70. Filmfestspiele Cannes 2017
Wer quält nicht gerne unter Palmen? |
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The Killing of a Sacred Deer: großartiger Arthouse-Horror | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
»In der Tat ging mir bereits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach: ihm widmete ich, in einem Alter, wo man 'halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen' hat, mein erstes literarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung...«
Friedrich Nietzsche: »Zur Genealogie der Moral«»The Operation was a success, but unfortunately the doctor didn’t make it.«
Aus: The Killing of a Sacred Deer
Auch bei Michael Haneke gilt das Prinzip: Man weiß, was man sieht. Man sieht den Film, weil er von Haneke ist, daher anders. Man kennt sein Werk, geht mit bestimmten Erwartungen in den Film. Zu diesen Erwartungen gehört bei Haneke Gewalt.
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Ist dies nun eine Komödie? Michael Haneke wirkt zwar auf viele wie ein No Nonsense-Regisseur. Tatsächlich aber könnte es sich bei all seinen Filmen um bittere Humoresken handeln, um schwarzen Humor,
Happy End ist der am wenigsten plotgetriebene Film, den ich von Haneke kenne. Es ist auch der am wenigsten gewalttätige Film vom ihm seit langer Zeit. Natürlich gibt es eine Handlung,
auch eine Geschichte, aber sie ist nicht so eindeutig, weniger linear, als in früheren Filmen. Die Zwei-Sätze-Synopsis des Pressehefts trifft es ganz gut: »'Rundherum die Welt, und wir mittendrin, blind.' Die Momentaufnahme einer bürgerlichen europäischen Familie«
Ich hätte es nicht besser sagen können. Ich hätte allerdings den ersten Satz weggelassen.
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Happy End ist überdies ein Film, in dem Haneke viele seiner früheren Werke sehr offen, zum Teil sogar in Einstellungen und Dialogen, zitiert. Für jeden erkennbar sind Amour, Caché, Benny’s Video. Etwas versteckter, aber doch aufspürbar waren im Gespräch unter Kollegen nach dem Film: Der Siebente Kontinent, Code inconnu, Das weiße Band.
Ansonsten stellt er uns eine Familie vor, für die der Ausdruck »bürgerlich« eher wie Untertreibung klingt. Wenn man wie ich mit dem Terminus »Bürgerlichkeit« vor allem Bildung und Stil, eine über Generationen gewachsene Kultur und Haltung verbindet, kann man hier sowieso seine Zweifel haben. Haltung fehlt, der Stil beschränkt sich auf das sehr strenge gemeinsame Frühstück, und aufs Silberbesteck. Sie sind
stinkreich. Sie haben in Calais ein großes Bauunternehmen und finanzielle Probleme, sie wohnen in einer Stadtvilla aus dem 19. Jahrhundert mit zwei Flügeln, repräsentativem Treppenhaus, kiesumsäumtem Garten im Innenhof und einem aggressiven Schäferhund, der vielleicht »Blondie« heißt. Das Haus lernen wir nie komplett kennen, es gibt weniger Übersichtlichkeit, als oft in den Räumen von Hanekes Filmen. Das mag aber auch an der schieren Größe dieses Gebäudes liegen. Im einen
Flügel wohnt der von Jean Louis Trintignant gespielte über 80-jährige Vater, im zweiten seine Tochter Anne (Isabelle Huppert), die das Unternehmen leitet und ihr Bruder Thomas (Mathieu Kassowitz), ein Karrierearzt in der städtischen Klinik, der in zweiter Ehe verheiratet und Vater eines Kleinkinds ist. Jetzt zieht auch noch Eve mit ein, die Tochter aus Thomas' erster Ehe, deren Mutter im Krankenhaus liegt.
Bürgerlich ist eher Haneke selbst. Mit viel Understatement mischt er die
Themen »Flüchtlinge« und »Migration« ähnlich wie in Caché und Code: unbekannt unter seinen Filmteig. Der Ort Calais ist in diesem Zusammenhang natürlich auch nicht zufällig gewählt. Rachid und Dschamila, zwei Diener marokkanischer Herkunft rufen Erinnerungen an Caché wach. Ihre Blicke auf ihre weißen reichen Herren sind zwar devot, scheinen aber doch immer einen sehr grundsätzlichen Vorwurf auszudrücken. Und in zwei sehr prägnanten Szenen sieht man jeweils eine Handvoll Schwarzafrikaner am Rande dieser bürgerlichen Kulissen.
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Was ist schon zufällig bei Haneke? Im Zweifelsfall auch nicht die Tatsache, dass die antimoderne Revolte der weißen Unterschichten der Demokratien hier ausgespart bleibt. Le Pen-Anhänger sind in Hanekes Calais noch nicht einmal zu ahnen.
Dafür hören war zweimal Juristen beim lauten Verlesen von Verträgen. Die Legitimation durch Verfahren funktioniert in diesen Kreisen noch. In der Gesellschaft vertraut man ihr zusehends nicht mehr.
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Was wird erzählt? Das genau ist lange Zeit die Frage. Es geht eher um das Tableau der Figuren, die in ihrer jeweiligen persönlichen Situation sehr genau vorgestellt werden. Der alte Vater will sterben, die Tochter die Macht im Familienunternehmen für sich und ihren Sohn sichern, der Sohn fremdgehen, der Sohn der Tochter badet in Selbstmitleid, die Tochter des Sohnes fühlt sich verloren und unheimisch – alle sind gewissermaßen ganz normal gestört.
Zugleich kann man
sich aus ein paar, Haneke-üblich vagen und permanentes, sehr genaues Hingucken verlangenden Andeutungen eine sehr klare Geschichte zusammensetzen, die möglicherweise sogar auf eine Thriller-Handlung hinausläuft. Man versteht viele der Beobachtungen zuerst nicht, zugleich zeigt jede Szene sehr viel über die Beziehungen dieser Menschen zueinander.
Aber sicher ist hier eben nichts, und je nachdem, was man von diesem Regisseur hält, wird man Haneke wahlweise vorhalten, dass er sich
nicht festlege, entscheide, unnötig vage und pseudobedeutsam sei, oder eben an ihm preisen, dass hier mal einer endlich offene Filme mache, wohltuend vielschichtiges Kino, vieldeutig auslegbare Geschichten erzähle, die der Komplexität unserer Gegenwart gerecht werden, und den Betrachter nicht bevormunden. Ich neige zu dieser zweiten Auslegung. Man wirft Haneke ja gern vor, didaktisches Lehrerkino zu machen – das finde ich ganz und gar nicht. Er nimmt niemanden an die Hand, hat
keinen Zeigestock, sehr wohl aber vermittelt er seinen Zuschauern Erfahrungen. Diese öffnen und erschließen die Welt, sie verengen sie nicht.
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Insofern ist die 13-jährige Eve auch die rätselhafteste und aller Wahrscheinlichkeit zentrale Figur des Films. Inszeniert ist sie so, dass wir mit ihr Mitleid empfinden, empathisch reagieren: Ein armes Kind mit engelsgleichem immer irgendwie traurigem Gesicht, das erst Scheidungsopfer wurde, und jetzt bringt sich die Mutter um, und sie muss in einer völlig unbekannten Umgebung, bei fremden und kalten Verwandten, neu anfangen. Tatsächlich aber verstehen wir im Laufe des Films,
dass Eve womöglich eine moderne Schwester der bösen Kinder aus »Das Weiße Band« ist: Sie lügt, ist verschlagen, spielt die Erwachsenen gegeneinander aus, nachdem sie in deren Intimleben herumgeschnüffelt hat. Nach ihrem Selbstmordversuch besucht sie ihr Vater Thomas im Krankenhaus: »Ich liebe Dich sehr« – aber das Kind antwortet ihm: »Papa! Hör auf mit dem Scheiß-Gerede. Ich habe Deine Mails und Deine Chats gelesen. Du liebst niemanden, nicht Mama, nicht Deine Frau Anais,
nicht diese Claire, Deine Geliebte, und mich auch nicht. Ich will einfach nur wissen: Nimmst du mich mit, wenn Du dich von Anais trennst? Ich will nicht ins Heim.«
Und ganz am Ende erscheinen die Handyaufnahmen, mit denen der Film einsetzte, in neuem Licht. Betrachtet man den Film von seinem Ende her, legen sie nämlich nahe, dass Eve es war, die ihrer Mutter jenes Gift gegeben hat, das sie zuvor an Meerschweinchen ausprobierte.
Die Wahrheit liegt im Auge des Betrachters. Der Schmerz
auch. Und mehr denn je bei Haneke der ganze Film.
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In formaler Brillanz, mit ruhigen, spannungsvollen Tableaus und beherrscht von einem sarkastischen Unterton, in dem Haneke nach wie vor unübertroffen bleibt, erlebt man eine filmische Familienaufstellung, die auch die Aufstellung einer saturierten Gesellschaft ist. Es geht um soziale Dynamik in diesem harten, kühlen Film, den man zugleich als sarkastische Komödie begreifen kann.
Sein Thema aber ist ernst: Der Untergang des Westens durch die Frivolität der Reichen und die
Unfähigkeit, die eigenen Ideale zu leben, wie der, sich andere zu geben. Denn das Private ist auch bei Haneke immer politisch. Krise ohne Alternative, res publica amissa, Anomie.
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Im Presseraum komme ich mit Gorgius ins Gespräch, einem Kollegen aus Griechenland. Er fragt mich, wie ich dies und jenes fand, wir plaudern, und er sagt mir, dass er die meisten griechischen Filme blöd findet. Vor allem die, die versuchen Angelopolos nachzueifern. Darum sei die Neue Griechische Welle so wichtig für das Land. Gorgius liebte die Filme von Tsangari und von Lanthimos, dessen Film dann am Montagmorgen gezeigt wurde, gleich nach Haneke.
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Ganz im Ernst glaube ich eher nicht, dass Haneke ein Sadist ist. Ihm macht es bestimmt Spaß, seine Zuschauer ein bisschen zu quälen, ihre Nerven zu kitzeln, aber das ist es dann auch.
Bei Lanthimos bin ich mir nicht so sicher. In dessen Filmen geht es immer um zwei Dinge: Schmerz und Spiel. Schmerz heißt: Wie macht man es, dass der Zuschauer etwas wirklich spürt, selber körperlichen Schmerz empfindet, wie schafft man es, dass die vierte Wand durchbrochen wird. Wir wollen ja im Kino
sitzend gerade nicht, wie im Theater oder in einer Kunstperformance, unerwartet direkt miteinbezogen werden, mitspielen müssen. Wir wollen Voyeure bleiben. Die also die Distanz aufheben?
Bei Ruben Östlunds The Square hatte ich geschrieben: Es geht um Vertrauen. Nicht so bei Haneke und Lanthimos. Diese beiden Filme sind Misstrauensfilme.
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Mit Schuberts »Stabat Mater« setzt der Film ein, laut, heftig, erschütternd, »Jesus Christus!« Ein menschliches Herz schlägt schnell und verwundbar, Bilder einer Operation am offenen Herzen. »Jesus Christus!!«
Der Herzchirurg wird von Colin Farrell gespielt, mit großem Bart. Ein paar Minuten lang Leben in einem Arzthaushalt, Ehefrau, zwei Kinder. Der Chirurg lobt Andreas Gruentzig, und macht einen zynischen Witz: »The Operation was a success, but unfortunately the doctor didn’t make it.«
Lanthimos' Kamera ist immer in Bewegung, wenn auch langsam zoomt sie an die Figuren heran. Das Reden dieser Figuren ist immer etwas zu schnell, zugleich emotionslos, inhaltlich sind die Dialoge banal. Im Hintergrund atonale Musik. Ein grundsätzlicher Absurdismus steht im Raum, ebenso wie Depression. Verfremdungsmaßnahmen im Kampf gegen
den Naturalismus.
Es kommt Besuch von Martin, einem 16-jährigen, der in den letzten Wochen mit Steven, dem Chirurgen Kontakt aufgenommen hat. Steven war der Arzt von Martins Vater, der nach einer Operation starb. Am nächsten Tag besucht Steven den Jungen, dessen Mutter kocht, und dann erfolglos Annäherungsversuche macht.
Sanft geht dieses von Anfang an etwas seltsame Verhältnis in etwas anders über: Stalking. Doch da ist es schon zu spät, Stevens Tochter Kim trifft sich heimlich mit
Martin, und eines Morgens kann der 13-jährige Bob nicht mehr laufen.
In der Cafeteria eröffnet Martin Steven: »Yes it is exactely what you think: Du hast einen aus meiner Familie getötet, jetzt wird einer von Deiner Familie sterben. Du hast ein paar Tage Zeit, Dich zu entscheiden, wer. Tust Du es nicht, werden alle sterben.
Jetzt kennen wir die Spielregeln dieses Films. Es gibt Gewinner und Verlierer, das ist nicht zu ändern.«
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The Killing of a Sacred Deer ist großartiger Arthouse-Horror. Lanthimos entfaltet über die Versuche des Vaters, dem Schicksal auszuweichen und einen Ausweg zu finden, einen komplexen Diskurs über Spiel und Regeln, Psyche und Physis, Rationalität und Irrationalität. Sein Film ist ein großartiger Laborversuch, der zugleich einen Blick aufs Feld der griechischen Mythologie
eröffnet: Offenkundig ist der Mythos der Iphigenie. Der barsche Agamemnon musste für seine Schuld seine Tochter opfern. Der Filmtitel spielt darauf an, dass nach einer Legende das Mädchen in letzter Sekunde durch eine Hirschkuh ersetzt wurde. Auch hier bietet Tochter Kim an, zu sterben, und keineswegs zufälligerweise hat sie in einem Chor gesungen und in der Schule Iphigenie rezitiert.
Die Götter fordern auch hier ihr Opfer. Und eine barsch entschlossene Mutter sagt: »The most natural
thing is to kill a child.« Man könne ja ein Neues machen.
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Lanthimos ist (nach Östlund und Haneke) der dritte Regisseur, der die Abgründe der westlichen Mittelstandsgesellschaft ins Zentrum rückt. Echte Kritik an den Verhältnissen, eine Schärfe, mit der die latente Verachtung zur expliziten Verachtung wird, fehlt allen drei Filmen. Ebenso eine Utopie. Sie sind als selbst-kritische, aber nie selbst-überschreitende Filme komplett dem verhaftet, was sie kritisieren; sie sind zutiefst bourgois.
Im Unterschied zu den beiden anderen gibt
Lanthimos allerdings dem Zufall mehr Raum, und erlaubt er sich die Provokation durch Mythologie und Geheimnis. Es gibt viele offene Stellen hier, aber Lanthimos wirft keine Nebelkerzen. Er zeigt seine Wunde.
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Die Sicht auf die Erwachsenen-Welt mit Kinderaugen, das Opfer der Kinder für die Sünden der Erwachsenen – das verbindet mindestens vier Filme, auch Hanekes und Lanthimos'. Ebenso der Pessimismus vieler Filme, trotzdem es sich um Komödien handelt. Und das neue Interesse für Darwinismus – den Gehorsam gegenüber der Evolution und dem Recht des Stärkeren.
Die letzte Szene von Hanekes Film ist die großartigste, eine die die Sicht der Zuschauer auf vieles Vorhergehende
verändert: Zwei Partners in Crime, zugleich eine Szene voller sarkastischem schwarzen Humor.
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Nach der Vorstellung von Haneke saßen Nil aus der Türkei, Ronald aus Holland und ich erstmal beim Italiener hinter dem Palais, um uns bei Pizza und Salat von der Erfahrung zu erholen und zu überlegen, ob man »Happy End« auch als Komödie verstehen kann. Da geht Adèle Haenel die Straße entlang; ganz allein, und nicht aufgebrezelt mit den Outfits irgendwelcher Model-Label, sondern in weiten Arbeiterhosen und Lederstiefeln.
(to be continued)