69. Filmfestspiele Cannes 2016
Auf schlüpfrigem Gelände |
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Sandra Hüller und Peter Simonischeck können in Cannes getrost den Helm abnehmen: Toni Erdmann von Maren Ade ist der Favorit | ||
(Foto: Komplizen Film) |
Zu Toni Erdmann noch ein paar ungeordnete Nachbemerkungen: Ich verstehe diesen tollen, nachdenkenswerten Film als eine Dekadenzkritik, die mitten in die Gegenwart zielt, auch auf ein Festival wie dieses, aber noch viel mehr auf die Welt, die es umgibt.
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Dies ist aber auch ein Film, der nicht einfach ist, gerade weil er sich nicht anbiedert. Wenn »die Leute« bei uns daheim nun glauben, das ist ein eingängiger Film, werden sie sich möglicherweise umgucken: Ein an Til Schweiger geschultes und mit »Verbotene Liebe« sozialisiertes Publikum wird hier absolut überfordert.
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Ein Gedanke, als bei der Premiere zehn Limousinen der Delegation vorfuhren, und aus fünf von ihnen ausschließlich Förderer entstiegen, von denen einige in jedem Fall kein Geld gegeben haben: Das Blöde ist, dass dieser Film nun als Entschuldigung und Rechtfertigung für vieles benutzt werden wird, dass die Förderer jetzt wieder denken oder behaupten, nun sei ja alles gut. Isses aber nich!
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Eher lustig für die, die es nicht betrifft, ist die Information, dass der Verleih Tobis, der die Verkeihrechte an Toni Erdmann hatte, den fertigen Film nach Ansicht zurückgegeben hat – weil »sie ihn nicht mochten«. Diese Info habe ich nicht von der Produktion. Das kann ja jedem passieren, keine Häme also, aber es hilft uns, die bei anderen Gelegenheiten gern erwähnte Expertise der Verleiher in Fragen Qualität und Chancen eines Films etwas realistischer einzuschätzen.
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In der Theorie ist Toni Erdmann auch Wasser auf die Mühlen der Kulturstaatsministerin Monika Grütters. Die beklagt gern und zu recht den Fördertourismus. Nun hat Toni Erdmann, wenn ich richtig gezählt habe, fünf Länderförderer. Das hat den Film bestimmt ein paar hundertausend Euro teurer gemacht. Auch besser?
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Monika Grütters hatte »persönliche Gründe«, so ist zu hören, die sie davon abhielten, in diesem Jahr überhaupt nach Cannes zu kommen. Was für »persönliche Gründe« können das denn sein? Mit dem Pfingstwochenende hat es sicherlich nichts zu tun. So oder so aber hat die Kulturstaatsministerin die falsche Entscheidung getroffen. Nach vielen Jahren ohne deutschen Wettbewerbsfilm hätte es der für Film zuständigen Ministerin, in deren Aufgabenbereich Film auch eine viel höhere
Bedeutung einnimmt als Denkmälereinweihungen, Gemäldegalerien und das Verfassen von Nachrufen, auch wenn das alles Frau Grütters persönlich vielleicht mehr interessieren mag, gut angestanden, in Cannes Präsenz zu zeigen. Erst recht, weil sie doch gern von der Frauenquote redet, und hier mal eine RegisseurIN...
Einmal mehr hat Frau Grütters keinen Instinkt gezeigt und die falsche Entscheidung getroffen, einmal mehr bezweifeln viele aus der Szene, dass sie für den Film eine
gute Ministerin ist.
Das Ergebnis ihrer »persönlichen Gründe« war jedenfalls, dass nun ihre Abwesenheit zum ähnlichen Gesprächsthema wurde, wie im Vorjahr ihre peinlichen Fußballsätze auf dem deutschen Empfang.
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»Was ist noch schlimmer, als mit dem VfB abzusteigen?« fragt Jochen Laube, leidenschaftlicher VfB-Stuttgart-Anhänger und Produzent am Samstagabend, wenige Stunden, nachdem die letzten eher theoretischen Chancen auf einen Klassenerhalt des VfB zerstoben waren. Antwort: »Mit dem VfB abzusteigen am Tag des deutschen Empfangs in Cannes.« Weil für alle, die Jochen kennen, klar ist, dass ihm der VfB noch um einiges wichtiger ist als die üblichen Lagegespräche und das Fördererschulterklopfen, das solch eine Cannes-Woche rituell begleitet, wurde er von fast jedem am Abend auf den Abstieg angesprochen. »Ich war im Kino«, erzählt er, habe sich Toni Erdmann angeschaut, »weil ich schon wusste, was passieren würde. Besser gesagt: nicht passieren.«
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»Mein Spielsystem ist nicht verhandelbar.« – Als er zum Beginn der letzten Saison seinen Job als Trainer beim VfB Stuttgart antrat, hatte Alexander Zorniger den Mund ziemlich vollgenommen. Die ersten fünf Spiele hat er dann verloren, im Spätherbst wurde er entlassen, und der Stuttgarter Traditionsverein ist auch ohne ihn abgestiegen. »Das darf kein Trainer der Welt sagen«, schimpft Egon Nieser, Verleihchef vom Arsenal Filmverleih und ebenfalls VfB-Fan. Da hat er recht. Vor allem, weil erfolgreiche Trainer wie Guardiola, Tuchel und Klopp eher fünf verschiedene Spielsysteme trainieren und bei Bedarf umstellen. Das verbindet Fußball mit dem Kino, und auch dort ist Dogmatismus meist das falsche Rezept.
Mit Egon hatte ich schon auf dem Hinflug – Germanwings, Zwischenlandung in Stuttgart – über seinen Lieblingsverein gesprochen, und an ein »Wunder von Wolfsburg« hatte er da bereits nicht mehr geglaubt.
Wir reden über Ex-VfB-Manager Bobic, der jetzt zu Frankfurt gehen will, um dem nächsten Traditionsclub einen Todesstoß zu versetzen, über den ehemaligen Erfolgstrainer Thomas Schaaf von dessen drei letzten Vereinen jetzt der allerletzte direkt abgestiegen ist, der
vorletzte in die Relegation muss und der drittletzte sich mit Ach und Krach gerettet hat – der also am nächsten dran ist an allen Abstiegen, der Loser der Saison. Und über Robin Dutt, der unser Ansicht nach auch bisher jeden Verein, bei dem er arbeitete, in schlechterem Zustand verlassen hat, als er ihn übernahm. Über Armin Veh, zuletzt abwechselnd bei Stuttgart und Frankfurt ein softer Laissez-faire-Coach, hätte man auch noch reden können. »Alles begann mit der letzten
Meistersaison 2007«, sagt Egon. Danach begann der Niedergang.
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Die Saisonbilanzen, die immer während Cannes anfallen, führen jetzt auch zu einer regionalen Überlegung: Denn am Wochenende sind in den ersten drei Ligen insgesamt gleich drei Mannschaften aus Stuttgart abgestiegen, und eine aus Frankfurt. Eine zweite – die Frankfurter Eintracht – kann noch absteigen. Abgesehen davon, dass der deutsche Profifußball mehr und mehr einer Handballliga ähnelt mit diesen Heidenheims, Hoffenheims, Sandhausens und Ingolstädten, möchte man doch gern wissen: Was ist eigentlich los in Stuttgart und Frankfurt, was ist nur los in Südwestdeutschland? Fünf von neun Absteiger-Vereinen kommen aus zwei Städten. (Umgekehrt können jetzt zwei fränkische Clubs aufsteigen).
Es fällt auf, dass beide Länder – Baden-Württemberg und Hessen Schwarzgrün (bzw. Grünschwarz) regiert werden. Verdirbt Schwarzgrün den Fußball?
Fußball ist eine interessante und sehr flexible Metapher, die sich auf alles andere gut beziehen lässt. Oder gar der Ausdruck des Weltgeists? Alle, die jetzt denken: Nun spinnt der Suchsland endgültig, möchte ich auf das Trikot der deutschen Nationalmannschaft hinweisen. Im absurden 7:1-Halbfinale gegen Brasilien spiete
Deutschland in Schwarz-Rot. Wie die Koalition.
Im letzten Jahr wechselte das deutsche Auswärtstrikot in Schwarzgrün. Darum Vorsicht, Freunde, wenn es im Bund 2017 Schwarzgrün wird. Die Folgen für den Fußball können verheerend sein.
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Eben habe ich dann noch den Produzenten Peter Rommel getroffen, den dritten der VfB-Hinterbliebenen. Er meint, die Situation der Sportstadt-Stuttgart länge nicht an Grün-Schwarz: »Es liegt alles an Stuttgart 21«, meint Peter. Da hat man ein tiefes schwarzes Loch aufgerissen, das den VfB veschluckt hat. Ob er darüber nicht vielleicht mal einen Science Fiction drehen möchte, frage ich jetzt nicht. Wär aber eine Idee.
Peter hofft auf eine »Reinigung« in der Zweiten Liga. »Der VfB muss
die alle loswerden«, sagt er, fügt aber gleich weise hinzu: »Aber wer soll dann kommen?«
Als ich sage, dass wir dann ja mal zusammen zu Union gehen könnte, und das aufmunternd meine, guckt er nochmal schmerzverzerrt. Wir glauben beide, dass Eintracht Frankfurt jetzt gegen Nürnberg auch noch absteigen wird, dass Würzburg in die Zweite Liga aufsteigt. »Die Franken kommen!«
Angenehmer ist die Aussicht auf das morgige Finale der Europaleague zwischen Liverpool und Sevilla. »Da sind wir
ja ganz klar für Livepool, nicht wahr?« Ganz klar!
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Nochmal zu Toni Erdmann: Ein Fehler in meinem Text wurde schon korrigiert: Nicht 1983, sondern 1988 war die letzte deutsche Regisseurin mit einem Film im Cannes-Wettbewerb gewesen. Es war Margarethe von Trotta, aber mit Fürchten und Lieben. Ein zweiter Fehler: In meiner etwas großspurigen Behauptung, seit 2000 oder länger habe es keinen guten deutschen Film in Cannes gegeben, habe ich einen vergessen. Fatih Akin war 2007 mit Auf der anderen Seite im Wettbewerb. Sorry, Fatih!
Auch Hans Weingartner wollte ich nicht ausbürgern. Aber ich folge halt einem vielleicht allzu dogmatischen Autorenfilmprinzip, nach dem die Nationalität des Autors die Nationalität eines Films entscheidet. Und da ist Weingartner Österreicher, genau wie Haneke. Das weiße Band war keine »Goldene Palme für Deutschland«. Fatih Akin aber kein Türke.
Wer jetzt mit den üblichen Argumenten der Förderer und mancher Produzenten dagegen hält, dass aber doch Deutschland beteiligt sei, dem ist zu entgegnen, dass man einen Film ja nicht gleichzeitig zig Ländern zuschlagen kann.
Auch sollte man mit so etwas vorsichtig sein, das könnte nämlich nach hinten losgehen: Toni Erdmann ist eine Co-Produktion mit Österreich und spielt zu großen Teilen in Rumänien. Und wenn es darum gehen soll, wer die Mehrheit des Geldes gegeben hat, dem entgegne ich mit dem schon neulich zitierten genialen Geldtheoretiker Geog Simmel, der in seiner »Philosophie des Geldes« geschrieben hat, dass Geld ortlos und geistlos ist, dass es das Kosmopolitische an sich ist.
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Ich finde dieses ganze Nationalitätengerede sowieso blöd. Film ist Kunst, also universal, transnational. Wenn man aber unbedingt darauf beharren will, einem Film eine Nationalflagge anzustecken, dann bitte die der Regisseurin. Darum ist Toni Erdmann ein deutscher Film.
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Im Deutschen Pavillon aufgeschnappter Satz: »Der ist aber bestimmt sauer, wenn ich das nicht anziehe.« Eine junge Schauspielerin über ihren Kleidersponsor.
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Nochmal auch zum deutschen Empfang: Zum einen war ich nicht der einzige, der sich fragte, warum es eigentlich ausgerechnet die »Villa Rothschild« sein muss, in die die Deutschen einladen. Will man uns oder den Nichtdeutschen damit irgendetwas sagen? »Es gab doch auch mal diesen Nazi-Propagandafilm« über die Rothschilds, erinnerte sich ein Gesprächspartner. Es gibt im schlüpfrigen Gelände von Cannes eben viele kleine Untiefen, Wassergräben und Hindernisse.
Lustig, lange Zeit im Eingangsbereich zu stehen. Der ähnelte nämlich nicht etwa wegen der vielen Kamerateams bald einem Hindernisparcours, sondern, weil die vielen Gäste eine kleine Unebenheit derart eingetreten hatte, dass irgendwann eine Art Mini-Graben entstand. Etwa ab Mitternacht konnte man dabei zugucken, wie reihenweise Gäste, vor allen Frauen mit hohen Schuhen wegrutschten oder umknickten. Interessant auch, wer das nicht tat: Unsere Freunde von der Berlinale zum
Beispiel überwanden den Graben elegant. Die sind eben schlüpriges Gelände gewohnt.
Zu einer Metapher für den deutschen Film, wollen wir das alles aber nicht erklären.
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Während des Festivals ist in Berlin der Regisseur und Autor Niklaus Schilling im Alter von 72 Jahren verstorben. Den Filmen von Niklaus Schilling ist eine kühne Kombination von unterschiedlichen Genreelementen eigen. Sein Lebensweg führte 1965 von Basel nach Deutschland – und als ein Schweizer schaute er mit besonders scharfem wie ironischem Blick auf die Wirklichkeiten des durch die NS-Diktatur ruinierten Nachbarlandes und wie dieses geteilte Deutschland sich so und so entwickelte.
Schilling war ein bildbewusster und avantgardistischer Regisseur, dessen Filme Lust an Formexperimenten und Neugier auf technische Neuerungen gleichermaßen zeigen. Keiner Schule zugehörig, arbeitete der 1944 geborene Schilling zunächst in München als Kameramann von Rudolf Thome, Klaus Lemke, Marran Gosov, May Spils und Jean-Marie Straub. Sein Spielfilmdebüt Nachtschatten von 1971 war ein Psychothriller. Lustvoll vermaß er das deutsche Kino seit den 1970er-Jahren neu. Die Vertreibung aus dem Paradies (1976) war Metafilm und Szenekomödie, in Rheingold (1977) aktualisierte er unbefangen die mythischen Traditionen des deutschen Kinos.
2014, zu Niklaus Schillings 70. Geburtstag, erschien in der von der Deutschen Kinemathek herausgegebenen Buchreihe »Filit« im Verbrecher Verlag die erste Monografie über Schilling. Karl Prümm gab seiner sensiblen Studie den Titel »Ein notorischer Grenzverletzer«.
(to be continued)