69. Filmfestspiele Cannes 2016
Goldene Palme für Olivier Assayas, Regiepreis für Cristi Puiu, Grand Prix du Jury an Maren Ade! |
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Ginge es nach unserem Korrespondenten, erhielte Olivier Assayas' Personal Shopper die Goldene Palme – Le jury, c'est moi. | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Das Problem ist, dass es oft nur ums Abhaken geht. Da muss man das machen, dann macht man dies. Wie soll man den Augenblick festhalten?« – aus: Toni Erdmann
Die Filmfestspiele von Cannes gehen in die Zielgerade. Am Sonntagabend werden die Goldene Palme und viele weitere Preise verliehen. Unter den Favoriten ist auch gut eine Woche nach seiner Premiere der deutsche Wettbewerbsbeitrag Toni Erdmann von der Berliner Regisseurin Maren Ade.
In den letzten Tagen liefen vor allem Filme von früheren Preisträgern: Unter anderem der Film der
zweimaligen Preisträger Dardennes, Bacalaureat, vom Rumänen Cristian Mungiu, der 2007 die Goldene Palme gewann, quasi nacheinander die neuen Filme des Frankokanadiers Xavier Dolan, des Phillippino Brillante Mendoza, des Dänen Nicolas Winding Refn und des Iraners Asghar Farhadi, die alle in den letzten sechs bis acht Jahren schon Silberne Palmen gewannen. Merkwürdige
Programmierung.
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Aber wer wird heute Abend gewinnen? Die Lage ist unklar. Vielleicht scheue ich mich auch nur, das so klar zu sagen, weil es nicht chauvinistisch klingen soll, und weil ich den etwas absurden Druck, der jetzt auf diesem Film lastet, eher abbauen würde. Aber Maren Ades Toni Erdmann ist nicht nur in Kritikerspiegeln, sondern auch in den Gesprächen am Rand die Favoritin. Es ist interessant zu
erleben, wie sich dieser Hype vor Ort entwickelt, und sehr schnell völlig von den Fakten gelöst hat. Die Fakten bleiben: Mit dem erst dritten Spielfilm und der ersten Cannes-Teilnahme gleich zu gewinnen, wäre eine Sensation.
Und daneben muss man hier auch vorbauen: Auch wenn Maren Ade heute völlig leer ausgehen sollte, wäre das nur eine kleine Enttäuschung, aber sie wäre nicht »gescheitert«, hätte nicht verloren, sondern viel gewonnen. Preise sind nicht alles. Auch andere Preise wären ein
großer Erfolg, nicht nur die Goldene Palme.
Das Entscheidende ist;: Dieser Film wird dem Kino der ganzen Welt Impulse geben. Toni Erdmann hat ein Fenster für den Deutschen Film aufgemacht: Er hat gezeigt, was deutsches Kino sein könnte – aber auch, dass es das nicht ist. Denn wo wäre denn auch nur ein zweiter Film aus Deutschland, der mit diesem ernsthaft vergleichbar wäre und qualitativ
konkurrieren könnte? Nun müssen die Förderer und die Sender daraus auch die Konsequenzen ziehen, sonst wird dieser Erfolg jenseits aller Preise ein Erfolg, der nicht in Palmen bezahlt wird, sondern in den Währungen Sympathie, Aufmerksamkeit und Anerkennung, schnell wieder verblassen.
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Aber darüber wird in den nächsten Wochen, nach den Ergebnissen des Abends, zu viel zu reden sein. Heute darf man erstmal daran erinnern: Es könnte auch alles ganz anders kommen. Es gibt nämlich auch andere gute Filme im Wettbewerb, und es gibt andere Favoriten.
Einer davon ist ohne jede Frage das Familiendrama Sieranevada vom Rumänen Cristi Puiu. Der allererste Wettbewerbsfilm,
der als allererster programmiert wurde: Auf den Mittwoch, wo er in der Pressvorstellung parallel zum Eröffnungsfilm lief. Er ist geblieben, er hat in unseren Gemüter weitergearbeitet und von Anfang an einen Maßstab gesetzt.
Cannes macht dies übrigens oft: Am Mittwochabend oder Donnerstag liefen in den letzten Jahren sehr viele Filme, die sich über das komplette Festival hinweg als einer der Besten erwiesen haben. Selten jedoch als Gewinner. Ausnahme: Genau der rumänische Film, der 2007 die Goldene Palme gewann, Cristian Mungius Abtreibungsdrama (eher Schmonzette) 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage.
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Neben diesen beiden Filmen kam auch Paterson von Jim Jarmusch allgemein gut an, und Mademoiselle von Park Chan-wook. Der letzte Film, Paul Verhoevens Elle war dann so gut, dass er nach dem
schwächern letzten Drittel des Wettbewerbs, plötzlich alle begeisterte, und das Potential hat, das Feld von hinten aufzurollen. Sogar eine Goldene Palme für Verhoeven würde nicht überraschen. Alle anderen Filme werden nicht vorbehaltlos geliebt und spalten jene, die hier den kompletten Wettbewerb gucken.
Das heißt aber keineswegs, dass sie die Jury auch spalten. Es genügt ein einziges Jurymitglied, das bei Toni Erdmann sagt: »Only over my dead body«, und der Film gewinnt keinen Hauptpreis.
Es gibt Mitglieder, die ihre Aufgabe penibel ernst nehmen und notfalls stundenlang über jeden Film debattieren, die bereit sind, sich gegen alle anderen zu stellen. Und gibt welche, denen alles wurscht ist. Oder die Harmonie wünschen. Nicht alle haben einen guten Geschmack. Und dann kommen politische Kriterien dazu, das interesse daran, den Gastgeber sowie
alle Regionen dieser Welt zu bedienen: Man kann darauf wetten, dass die Wahrscheinlichkeit noch ist, dass bei den heutigen Preisen ein französischer und ein amerikanischer Film reüssieren. Normalerweise würde man sagen, dass auch ein Asiate und ein Latino einen Preis bekommen muss. Aber das Programm ist 2016 sehr Europa-lastig, es gibt nur einen Latino – den ich heute noch nachholen muss – und zwei Asiaten.
Welche Rolle spielen Freundschaften? Schwer zu sagen. Aber
als Robert de Niro und als Isabelle Huppert jeweils Jurypräsidenten waren, gewannen Filmemacher, mit denen sie eng verbunden waren: Terrence Malick und Michael Haneke – und die Gerüchte brodelten unüberhörbar. Obwohl jeder, der vor Ort war, auch wusste: Das weiße Band und The Tree of Life
waren die besten Filme im Programm.
In diesem Jahr liegt daher nahe, dass Nicolas Winding Refn für seinen lackierten Model-Slasher-Film The Neon Demon irgendeinen Preis bekommen wird: Denn Mads Mikkelsen hat viel mit Refn gedreht. Und eine der Hauptdarstellerinnen spielt auch in George Millers neuesten Mad Max mit.
Aber was wird mein Lieblingsregisseur Arnaud Desplechin für einen Einfluss ausüben? Desplechin ist ein Intellektueller in bester französischer Tradition. Er liebt Theater – Punkt für Toni Erdmann – und er liebt Hollywood. Kann er sich durchsetzen, oder ist er ein Outsider in dieser Jury. Und ist Kirsten Dunst jetzt
klug? Klug und nett? Oder einfach nur nett? Oder sogar dumm?
Also mal abwarten.
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In jedem Fall zeigen diese Beispiele zumindest mir selbst, dass in Cannes oft – im Gegensatz zu Venedig oder zur Berlinale – die Filme gewinnen, die auch ich am besten finde: Sowohl Terrence Malick und Michael Haneke waren meine klaren Favoriten, als auch La vie d’Adèle von Abdellatif Kechiche.
In diesem Jahr habe ich keinen Film, der derart klar herausragt. Aber zwei
Filme, die ich spannender interessanter und herausfordernder finde, als alle übrigen: Personal Shopper von Olivier Assayas (da stehe ich fast völlig allein, allerdings sieht Violeta Kovacsics aus Barcelona das genauso, und auf der Liste Todas las Críticas gibt es einige, die den Film sehr hoch einschätzen.
Der zweite ist Elle, da bin ich in größerer Gesellschaft. Aber der lebt auch von seiner Hauptdarstellerin. Daher: Wenn ich die Jury wäre, bekäme Assayas die Goldene Palme! Und Isabelle Huppert den Preis für die beste Schauspielerin. Der »Grand Prix du Jury« ginge an Maren Ade für Toni Erdmann. Und der Preis für »Beste
Regie« an Cristi Puiu. Der könnte aber auch an Park Chan-wook gehen, denn man dann mit dem »Prix du Jury« oder dem Drehbuchpreis etwas unter Gebühr abspeisen müsste.)
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Es gibt auch Worst-Case-Szenarien. Ganz oben bei den meisten, mit denen ich hier rede, ist dies ein Preis für Andrea Arnold. Der wäre nicht nur so stinklangweilig, wie ein Preis für Jarmusch, sondern eine Schande. Ist aber möglich, denn beim Mainstreampublikum und bei den Amerikanern kommt der Film unverdient gut an.
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Weltkino hat übrigens nach meinen Informationen keinen weiteren Wettbewerbsfilm gekauft. Wenn die goldene Weltkino-Orakel-Regel stimmt, geht die Goldene Palme heute Abend also an Assayas, Jarmusch oder Xavier Dolan. Ich kann’s noch nicht glauben.
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Wie muss es wohl sein, wenn man als Filmemacher auf den Anruf des Festivals wartet? Und wenn er dann kommt? Oder nicht kommt?
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Damit das auch noch gesagt ist: Man kann, glaube ich, schon heute sagen, wenn Maren Ades nächste Filme auch nur einigermaßen geglückt sind, hat sie die Einladung nach Cannes sicher. Toll! Gratulation, egal was heute Abend rauskommt!!
(to be continued)