17.05.2016
69. Filmfestspiele Cannes 2016

Auf schlüpf­rigem Gelände

Toni Erdmann
Sandra Hüller und Peter Simonischeck können in Cannes getrost den Helm abnehmen: Toni Erdmann von Maren Ade ist der Favorit
(Foto: Komplizen Film)

Die neuen Freunde von »Toni Erdmann«, der deutsche Empfang und Stuttgarter Befindlichkeiten, aus gegebenem Anlass – Cannes-Notizen, 7. Folge

Von Rüdiger Suchsland

Zu Toni Erdmann noch ein paar unge­ord­nete Nach­be­mer­kungen: Ich verstehe diesen tollen, nach­den­kens­werten Film als eine Deka­denz­kritik, die mitten in die Gegenwart zielt, auch auf ein Festival wie dieses, aber noch viel mehr auf die Welt, die es umgibt.

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Dies ist aber auch ein Film, der nicht einfach ist, gerade weil er sich nicht anbiedert. Wenn »die Leute« bei uns daheim nun glauben, das ist ein eingän­giger Film, werden sie sich mögli­cher­weise umgucken: Ein an Til Schweiger geschultes und mit »Verbotene Liebe« sozia­li­siertes Publikum wird hier absolut über­for­dert.

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Ein Gedanke, als bei der Premiere zehn Limou­sinen der Dele­ga­tion vorfuhren, und aus fünf von ihnen ausschließ­lich Förderer entstiegen, von denen einige in jedem Fall kein Geld gegeben haben: Das Blöde ist, dass dieser Film nun als Entschul­di­gung und Recht­fer­ti­gung für vieles benutzt werden wird, dass die Förderer jetzt wieder denken oder behaupten, nun sei ja alles gut. Isses aber nich!

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Eher lustig für die, die es nicht betrifft, ist die Infor­ma­tion, dass der Verleih Tobis, der die Verkeih­rechte an Toni Erdmann hatte, den fertigen Film nach Ansicht zurück­ge­geben hat – weil »sie ihn nicht mochten«. Diese Info habe ich nicht von der Produk­tion. Das kann ja jedem passieren, keine Häme also, aber es hilft uns, die bei anderen Gele­gen­heiten gern erwähnte Expertise der Verleiher in Fragen Qualität und Chancen eines Films etwas realis­ti­scher einzu­schätzen.

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In der Theorie ist Toni Erdmann auch Wasser auf die Mühlen der Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters. Die beklagt gern und zu recht den Förder­tou­rismus. Nun hat Toni Erdmann, wenn ich richtig gezählt habe, fünf Länder­för­derer. Das hat den Film bestimmt ein paar hunder­tau­send Euro teurer gemacht. Auch besser?

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Monika Grütters hatte »persön­liche Gründe«, so ist zu hören, die sie davon abhielten, in diesem Jahr überhaupt nach Cannes zu kommen. Was für »persön­liche Gründe« können das denn sein? Mit dem Pfingst­wo­chen­ende hat es sicher­lich nichts zu tun. So oder so aber hat die Kultur­staats­mi­nis­terin die falsche Entschei­dung getroffen. Nach vielen Jahren ohne deutschen Wett­be­werbs­film hätte es der für Film zustän­digen Minis­terin, in deren Aufga­ben­be­reich Film auch eine viel höhere Bedeutung einnimmt als Denk­mä­ler­ein­wei­hungen, Gemäl­de­ga­le­rien und das Verfassen von Nachrufen, auch wenn das alles Frau Grütters persön­lich viel­leicht mehr inter­es­sieren mag, gut ange­standen, in Cannes Präsenz zu zeigen. Erst recht, weil sie doch gern von der Frau­en­quote redet, und hier mal eine Regis­seurIN...
Einmal mehr hat Frau Grütters keinen Instinkt gezeigt und die falsche Entschei­dung getroffen, einmal mehr bezwei­feln viele aus der Szene, dass sie für den Film eine gute Minis­terin ist.
Das Ergebnis ihrer »persön­li­chen Gründe« war jeden­falls, dass nun ihre Abwe­sen­heit zum ähnlichen Gesprächs­thema wurde, wie im Vorjahr ihre pein­li­chen Fußballsätze auf dem deutschen Empfang.

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»Was ist noch schlimmer, als mit dem VfB abzu­steigen?« fragt Jochen Laube, leiden­schaft­li­cher VfB-Stuttgart-Anhänger und Produzent am Sams­tag­abend, wenige Stunden, nachdem die letzten eher theo­re­ti­schen Chancen auf einen Klas­sen­er­halt des VfB zerstoben waren. Antwort: »Mit dem VfB abzu­steigen am Tag des deutschen Empfangs in Cannes.« Weil für alle, die Jochen kennen, klar ist, dass ihm der VfB noch um einiges wichtiger ist als die üblichen Lage­ge­spräche und das Förde­rer­schul­ter­klopfen, das solch eine Cannes-Woche rituell begleitet, wurde er von fast jedem am Abend auf den Abstieg ange­spro­chen. »Ich war im Kino«, erzählt er, habe sich Toni Erdmann ange­schaut, »weil ich schon wusste, was passieren würde. Besser gesagt: nicht passieren.«

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»Mein Spiel­system ist nicht verhan­delbar.« – Als er zum Beginn der letzten Saison seinen Job als Trainer beim VfB Stuttgart antrat, hatte Alexander Zorniger den Mund ziemlich voll­ge­nommen. Die ersten fünf Spiele hat er dann verloren, im Spätherbst wurde er entlassen, und der Stutt­garter Tradi­ti­ons­verein ist auch ohne ihn abge­stiegen. »Das darf kein Trainer der Welt sagen«, schimpft Egon Nieser, Verleih­chef vom Arsenal Film­ver­leih und ebenfalls VfB-Fan. Da hat er recht. Vor allem, weil erfolg­reiche Trainer wie Guardiola, Tuchel und Klopp eher fünf verschie­dene Spiel­sys­teme trai­nieren und bei Bedarf umstellen. Das verbindet Fußball mit dem Kino, und auch dort ist Dogma­tismus meist das falsche Rezept.

Mit Egon hatte ich schon auf dem Hinflug – German­wings, Zwischen­lan­dung in Stuttgart – über seinen Lieb­lings­verein gespro­chen, und an ein »Wunder von Wolfsburg« hatte er da bereits nicht mehr geglaubt.
Wir reden über Ex-VfB-Manager Bobic, der jetzt zu Frankfurt gehen will, um dem nächsten Tradi­ti­ons­club einen Todesstoß zu versetzen, über den ehema­ligen Erfolgs­trainer Thomas Schaaf von dessen drei letzten Vereinen jetzt der aller­letzte direkt abge­stiegen ist, der vorletzte in die Rele­ga­tion muss und der dritt­letzte sich mit Ach und Krach gerettet hat – der also am nächsten dran ist an allen Abstiegen, der Loser der Saison. Und über Robin Dutt, der unser Ansicht nach auch bisher jeden Verein, bei dem er arbeitete, in schlech­terem Zustand verlassen hat, als er ihn übernahm. Über Armin Veh, zuletzt abwech­selnd bei Stuttgart und Frankfurt ein softer Laissez-faire-Coach, hätte man auch noch reden können. »Alles begann mit der letzten Meis­ter­saison 2007«, sagt Egon. Danach begann der Nieder­gang.

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Die Saison­bi­lanzen, die immer während Cannes anfallen, führen jetzt auch zu einer regio­nalen Über­le­gung: Denn am Wochen­ende sind in den ersten drei Ligen insgesamt gleich drei Mann­schaften aus Stuttgart abge­stiegen, und eine aus Frankfurt. Eine zweite – die Frank­furter Eintracht – kann noch absteigen. Abgesehen davon, dass der deutsche Profi­fuß­ball mehr und mehr einer Hand­ball­liga ähnelt mit diesen Heiden­heims, Hoffen­heims, Sand­hau­sens und Ingols­tädten, möchte man doch gern wissen: Was ist eigent­lich los in Stuttgart und Frankfurt, was ist nur los in Südwest­deutsch­land? Fünf von neun Absteiger-Vereinen kommen aus zwei Städten. (Umgekehrt können jetzt zwei frän­ki­sche Clubs aufsteigen).

Es fällt auf, dass beide Länder – Baden-Würt­tem­berg und Hessen Schwarz­grün (bzw. Grün­schwarz) regiert werden. Verdirbt Schwarz­grün den Fußball?
Fußball ist eine inter­es­sante und sehr flexible Metapher, die sich auf alles andere gut beziehen lässt. Oder gar der Ausdruck des Welt­geists? Alle, die jetzt denken: Nun spinnt der Suchsland endgültig, möchte ich auf das Trikot der deutschen Natio­nal­mann­schaft hinweisen. Im absurden 7:1-Halb­fi­nale gegen Brasilien spiete Deutsch­land in Schwarz-Rot. Wie die Koalition.
Im letzten Jahr wechselte das deutsche Auswärts­trikot in Schwarz­grün. Darum Vorsicht, Freunde, wenn es im Bund 2017 Schwarz­grün wird. Die Folgen für den Fußball können verhee­rend sein.

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Eben habe ich dann noch den Produ­zenten Peter Rommel getroffen, den dritten der VfB-Hinter­blie­benen. Er meint, die Situation der Sport­stadt-Stuttgart länge nicht an Grün-Schwarz: »Es liegt alles an Stuttgart 21«, meint Peter. Da hat man ein tiefes schwarzes Loch aufge­rissen, das den VfB veschluckt hat. Ob er darüber nicht viel­leicht mal einen Science Fiction drehen möchte, frage ich jetzt nicht. Wär aber eine Idee.
Peter hofft auf eine »Reinigung« in der Zweiten Liga. »Der VfB muss die alle loswerden«, sagt er, fügt aber gleich weise hinzu: »Aber wer soll dann kommen?«
Als ich sage, dass wir dann ja mal zusammen zu Union gehen könnte, und das aufmun­ternd meine, guckt er nochmal schmerz­ver­zerrt. Wir glauben beide, dass Eintracht Frankfurt jetzt gegen Nürnberg auch noch absteigen wird, dass Würzburg in die Zweite Liga aufsteigt. »Die Franken kommen!«
Ange­nehmer ist die Aussicht auf das morgige Finale der Euro­pa­le­ague zwischen Liverpool und Sevilla. »Da sind wir ja ganz klar für Livepool, nicht wahr?« Ganz klar!

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Nochmal zu Toni Erdmann: Ein Fehler in meinem Text wurde schon korri­giert: Nicht 1983, sondern 1988 war die letzte deutsche Regis­seurin mit einem Film im Cannes-Wett­be­werb gewesen. Es war Marga­rethe von Trotta, aber mit Fürchten und Lieben. Ein zweiter Fehler: In meiner etwas groß­spu­rigen Behaup­tung, seit 2000 oder länger habe es keinen guten deutschen Film in Cannes gegeben, habe ich einen vergessen. Fatih Akin war 2007 mit Auf der anderen Seite im Wett­be­werb. Sorry, Fatih!

Auch Hans Wein­gartner wollte ich nicht ausbür­gern. Aber ich folge halt einem viel­leicht allzu dogma­ti­schen Autoren­film­prinzip, nach dem die Natio­na­lität des Autors die Natio­na­lität eines Films entscheidet. Und da ist Wein­gartner Öster­rei­cher, genau wie Haneke. Das weiße Band war keine »Goldene Palme für Deutsch­land«. Fatih Akin aber kein Türke.

Wer jetzt mit den üblichen Argu­menten der Förderer und mancher Produ­zenten dagegen hält, dass aber doch Deutsch­land beteiligt sei, dem ist zu entgegnen, dass man einen Film ja nicht gleich­zeitig zig Ländern zuschlagen kann.

Auch sollte man mit so etwas vorsichtig sein, das könnte nämlich nach hinten losgehen: Toni Erdmann ist eine Co-Produk­tion mit Öster­reich und spielt zu großen Teilen in Rumänien. Und wenn es darum gehen soll, wer die Mehrheit des Geldes gegeben hat, dem entgegne ich mit dem schon neulich zitierten genialen Geld­theo­re­tiker Geog Simmel, der in seiner »Philo­so­phie des Geldes« geschrieben hat, dass Geld ortlos und geistlos ist, dass es das Kosmo­po­li­ti­sche an sich ist.

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Ich finde dieses ganze Natio­na­li­tä­ten­ge­rede sowieso blöd. Film ist Kunst, also universal, trans­na­tional. Wenn man aber unbedingt darauf beharren will, einem Film eine Natio­nal­flagge anzu­ste­cken, dann bitte die der Regis­seurin. Darum ist Toni Erdmann ein deutscher Film.

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Im Deutschen Pavillon aufge­schnappter Satz: »Der ist aber bestimmt sauer, wenn ich das nicht anziehe.« Eine junge Schau­spie­lerin über ihren Klei­der­sponsor.

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Nochmal auch zum deutschen Empfang: Zum einen war ich nicht der einzige, der sich fragte, warum es eigent­lich ausge­rechnet die »Villa Roth­schild« sein muss, in die die Deutschen einladen. Will man uns oder den Nicht­deut­schen damit irgend­etwas sagen? »Es gab doch auch mal diesen Nazi-Propa­gan­da­film« über die Roth­schilds, erinnerte sich ein Gesprächs­partner. Es gibt im schlüpf­rigen Gelände von Cannes eben viele kleine Untiefen, Wasser­gräben und Hinder­nisse.

Lustig, lange Zeit im Eingangs­be­reich zu stehen. Der ähnelte nämlich nicht etwa wegen der vielen Kame­ra­teams bald einem Hinder­nis­par­cours, sondern, weil die vielen Gäste eine kleine Uneben­heit derart einge­treten hatte, dass irgend­wann eine Art Mini-Graben entstand. Etwa ab Mitter­nacht konnte man dabei zugucken, wie reihen­weise Gäste, vor allen Frauen mit hohen Schuhen wegrutschten oder umknickten. Inter­es­sant auch, wer das nicht tat: Unsere Freunde von der Berlinale zum Beispiel über­wanden den Graben elegant. Die sind eben schlüp­riges Gelände gewohnt.
Zu einer Metapher für den deutschen Film, wollen wir das alles aber nicht erklären.

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Während des Festivals ist in Berlin der Regisseur und Autor Niklaus Schilling im Alter von 72 Jahren verstorben. Den Filmen von Niklaus Schilling ist eine kühne Kombi­na­tion von unter­schied­li­chen Genre­ele­menten eigen. Sein Lebensweg führte 1965 von Basel nach Deutsch­land – und als ein Schweizer schaute er mit besonders scharfem wie ironi­schem Blick auf die Wirk­lich­keiten des durch die NS-Diktatur ruinierten Nach­bar­landes und wie dieses geteilte Deutsch­land sich so und so entwi­ckelte.

Schilling war ein bild­be­wusster und avant­gar­dis­ti­scher Regisseur, dessen Filme Lust an Form­ex­pe­ri­menten und Neugier auf tech­ni­sche Neue­rungen glei­cher­maßen zeigen. Keiner Schule zugehörig, arbeitete der 1944 geborene Schilling zunächst in München als Kame­ra­mann von Rudolf Thome, Klaus Lemke, Marran Gosov, May Spils und Jean-Marie Straub. Sein Spiel­film­debüt Nacht­schatten von 1971 war ein Psycho­thriller. Lustvoll vermaß er das deutsche Kino seit den 1970er-Jahren neu. Die Vertrei­bung aus dem Paradies (1976) war Metafilm und Szene­komödie, in Rheingold (1977) aktua­li­sierte er unbe­fangen die mythi­schen Tradi­tionen des deutschen Kinos.

2014, zu Niklaus Schil­lings 70. Geburtstag, erschien in der von der Deutschen Kine­ma­thek heraus­ge­ge­benen Buchreihe »Filit« im Verbre­cher Verlag die erste Mono­grafie über Schilling. Karl Prümm gab seiner sensiblen Studie den Titel »Ein noto­ri­scher Grenz­ver­letzer«.

(to be continued)