entscheidungen eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit sind. Wenn Holocaust-Repräsentierer Laszlo Nemes mit Ex-Chanel-Model Vanessa Paradis über Kino-Masturbierer Nicolas Winding Refn diskutiert, kommt am Ende eben Ken Loach heraus. Der kleinste gemeinsame Nenner schlägt jedes einzeln erfahrene Erlebnis. Und so sind Filme dieses Cannes-Jahrgangs, die mir präsent bleiben werden, bei der Preisverleihung eigentümlich abwesend.
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Die Präsenz des Abwesenden: das war auch in den Filmen selbst ein wiederkehrendes Motiv. Schon in Cristi Puius Sieranevada, dem ersten im Wettbewerb gezeigten Beitrag, ist es ein Toter, der als filmischer Magnet funktioniert. Seine zum Leichenschmaus versammelten Angehörigen lässt der Film in einer ziemlich kleinen Wohnung aufeinanderprallen. Eine meist im Flur verankerte und von dort aus unaufgeregt die Bewegungen der Figuren nachziehende Kamera ist die Entsprechung für einen abwesenden Blick, der längst seinen Frieden gefunden zu haben scheint. Währenddessen wird das Leben der Lebenden unablässig irritiert. Über das Festmahl selbst wird zwar geredet, gegessen wird aber erst in der letzten Einstellung des knapp dreistündigen Films. Davor wird auf den Priester gewartet, sorgt die pubertäre Tochter für Wirbel, muss ein Baby wieder einschlafen, Verschwörungstheorien diskutiert und Ehekrisen eskaliert werden. Cristian Mungius im Vergleich ziemlich plumpes Gewissensfragen-Stück Bacalaureat erhielt den Regiepreis; Landsmann Puiu hingegen war mit seiner grandiosen Nahrungsverzehrverzögerung bei der Preisverleihung überhaupt nicht vertreten.
Auch im letzten gezeigten Film des Wettbewerbs, Paul Verhoevens grandiosem Elle, wird die von Isabelle Huppert gespielte Michèle von einem Abwesenden heimgesucht: ihrem Vater. Dieser ist zwar nicht tot, aber weggesperrt, seit er vor 35 Jahren 27 Menschen getötet hat – und mehrere Tiere, die Michèle in einer tollen Weihnachtsszene einzeln aufzählt. Als über der Handlung schwebendes großes Arschloch prägt dieser Massenmörder Verhoevens Film, noch prägender für Michèle ist aber wohl jenes Foto, das damals am Tatort von ihr entstand, mit Nachthemd im Garten, gefundenes Presse-Fressen. Das kleine psychopathische Mädchen, dieses Label wird man so schnell nicht los. Für Elle ist dieser Hintergrund auf den ersten Blick nur einer von unzähligen Erzählsträngen, doch scheint er dem Film auch so etwas wie geheimer Ausgangspunkt zu sein, medial vermittelte Urperversion, die diesen Film fest im Griff hat und immer wieder heimsucht.
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Gänzlich anders angelegten Verbindungen von Heimsuchung und Medien ging Olivier Assayas in seinem Personal Shopper auf den Grund. Den geheimen Zusammenhang zwischen Spiritualität und Technik – spätestens seit den 1960er Jahren ja eher als Gegensatz gedacht –, macht der Film sehr explizit, als er auf den Geister-Chic im 19. Jahrhundert und die zur gleichen Zeit entstehende Morse-Technik verweist. Wie schon in den Die Wolken von Sils Maria spielt Assayas mit Medien- und Technikgeschichte, baut alte Filme in seinen neuen Film ein. Wie immer macht er das sehr konkret, verankert im Hier und Jetzt, und das heißt heute: per YouTube. Zugleich aktualisiert der Film den Spirtualitäts-Technik-Komplex in seiner Form. Es gibt hier nämlich gerade nicht nur die vielfach erwähnten expliziten Geisterszenen, die in den Pressevorführungen teilweise Gelächter und Buhrufe hervorriefen. Assayas versteht auch unsere neuen smarten Helferlein als abwesende Präsenzen, als Medien im doppelten Sinne, als Zugang zu anderen Welten.
So kommuniziert die von Kristen Stewart gespielte Protagonistin nicht nur ständig per Skype, sie erhält auch unheimliche Nachrichten auf ihr iPhone – von einer Nummer, die sie nicht kennt und hinter der sie bald wahlweise ihren verstorbenen Bruder oder einen creepy Stalker vermutet. Den Unbekannten Teilnehmer der Smartphones interpretiert Assayas als »ghost in the machine« unserer Zeit. Und diesen Geist lässt er dann noch in unserem Unbewussten herumwildern. Kristen Stewarts Handykontakt spricht jedenfalls von verbotenen Begehren, vom Wunsch nach Transgression. Vielleicht ist das radikale Außen also ein unverstandenes Innen. Auf ein Wiedersehen dieses in alle Richtungen offenen Films freue ich mich jetzt schon. Assayas zumindest hat am Sonntagabend einen Regie-Preis bekommen. Dass er sich diesen allerdings mit Cristian Mungiu teilen musste, zeugt davon, dass es selbst gegenüber diesem Film in der Jury Vorbehalte gab.
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Auch bei altgedienten Autorenfilmern wie Pedro Almodóvar oder den Dardenne-Brüdern, die seit etlichen Jahren regelmäßig in den Wettbewerb eingeladen werden, bestimmten im Bild abwesende Entitäten den jeweils entscheidenden Fluchtpunkt. In Almodóvars Julieta ist es die verschwundene Tochter der titelgebenden Protagonistin, die irgendwo im Off lebt. Nicht nur ist sie irgendwann einfach aus dem Leben der Mutter verschwunden, auch hat sie alles dafür getan, ihren Aufenthaltsort zu verschleiern. Almodóvar geht von Julietas Trauma der verlorenen Tochter aus – den die Frau just dann wieder heimsucht, als sie gerade einen Neuanfang versuchen will – und entfaltet dann mithilfe von Rückblenden im Stile des klassischen Hollywoods das ganze Drama. Kein großer Film, aber ein hübscher.
Bei den Dardennes ist es wiederum eine Tote, die das Leben der charmant kontrollwütigen Jenny (stark gespielt von Adèle Haenel) durcheinander bringt, einer allseits beliebten Ärztin, die mit Dardenne'scher Nonchalance als eine Quasi-Heilige porträtiert wird. Als die Sprechstunde eines Abends längst vorbei ist, klingelt es an der Praxis, aber Jenny befiehlt ihrem Praktikanten, nicht ranzugehen. Am Tag darauf taucht die Polizei auf; die Leiche einer afrikanischen Migrantin wurde gefunden, auf dem Überwachungsvideo des Praxiseingangs ist zu sehen, wie sie verzweifelt klingelt und dann wegrennt. Innerlich wirft das Jenny aus der Bahn, äußerlich lässt sie sich nichts anmerken, sublimiert ihren kühl-empathischen Habitus in den Modus der Hobby-Detektivin und gibt sich ihrem Willen zum Wissen hin. In dieser Konstellation einer heilen Welt, die ihren eigenen dunklen Unterbau entdeckt, scheinen die Dardennes mit ihrem inneren Lynch zu kämpfen, töten diesen in einem viel zu deutlichen Ende dann aber endgültig ab, und so bleibt eigentümlich wenig übrig von diesem Film.
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Almodóvar und die Dardennes sind ebenfalls leer ausgegangen auf der Preisverleihung am Sonntag, was noch viel eher nachzuvollziehen ist als die Ignoranz gegenüber den Werken von Nicolas Winding Refn, Maren Ade, Cristi Puiu oder Paul Verhoeven. Der Schrecken deutete sich schon früh an, denn die Bildregie der Verleihung fängt bereits im Laufe der ersten halben Stunde – in denen noch keine Palmen vergeben werden – die Gesichter der anwesenden Filmemacher und Darsteller ein. Und es waren immer dieselben Gesichter: Mungiu und Asghar Farhadi, Loach und Xavier Dolan. So ahnte man bereits das Kommende, und es blieb kaum etwas anderes übrig als auf eine weitere unangekündigte Heimsuchung zu warten: die Skype-Schaltung zu Kristen Stewart, die endlose Verzögerung der Entscheidung für die Goldene Palme à la Cristi Puiu, oder, noch besser, den überraschenden Schnitt auf einen im Publikum hockenden Toni Erdmann, der mit einem einzigen souveränen Grinsen dieser ganzen Veranstaltung den Wind aus allen Segeln genommen hätte.