67. Berlinale 2017
Spiel mir das Lied vom Leben – Eine Playlist der 67. Berlinale 2017 |
||
My Entire High School Sinking Into The Sea | ||
(Grafik: Cinetic Media) |
Von Thomas Willmann
Von Thomas Willmann und Anna Edelmann
1. Arabisches Lautensolo in Toivon tuolla puolen (Die andere Seite der Hoffnung)
Musik ist in Aki Kaurismäkis ein Einfallstor fürs Leben. Wie seit eh und je sorgt sie auch in seinem neuen Film für jene Momente, wo die Emotionalität, die hinter Maulfaulheit und stoischen Mienen verborgen bleibt, unmittelbar hörbar wird. Wie seit eh und je ertönen Schlager aus der Jukebox, spielen alte Finnen in aus der Zeit gefallenen Cafés Tango und Rock'n'Roll.
Dieses Mal jedoch mischen sich gleichberechtigt leise, unvertraute Laute hinzu: Kaurismäki nimmt sich genauso
Zeit, den syrischen Flüchtling Khaled (Sherwan Haji) ein ganzes Lied zur orientalischen Laute singen zu lassen.
Dies ist eine so lakonische wie schöne Art, den vermeintlich Fremden zu einem der einsamen Einheimischen in Kaurismäkis Welt zu erklären.
Freilich: Ganz integriert ist er erst, wenn er selbst so unentschlossen zwischen Leben und Tod hängt, wie das melancholisch-nostalgische, solidarische Finnland der Außenseiter Kaurismäkis.
2. Der Soundtrack zu Shane in Logan
Fast 100 Jahre alt sei der Film, den sie im Fernsehen anschauen, sagt Professor Xavier (Patrick Stewart) mit nostalgischer Liebe. Genau genommen sind es 76, zum Zeitpunk der Handlung in Logan, im Jahr 2029. Jedenfalls: Andere Zeiten.
Dass James Mangolds Film so prominent und ausführlich Shane zitiert, liegt nicht allein daran, dass Logan selbst mehr Western ist als Superheldenfilm. Vielmehr handeln beide vom selben Thema: Der Rolle des Helden und seiner Gewaltausübung in den Gründungs-Mythen der US-Kultur.
In Shane muss der gute Cowboy am Ende die von ihm gerettete Gemeinschaft verlassen: Das Töten – selbst das gerechtfertigte – verändert einen, erklärt er. Man trägt es für immer in sich wie
einen Virus. Es macht einen untauglich für die rechtsstaatliche Zivilisation in Friedenszeiten.
Auch der Titelheld von Logan kann das Töten nicht loswerden. Aber es verseucht nicht nur ihn, sondern alles um ihn. Die USA und ihre gesamte Gesellschaft sind nicht zu retten vor dem ewigen, unkaputtbaren Zyklus der Gewalt. Der Kampf gegen vermeintliche Bedrohungen von außen ist in Wahrheit
ein Kampf gegen das eigene Spiegelbild.
Das einst gelobte Land muss endlich sterben dürfen. Hier gibt es keinen Zufluchtsort. Die Hoffnung liegt in einem Neustart jenseits der Grenze. Durch eine neue, bunte Generation – der freilich der Fluch der verrottenden Welt eingepflanzt ist. Und deren Selbsterhalt hängt an der Mission: »Don’t become what they made you.«
3. »Ain’t Nobody« in From the Balcony (Fra Balkongen)
Alltäglicher häuslich kann eine Szene kaum anfangen: Ole Giæver hängt daheim die Wäsche auf. Er trägt Kopfhörer, es läuft der Song »Ain’t Nobody« von Chaka Khan. Giæver beginnt zu tanzen.
Plötzlich wird Giæver essayistische Doku über sein Leben eine Sequenz lang quasi zum Musical: Wir sehen andere Menschen in vermeintlichen Alltagssituationen – an der Haltestelle, im Waschsalon... – die auch beginnen, sich von dem Lied mitreißen zu lassen. Erst als
offensichtliche Profis in einem Tanzstudio auftauchen, wird klar, wie choreographiert die gesamte Montage ist.
Aber so sehr das Phantasie, Inszenierung ist, sind es eben doch Momente realen Tanzes: Die Musik verankert, synchronisiert die Körper in einem konkreten Augenblick.
Einen Platz fürs eigene Leben in der Unermesslichkeit von Raum und Zeit zu finden, das ist das grundlegende Thema von Giævers Film. Über ein Jahr hinweg hat er sich und seine Familie immer wieder von
einer Kamera begleiten lassen; dazu schneidet er Animationen, alte Heimvideos, historisches Material, Google-Earth-Suchen... Aber anders als die idealisierten, gefilterten Selbstinszenierungen des Privatlebens, die auf sozialen Netzwerken allgegenwärtig sind, geht es ihm eher um Selbstentblößung. Und immer wieder um die Frage: In welchem Verhältnis steht das Selbst zur Welt?
Einer seiner bevorzugten Orte ist – der Filmtitel verrät’s – sein Balkon: Halb
Teil der Privatsphäre, halb in (aber dennoch über) der Welt. Ein Ort zum Beobachten und Reflektieren, eine vorsichtige Annäherung ans Weltgeschehen. Eine Position, nicht unverwandt jener der Zuschauer im Kinosessel.
4. Der Synthie-Soundtrack zu My Entire High School Sinking Into The Sea
Die Chiptune-Anklänge der Filmmusik von My Entire High School Sinking Into The Sea sind mehr als nur Heischen eines hippen Retro-Gefühls. Die Architektur des Films gleicht der eines Videospiels: Jedes Stockwerk der surrealen, im Meer treibenden High School in Dash Shaws Animationsfilm repräsentiert eine neue Jahrgangsstufe, eine neue Entwicklungsstufe, ein neues Level. Und um am Leben zu bleiben, müssen sich die Filmfiguren Level um Level nach oben
kämpfen.
Aber anders als die Charaktere in Videospielen, die Fähigkeit um Fähigkeit in ihrer Macht wachsen, muss der Protagonist Dash eigentlich nur eine tiefsitzende Gewohnheit aufgeben, um zwar nicht zum Helden, aber zum umgänglichen Menschen zu werden: Er muss aufhören, alle Menschen um ihn als bloße dienliche NPCs im Spiel seines Lebens zu betrachten; sie danach zu beurteilen, ob sie brav seinen Vorstellungen gehorchen. Er muss seinem besten Freund mehr als die Rolle eines
Sidekicks, muss ihm ein (Liebes-)Leben außerhalb der Freundschaft zugestehen. Muss seine Eifersucht gegenüber dessen neugewonnener Freundin hintanstellen. Muss erkennen, dass wahre Superhelden wie Lunchlady Lorraine sich auch in sozial tiefergestellten Positionen finden.
My Entire High School Sinking Into The Sea ist wild, experimentier- und spielfreudig, bewusst krude gezeichnet, voller Glitches und drogentripartiger Backgrounds, springend zwischen absurden Gags und echtem Pathos – so überlebensgroß wie die Gefühle in der Teenagerzeit.
Es ist bezeichnend, dass einer der mit Abstand lebendigsten, eigensten, unverwechselbarsten, bleibendsten Filme der diesjährigen Berlinale weitgehend am Filmbetrieb
vorbei entstanden ist. Dash Shaw hat ihn fast im Alleingang, mit nur ein paar Mitstreitern, über rund sechs Jahre hinweg ausgedacht, geschrieben, gezeichnet und animiert. Im Film heißt es einmal, das Höchste, was man sich wünschen könne, wäre es, den eigenen Tod zu wählen. My Entire High School Sinking Into The Sea selbst ist aber ein ziemlich gutes Argument dafür, sich erstmal sein eigenes Leben zu wählen.