70. Filmfestspiele Cannes 2017
Portrait eines lächerlichen Mannes |
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Ruben Östlunds The Square | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
»What is the point?« – »There is no point.«
Aus: »The Square« von Ruben Östlund
Am Freitag ist mir etwas passiert, was mir noch nie passierte in all den Jahren, die ich nun auch schon nach Cannes komme: Kurz nach acht Uhr morgens wollte ich mich gerade vor dem Palais in meine Journalisten-Schlange einreihen, da merkte ich, dass ich mein Badge im Zimmer vergessen hatte. Von wegen gemütlicher Start und noch ein bisschen Lesen vor dem Kino, ich musste noch einmal ganz schnell zurück auf das Zimmer und dann wieder hierher. Glück, dass das Zimmer, das ich nun schon im fünften Jahr miete, nur etwa zehn Minuten Fußweg entfernt liegt, bergauf. Bergab, also zurück zum Festival-Palais kann man es sogar in fünf Minuten schaffen – und tatsächlich war ich so gerade noch rechtzeitig wieder da und im Kino. Es war dann die Okja-Vorstellung, die ich um ein Haar verpasst hätte.
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Am gleichen Abend habe ich dann den bisher besten Film im Wettbewerb gesehen: Es ist tatsächlich der, auf den ich auch am Anfang gewettet hatte, The Square von dem Schweden Ruben Östlund. Östlund, dessen Filme von dem unter anderem in Berlin ansässigen französischen Produzenten Philippe Bober (Coproduction Office) produziert werden, ist ein alter Cannes-Bekannter. Aber im Wettbewerb war er noch nie: Involuntary lief 2008 in Un Certain Regard, Play gewann 2011 in der Quinzaine einen Preis. Und bereits der ganz großartige Höhere Gewalt, der 2014 wieder in »Un Certain Regard« lief, und dort einen der Preise gewann, hätte eigentlich in den Wettbewerb gehört.
Östlunds in der schönen Regelmäßigkeit von drei Jahren entstehende Filme sind auch sonst sehr kontrolliert, und atmen durchaus jene Autorenfilmästhetik der cleanen, leicht etwas zu kühlen Bilder, und der langen Einstellungen, und sehr langen Szenen, die leicht zur Masche geraten kann.
Was dafür sorgt, dass sie es nicht tut, ist der Humor des Regisseurs. Diesen Humor, der kritisch ist, aber nie herzlos, der von Ironie geprägt ist, verbindet Östlund mit einer moralischen... mehr Infragestellung als Kritik seiner Figuren. Diese stammen aus dem Mittelstand, dem gebildeten, wohlhabenden Bürgertum, und vielleicht es das, was den Schweden so viel sympathischer macht, als etwa den im letzten Text erwähnten Russen Andreij Zvyagintsev: Seine Filme handeln immer von ihm selber, er blickt nie von oben auf die kleinen dummen Ameisen da unten herab.
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The Square handelt von Männlichkeit, von Moral und moralischer Verantwortung, und von Vertrauen. Das »typisch Schwedische« hieran ist, wenn man so will, dass er der Entfaltung moralischer Konflikte viel Raum einräumt, und dass seine Figuren tatsächlich moralisch sind, moralisch handeln wollen, und darum immer mit sich selbst hadern.
Der Film arbeitet mit bestimmten lange ausgespielten Szenen, die sich dann zu einem Portrait fügen. Dem Portrait eines lächerlichen Mannes. Die Hauptfigur ist ein Kunstkurator. Er heißt Christian. Von Anfang an, und gerade in der ersten Hälfte des Films wird er, so scheint mir, der Lächerlichkeit preisgegeben. Wir sollen ihn, zumindest am Anfang nicht mögen. Er ist ein Hochstapler, ein absolut nicht-authentischer Mensch, der selbst Spontanität inszeniert. Erst mit der Zeit kommt er uns näher, schon weil wir vielleicht doch in Christian uns selbst erkennen.
Wir begleiten ihn durch ein paar Arbeitstage. In präzisen, sprechenden Momenten und Erlebnissen folgen wir ihm, erkennen wir seine Doppelmoral und bemerken zugleich wie diese erschüttert wird. The Square ist auch eine Komödie der modernen Gesellschaft, insbesondere der schwedischen, mit ihren Illusionen von Demokratie, von Gerechtigkeit, mit ihrem schlechten Gewissen.
Es ist
eine Komödie der politischen Correctness.
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Eine Diskussion Christians in einem anderen Museum wird aus dem Publikum immer wieder gestört: »Shit!« »Cunt!!« »Garbadge!!!« »Show your boobs!« Dann meldet sich eine Dame: »Sorry! My husband has Tourette«. Es geht so weiter. Die Frage, warum man den Mann nicht einfach rausschmeißt, steht im Raum, aber sie wird nie gestellt. Stattdessen peinliches Schweigen. Alle sind gestört, aber blicken nur betreten zu Boden, lachen. Die Frau: »The atmosphere is stressing him out.« Dann steht einer
auf: »Please be tolerant. Show more tolerance.«
Östlund ironisiert hier eine vollkommen übertriebene Toleranz, den sozialen Selbstmord aus Toleranz, aus Angst vor dem Tode.
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Der Film heißt so, weil Christian gerade eine neue Ausstellung eröffnet, die The Square heißt. Darin geht es um einen freien Raum, in dem alles möglich und nichts gewiss ist – ein Sinnbild auch für die Sinnleere moderner Kunst. Ein weiterer Erzählfaden ist also der der Kunst überhaupt und der der modernen Kunst. Was ist Kunst? Was heißt moderne Kunst?
Ist etwas dadurch, dass es im Museum steht, Kunst?
Eine alte klassische Frage. Die aber dadurch aktualisiert wird, dass wir hier immer wieder, wie als running gag, Publikum im Wahrnehmen von Kunstwerken erleben, dass wir sehen, dass moderne Kunst nicht zum Betrachter spricht, uns dass wir vom Film nahegelegt bekommen über solche Beobachtungen zu lachen.
Ein zweiter Running Gag: Das regelmäßige Auftauchen von Obdachlosen. Dazu läuft melancholische Streichermusik.
Christian gibt Obdachlosen kein Geld. Als er einmal einer Bettlerin anbietet »Aber ich kann ihnen was zu essen kaufen.«, sagt die zurück: – »Ok, Chicken Chiabatta!« – »Chicken Chiabatta?« – »Chicken Chiabatta. Ohne Zwiebeln.«
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Manches ist etwas billig: Wenn der Koch über sein Buffet redet, wie ein Künstler und ihm keiner zuhört. Oder wenn ein Reinigungswagen, die zum Kunstwerk aufgehäuften Kieselsteine nachts weg saugt, und das zum Versicherungsfall wird.
Tiefsinniger aber ist die Geschichte eines provokativen Clips für die sozialen Netzwerke, der zuerst das Ziel hatte, durch Provokation Aufmerksamkeit zu generieren – »at least we got people talking« – dann aber zum Opfer eines
Kunst-Betriebs wird, der sich längst an die Macht des Geldes verkauft hat: »Do you think they will give money to all this?«
Was wir gerade tatsächlich erleben, ist in den Museen und Galerien (vielleicht auch den Filmfestivals, vgl. die Netflix-Debatten), das Ende der Kunst im Kapitalismus. Gesellschaftlich erleben wir, auch das spricht Östlund im Schicksal seines Kurators an, das Ende der Meinungsfreiheit.
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Bei einem Abendessen unter dem Motto »Welcome to the jungle.« tritt ein Performance-Künstler als Affe auf und wird den reichen Gästen gegenüber gewalttätig. Östlund zeigt hier noch einmal weit übertriebene Toleranz für »das Andere«, eine Toleranz, die in die Selbstdemütigung einer Gesellschaft mündet, die direkt der Gleichgültigkeit und Nivellierung aller Geltungs- und Vernunftansprüche folgt.
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»Do you trust other people?« heißt ein Kunstwerk, und Christian erklärt seinen Töchtern: »Früher hat man fremden Leuten noch vertraut. Heute hält man Erwachsene erstmal für eine potentielle Bedrohung.« Unsere Gesellschaft behauptet und praktiziert: Man soll anderen vertrauen. Aber sie weiß auch: Man kann anderen nicht vertrauen. Es tut auch keiner.
Es geht um Verantwortung, aber es geht auch um das Scheitern der toleranten Gesellschaft, der überverantwortungsvollen
Gesellschaft
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The Square ist ein unglaublich reichhaltiger Film, der in so einer Rezension nicht beschrieben und schon gar nicht ausgeschöpft werden kann. Ein Film, an dem wenig fehlt, und den ich gern noch mehr als einmal sehen werde. Allerdings auch ein Film, der weniger »große Kinomomente« hat, weniger »filmisch« ist, als er sein müsste, als Östlunds letzter Film Höhere Gewalt. Aber das ist ja gerade der Punkt sagt mir daraufhin Ronald vom »Filmkrant«, »dieser Film ist offener, weniger kontrolliert, viel freier, darum ist er noch besser!« Vielleicht...
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Die Badges (Akkreditierungsausweise) sind in Cannes mehr ein Thema als anderenorts. Der Grund ist einfach: Es gibt bei den Akkreditierungen ein Klassensystem. Bei den Marktakkreditierungen der Industrie (die aber nur in bestimmte Pressevorführungen gehen können, in andere gar nicht, und die sich für die großen Premieren frühzeitig Karten holen müssen, genau wie wir) stört das keinen, obwohl es moralisch betrachtet weitaus fragwürdiger ist. Denn hier entscheidet über den Status vor allem, wie viel Geld einer zu bezahlen bereit und in der Lage ist. Große Firmen haben viele gute, kleine und arme Firmen wenig Akkreditierungen.
Die meisten Journalisten haben gelbe, blaue und rosafarbene. Die sind für tagesaktuelle Berichterstatter, die blauen für Wochen-, Monats- und Filmzeitmagazine, die gelben für alle anderen, orangene für die Photographen. Im Prinzip. Ganz so stimmt es aber nicht, weil zum Beispiel Zeit und Spiegel als Tagespresse behandelt werden.
Dieser Akkreditierungstatus entscheidet darüber, wer zuerst reingelassen wird, wie schnell einer also im Kino ist. Je schneller, desto besser der Sitzplatz. Bei der ersten Vorstellung eines Films kommen viele gelbe nicht mehr rein. Ist die Vorstellung besonders begehrt, haben auch »Blaue« Probleme.
Je schlechter die Akkreditierungsfarbe, umso früher muss man sich anstellen. Man verliert also Zeit mit Warten, muss morgens früher aufstehen. Zusätzlich verkompliziert wird alles dadurch, dass es nicht etwa nur drei Klassen gibt, sondern genau genommen fünf. Einige sehr wenige Journalisten haben nämlich weiße Ausweise. Das sind fast immer ältere, bekannte Kollegen, und aus jedem Land nur sehr wenig. Aus Deutschland hat es meines Wissens nur Verena Lueken von der FAZ. »Weiß« ist so etwas wie die Creme de la Creme der Cannes Akkreditierungen. Und dann gibt es da den Gelben Punkt. »Pastille« genannt, befindet er sich auf einem kleinen Teil, gefühlt etwa zehn Prozent der rosafarbenen Akkreditierungen. Die Kollegen mit »rose pastille« stehen zusammen mit den Weißen in der Schlange, die als erstes in den Festivalsaal eingelassen wird. Wer warum und weshalb »rose pastille«-Status bekommt, ist für mich auch im fünfzehnten Cannes-Jahr vollkommen undurchschaubar geblieben. Es hat etwas mit der Zahl der Cannes-Jahre zu tun, mit der Menge der Texte, die man über das Festival schreibt, und mit der Bedeutung des Mediums. Die Berichterstatterin der »Zeit« hat zum Beispiel den Gelben Punkt, obwohl sie ja – von Nebentätigkeiten mal abgesehen – nur zwei oder drei Beiträge schreibt.
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Ich habe zwar immer eine »Rosa«-Akkreditierung, aber noch nie einen gelben Punkt gehabt. Dabei glaube ich, hätte ich ihn in den letzten Jahren verdient. Auch diesmal wieder, war kein Punkt auf dem Badge, als ich ihn Dienstag abholte. Warum nur? Ich kenne viele Kollegen, bei denen es objektiv nicht einsichtig ist, dass sie bevorzugt werden – aber mit Objektivität hat es ja nichts zu tun. In diesem Jahr hat sich Freundlichkeit oder Stetigkeit aber dann doch ausgezahlt: Denn am Samstag bekam ich unverhofft die Info vom Festivalbüro: »We have upgraded your accreditation. You can receive your new badge any time in the festivaloffice.« Da schau her!
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Upgrade allerorten: Katja Nicodemus von der »Zeit« hat jetzt im »Daily« des Screen-Magazine den Part der deutschen Punktevergabe übernommen und damit Jan Schulz-Ojala abgelöst, über dessen Verrentung niemand traurig ist. Eigentlich ist sie noch ein bisschen zu jung für diesen Altherrenclub, der in den letzten 20 Jahren nur einmal die Goldene Palme richtig prognostiziert hat und auch den Geschmack der meisten übrigen ernsthaft arbeitenden Kollegen nicht repräsentiert. Kann ja jeder selbst vergleichen.
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Es ist ein komisches Gefühl zum ersten Mal mit »Rose Pastille« in den Salle Debussy zu laufen, zuvor in der anderen Schlange anzustehen, unter anderen Kollegen. Die meisten kenne ich nicht oder nicht so gut, und ich fühle mich ihnen jedenfalls auch nicht richtig verbunden. Zum ersten Mal wird mir klar, dass man, wenn man unter den ersten ist, hier plötzlich wie auf einer Bühne nach oben geht. Eine Art Roter Teppich der Kritiker.
Der großgewachsene Mann, der direkt vor mir sein Badge
vorzeigt, wird dann aufgehalten. Zweimal blickt der Kontrolleur auf das Bild, dann noch ein drittes Mal: »This is not you« sagt er, zieht den Mann zur Seite und nimmt ihm den Badge ab.
(to be continued)