Cinema Moralia – Folge 140
Da da da oder: Coming out of age |
||
»Gefühle runterbrechen...« – Netflix Serie THE GET DOWN | ||
(Foto: Netflix) |
»Es hat angefangen ein neuer Akt der
göttlichen Komödie, und sein Leitspruch
lautet: Die Menschen wissen, daß sie im
Himmel sind.«
Johannes Baader»Wir leben unter einem mörderischen, absurden Regime, einer kannibalischen Welt, die wir radikal ändern müssen.«
Jean Ziegler in dem Film »Jean Ziegler – l’optimisme de la volonté« von Nicolas Wadimoff»Dada ist Netflix, Netflix ist Dada.«
Alte Bauernregel
Wie erlangt man die ewige Seligkeit? Indem man Netflix sagt. Wie wird man berühmt? Indem man Netflix sagt. Mit edlem Gestus und mit feinem Anstand. Bis zum Irrsinn, bis zur Bewusstlosigkeit. Wie kann man alles Aalige und Journalige, alles Nette und Adrette, alles Vermoralisierte, Vertierte, Gezierte abtun? Indem man Netflix sagt. Netflix ist die Weltseele, Netflix ist der Clou, Netflix ist das beste nächste große Ding der Welt.
+ + +
Gespräch über ein Serienprojekt. Natürlich für Netflix, wasnsonst. Es geht um ein Doku-Projekt zur Avantgarde nach der Jahrhundertwende: Dada. Im Raum: ein Regisseur, ein Autor, eine Produzentin, ein Produzent, zwei Producer.
Der Regisseur: gepflegter Bart, gepflegte Bräune, Ringelsocken: wurstfingerdicke blaue Streifen auf weiß, dazu ein Holzfällerhemd und eine Fahrradkuriertasche, aber aus Leder, bestimmt 200 Euro, wahrscheinlich mehr. Natürlich ein Apple Air
Book.
Dada ist jung. Im Gespräch sagt der Regisseur darum immer »coming out of age«, er meint natürlich coming of age. Wenn’s nur das wäre. Aber er ist überhaupt ein großer Bluffer. Er hat schon alles gemacht, auch lange als Lektor gearbeitet, wow denke ich, Du bist ja ne Nummer. Darum versteht er auch Drehbücher sofort. Wichtig sind, sagt er, Ziele und Reflexion der Figuren. Er sagt andere, wichtige Dinge, denn er hat sie studiert:
»Auf einer akademischen Ebene ist Dada total
interessant.« Damit meint er: Für Dada interessiert sich heute keine Sau.
»Dramaturgie lebt von der Zukunft, von der Erwartung.« Will sagen: Wir können schon Dada machen, aber bitte ohne Vergangenheit.
»Das ist halt das Gegenteil von einem Festivalfilm.« Will sagen: Halt Du Suchsland mal gleich die Klappe.
»Lachen, Weinen, Träumen und Mitfühlen, Empören auch.« Damit meint er: bloß nix denken. Fernsehen ist Gefühl.
+ + +
Irgendwann hat der Regisseur eine originelle, nein: eine richtig mutige Idee: »Künstler von heute und ihre Reflexion über Dada«.
Auf den Einwand, dass das ja schon mal jemand gemacht hätte, sagt der Regisseur: Ja, aber die fand ich alle doof, was die zum Dada zu sagen haben, ne Pupsnummer, alles Kacke.
Wir machen die Fenster auf.
+ + +
Der Produzent: schwarzer Anzug. Anthrazithemd, bisschen zu glänzend. Der Produzent: Ein internationaler Film. Nur ein Gedanke und der Gedanke als Bewegung. Es ist einfach furchtbar. Wenn man eine Serie daraus macht, muss das bedeuten, man will Komplikationen wegnehmen. Dada Psychologie, Dada Literatur, Dada Bourgeoisie und Du, lieber Autor, der Du immer mit den Worten...
Dada Revolution – ja, möcht' ich auch gern machen. Wirklich. Wirklich! Kauft nur keiner, sendet
keiner. Leider. Echt.
+ + +
Der Produzent ist ein großer Naiver. Einer der wirklich glaubt, er hätte schon längst im Lotto gewonnen, wenn nur die Zahlen... er hatte ja die richtigen, aber dann... Eigentlich ist eine Netflix-Serie ganz einfach erfahre ich. Man muss einfach »ein Gefühl, das jeder kennt«... Genau. Und dann: »runterbrechen«.
+ + +
Irgendwann fragt der Produzent: »Könnte man nicht Dada ohne Dada machen?« – und freut sich einen Augenblick über seine gute Idee.
Dann: Auf die Verbindung kommt es an, und dass sie vorher ein bisschen unterbrochen wird.
+ + +
Am Schluss dann: Es ist furchtbar einfach. Auf Wiedersehen ein ander Mal! Ja, Sie haben Recht, so ist es. Jawohl, wirklich. Machen wir. Und so weiter.
+ + +
Verständnisfrage: Geht es darum, etwas Originelles (etwas Neues) zu machen, oder etwas Gutes zu machen?
Geht es darum die Autoren dazu zu bringen, dass sie etwas machen, was Erfolg hat (vermeintlich, denn genau weiß man es erst, wenn es soweit ist), oder darum, die Autoren dazu zu bringen, dass sie machen, was sie machen wollen und den Autoren dazu zu verhelfen, dass sie das können?
+ + +
Alle reden von Netflix, aber keiner hat irgendeine Ahnung. Dass das so ist, ist gut. Schon deshalb weil alle von Netflix reden, wird es nichts werden mit der Rettung des deutschen Films durch Netflix.
Der Spiegel übrigens redet nicht von Netflix. Die verkaufen denen nichts. Sie werden schon wissen warum.
+ + +
Der Produzent redet gern von Algorithmen, die angeblich wissen, was die Kunden sehen wollen. Die Algorithmen, sagen, dass sich die Netflix-Zuschauer für deutschen Geist nicht interessieren. Meint er wirklich Algorithmen?
Meine persönlichen Algorithmen sagen, dass Netflix deutsche Dokus aus den 70ern kauft, wie »Hitler – Eine Karriere« und die Helmut-Schmidt-Doku der ARD. Wenn die sowas senden, könnte man sich vielleicht darauf einigen, dass eh keiner weiß, was Netflix will.
Was die senden. Was Netflix-Zuschauer sehen wollen. Netflix ist daher der Ort eines großen Experiments, einer Riesenperformance. Kein Ort der Checker, sondern ein Ort für Freestyler. Länger als fünf Jahre wird das nicht so gehen, aber jetzt geht es so. Den Erfolg bei Netflix kann man so sicher planen, wie einen Lottogewinn.
Vergessen wir die Bescheidwisser.
Vergessen wir nicht: Netflix ist Dada.
+ + +
»Jeder Student ist eine Chance, das System zu ändern.«. Dies ist der Titel der Abschrift einer Diskussionsveranstaltung bei den Kurzfilmtagen Oberhausen zur Feier der ersten 50 Jahre dffb, die jetzt die Kollegen von critic.de veröffentlicht haben, und die die Auseinandersetzung lohnt.
+ + +
»Wir wollen über Frankreich reden« sagen die 33. Französischen Filmtage Tübingen (2. bis 9. November 2016) bei der Ankündigung ihres diesjährigen Programms. »und über den Rest der Welt. ... über gesellschaftliche Umbrüche, über Meinungs- und Pressefreiheit. Die Welt ist nicht ruhiger geworden, im Gegenteil. Die Fragen und Unsicherheiten gehen weiter: Warum ziehen Mädchen für den IS in den Dschihad? Wie können wir unsere Privatsphäre im Zeitalter der NSA schützen? Wie können
sich kleine Unternehmer gegen Großkonzerne behaupten? Was dürfen und können die Medien? Was ist Familie? Das sind nur einige der politischen, sozialen oder philosophischen Fragen, die wir im Zusammenhang mit unseren Filmen diskutieren wollen.«
Die Fragen sind groß, die Filme klein und ich bezweifle ob sie alle Fragen beantworten können. Aber besser große Fragen, als gar keine. Und sie – die Filme wie die Fragen – machen Lust, endlich mal nach Tübingen zu
fahren.
Zum Beispiel: La sociologue et l*eourson von Étienne Chaillou und Mathias Théry.
»Irène Théry ist Soziologin und Mitglied der Expertenkommission, die den Gesetzentwurf für die Homoehe in Frankreich erarbeitet hat. Ihr Sohn, der Filmemacher Mathias Théry machte sich zusammen mit Étienne Chaillou daran, die Kontroverse zu diskutieren. Was ist hier eigentlich los? Wer ist dafür, wer ist dagegen, und wieso? All das und noch viel mehr
besprechen Irène und Mathias am Telefon. Mit Hilfe animierter Plüschtiere wird erklärt, dass das Vater-Mutter-Kind-Modell, das wir für die vermeintlich ›natürliche*g Form der Familie halten, ein gesellschaftliches Konstrukt ist – noch dazu kein besonders altes. Der Begriff der Familie ist ein gesellschaftliches Konstrukt, das sich immer wieder verändert hat – und sich deshalb auch in Zukunft verändern kann. Ein origineller Dokumentarfilm, der das erstaunlich
sensible Thema mit den Mitteln der »Sendung mit der Maus*g auf ungewöhnliche Weise, aber sehr differenziert zur Diskussion stellt.«‹«
Oder Nothing to hide von Marc Meillassoux und Mihaela Gladovic. »Haben Sie etwas zu verbergen? Nein? Schon nach wenigen Minuten fällt jedem ein, dass es Dinge gibt, die man nicht der ganzen Welt mitteilen möchte. Trotzdem geben wir unzählige Informationen über uns preis: Wir installieren immer mehr Apps auf unserem
Handy oder akzeptieren Geschäftsbedingungen, die Unternehmen Zugang zu unseren Daten geben. Aus Sicherheitsgründen stellen wir unser Recht auf Privatsphäre zurück. Dabei will niemand in einem Überwachungsstaat leben, der einen die Freiheit raubt. Freiheit stirbt mit Sicherheit, behaupten wir – und sind beruhigt, wenn möglichst viele Kameras uns beim Küssen in der U-Bahn-Station filmen. Haben wir überhaupt noch private Geheimnisse? Was sagt es über uns und unsere Gesellschaft
aus, wenn wir uns an die Rechtfertigung klammern, dass wir nichts zu verbergen haben? ›Nothing to hide*g widmet sich den gesellschaftlichen und politischen Auswirkungen dieser Überwachungsepidemie. Der Dokumentarfilm wurde von Kickstarter als Crowdfunding-Projekt finanziert. ...
Wir, die wir immer noch fest an die Weltverbesserungsfähigkeit des Kinos glauben, freuen uns auf jede Menge zündenden Gesprächsstoff, auf lebendige Auseinandersetzungen und neue
Erkenntnisse, auf Austausch und Kommunikation und natürlich auf eine gute Zusammenarbeit und eine großartige Medienpräsenz, für die wir Ihnen schon jetzt herzlich danken. Für alle Rückfragen, Bildmaterial, Interviewtermine und ausführlicheren Informationen stehen wir Ihnen selbstverständlich gerne und jederzeit zur Verfügung.‹«
(to be continued)