02.03.2017
67. Berlinale 2017

Spiel mir das Lied vom Leben – Eine Playlist der 67. Berlinale 2017

A FEELING GREATER THAN LOVE
My Entire High School Sinking Into The Sea
(Grafik: Cinetic Media)

Edelmann und Willmann kennen keine Scham bei Überschriften gewinnt

Von Thomas Willmann

Von Thomas Willmann und Anna Edelmann

1. Arabi­sches Lauten­solo in Toivon tuolla puolen (Die andere Seite der Hoffnung)

Musik ist in Aki Kauris­mäkis ein Einfallstor fürs Leben. Wie seit eh und je sorgt sie auch in seinem neuen Film für jene Momente, wo die Emotio­na­lität, die hinter Maul­faul­heit und stoischen Mienen verborgen bleibt, unmit­telbar hörbar wird. Wie seit eh und je ertönen Schlager aus der Jukebox, spielen alte Finnen in aus der Zeit gefal­lenen Cafés Tango und Rock'n'Roll.
Dieses Mal jedoch mischen sich gleich­be­rech­tigt leise, unver­traute Laute hinzu: Kauris­mäki nimmt sich genauso Zeit, den syrischen Flücht­ling Khaled (Sherwan Haji) ein ganzes Lied zur orien­ta­li­schen Laute singen zu lassen.
Dies ist eine so lako­ni­sche wie schöne Art, den vermeint­lich Fremden zu einem der einsamen Einhei­mi­schen in Kauris­mäkis Welt zu erklären.
Freilich: Ganz inte­griert ist er erst, wenn er selbst so unent­schlossen zwischen Leben und Tod hängt, wie das melan­cho­lisch-nost­al­gi­sche, soli­da­ri­sche Finnland der Außen­seiter Kauris­mäkis.

2. Der Sound­track zu Shane in Logan

Fast 100 Jahre alt sei der Film, den sie im Fernsehen anschauen, sagt Professor Xavier (Patrick Stewart) mit nost­al­gi­scher Liebe. Genau genommen sind es 76, zum Zeitpunk der Handlung in Logan, im Jahr 2029. Jeden­falls: Andere Zeiten.
Dass James Mangolds Film so prominent und ausführ­lich Shane zitiert, liegt nicht allein daran, dass Logan selbst mehr Western ist als Super­hel­den­film. Vielmehr handeln beide vom selben Thema: Der Rolle des Helden und seiner Gewalt­ausü­bung in den Gründungs-Mythen der US-Kultur.
In Shane muss der gute Cowboy am Ende die von ihm gerettete Gemein­schaft verlassen: Das Töten – selbst das gerecht­fer­tigte – verändert einen, erklärt er. Man trägt es für immer in sich wie einen Virus. Es macht einen untaug­lich für die rechts­staat­liche Zivi­li­sa­tion in Frie­dens­zeiten.
Auch der Titelheld von Logan kann das Töten nicht loswerden. Aber es verseucht nicht nur ihn, sondern alles um ihn. Die USA und ihre gesamte Gesell­schaft sind nicht zu retten vor dem ewigen, unka­putt­baren Zyklus der Gewalt. Der Kampf gegen vermeint­liche Bedro­hungen von außen ist in Wahrheit ein Kampf gegen das eigene Spie­gel­bild.
Das einst gelobte Land muss endlich sterben dürfen. Hier gibt es keinen Zufluchtsort. Die Hoffnung liegt in einem Neustart jenseits der Grenze. Durch eine neue, bunte Gene­ra­tion – der freilich der Fluch der verrot­tenden Welt einge­pflanzt ist. Und deren Selbst­er­halt hängt an der Mission: »Don’t become what they made you.«

3. »Ain’t Nobody« in From the Balcony (Fra Balkongen)

Alltäg­li­cher häuslich kann eine Szene kaum anfangen: Ole Giæver hängt daheim die Wäsche auf. Er trägt Kopfhörer, es läuft der Song »Ain’t Nobody« von Chaka Khan. Giæver beginnt zu tanzen.
Plötzlich wird Giæver essay­is­ti­sche Doku über sein Leben eine Sequenz lang quasi zum Musical: Wir sehen andere Menschen in vermeint­li­chen Alltags­si­tua­tionen – an der Halte­stelle, im Wasch­salon... – die auch beginnen, sich von dem Lied mitreißen zu lassen. Erst als offen­sicht­liche Profis in einem Tanz­studio auftau­chen, wird klar, wie choreo­gra­phiert die gesamte Montage ist.
Aber so sehr das Phantasie, Insze­nie­rung ist, sind es eben doch Momente realen Tanzes: Die Musik verankert, synchro­ni­siert die Körper in einem konkreten Augen­blick.
Einen Platz fürs eigene Leben in der Uner­mess­lich­keit von Raum und Zeit zu finden, das ist das grund­le­gende Thema von Giævers Film. Über ein Jahr hinweg hat er sich und seine Familie immer wieder von einer Kamera begleiten lassen; dazu schneidet er Anima­tionen, alte Heim­vi­deos, histo­ri­sches Material, Google-Earth-Suchen... Aber anders als die idea­li­sierten, gefil­terten Selbst­in­sze­nie­rungen des Privat­le­bens, die auf sozialen Netz­werken allge­gen­wärtig sind, geht es ihm eher um Selbst­ent­blößung. Und immer wieder um die Frage: In welchem Verhältnis steht das Selbst zur Welt?
Einer seiner bevor­zugten Orte ist – der Filmtitel verrät’s – sein Balkon: Halb Teil der Privat­sphäre, halb in (aber dennoch über) der Welt. Ein Ort zum Beob­achten und Reflek­tieren, eine vorsich­tige Annähe­rung ans Welt­ge­schehen. Eine Position, nicht unver­wandt jener der Zuschauer im Kino­sessel.

4. Der Synthie-Sound­track zu My Entire High School Sinking Into The Sea

Die Chiptune-Anklänge der Filmmusik von My Entire High School Sinking Into The Sea sind mehr als nur Heischen eines hippen Retro-Gefühls. Die Archi­tektur des Films gleicht der eines Video­spiels: Jedes Stockwerk der surrealen, im Meer trei­benden High School in Dash Shaws Anima­ti­ons­film reprä­sen­tiert eine neue Jahr­gangs­stufe, eine neue Entwick­lungs­stufe, ein neues Level. Und um am Leben zu bleiben, müssen sich die Film­fi­guren Level um Level nach oben kämpfen.
Aber anders als die Charak­tere in Video­spielen, die Fähigkeit um Fähigkeit in ihrer Macht wachsen, muss der Prot­ago­nist Dash eigent­lich nur eine tief­sit­zende Gewohn­heit aufgeben, um zwar nicht zum Helden, aber zum umgäng­li­chen Menschen zu werden: Er muss aufhören, alle Menschen um ihn als bloße dienliche NPCs im Spiel seines Lebens zu betrachten; sie danach zu beur­teilen, ob sie brav seinen Vorstel­lungen gehorchen. Er muss seinem besten Freund mehr als die Rolle eines Sidekicks, muss ihm ein (Liebes-)Leben außerhalb der Freund­schaft zuge­stehen. Muss seine Eifer­sucht gegenüber dessen neuge­won­nener Freundin hint­an­stellen. Muss erkennen, dass wahre Super­helden wie Lunchlady Lorraine sich auch in sozial tiefer­ge­stellten Posi­tionen finden.

My Entire High School Sinking Into The Sea ist wild, expe­ri­men­tier- und spiel­freudig, bewusst krude gezeichnet, voller Glitches und drogen­tri­p­ar­tiger Back­grounds, springend zwischen absurden Gags und echtem Pathos – so über­le­bens­groß wie die Gefühle in der Teen­ager­zeit.
Es ist bezeich­nend, dass einer der mit Abstand leben­digsten, eigensten, unver­wech­sel­barsten, blei­bendsten Filme der dies­jäh­rigen Berlinale weit­ge­hend am Film­be­trieb vorbei entstanden ist. Dash Shaw hat ihn fast im Allein­gang, mit nur ein paar Mitstrei­tern, über rund sechs Jahre hinweg ausge­dacht, geschrieben, gezeichnet und animiert. Im Film heißt es einmal, das Höchste, was man sich wünschen könne, wäre es, den eigenen Tod zu wählen. My Entire High School Sinking Into The Sea selbst ist aber ein ziemlich gutes Argument dafür, sich erstmal sein eigenes Leben zu wählen.