70. Filmfestspiele Cannes 2017
Ruben erklärt die Welt |
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Furchterregend: Michel Hazanavicius' Le Redoutable ist der Versuch, sich des Filmmonuments Jean-Luc Godard zu bemächtigen | ||
(Foto: Praesens-Film (Schweiz)) |
Von Till Kadritzke
Denken wir Filme als irgendwie autonome Wesen, die etwas sehen, die dieses Etwas auf eine bestimmte Weise sehen, und die über dieses Etwas auf eine bestimmte Weise nachdenken, dann sind diese Wesen in der Regel ziemlich selbstbewusst, und manchmal sind sie auch ziemlich selbstsicher. Auf den ersten Blick mögen die beiden Begriffe synonym erscheinen, wenn wir sie allerdings wörtlich nehmen und auf das Kino beziehen, tun sich doch entscheidende Differenzen auf, mit denen ich mir vielleicht mein eigenes Unbehagen mit dem diesjährigen Cannes-Wettbewerb erklären kann.
Ein selbstbewusster Film wäre dann nicht nur einer, der etwas will, der konsequent ein Ziel verfolgt, sondern auch einer, der sich über sein eigenes Filmsein bewusst ist, der sich in diesem Wissen entschieden in die von ihm auserwählte Schlacht wirft, dabei aber genau weiß, dass er auf Widerstände treffen wird und verwundet werden kann. Ein selbstsicherer Film dagegen wäre ein Film, der sich nicht nur souverän und ohne mit der Wimper zu zucken aus dem gesamten Repertoire filmischer Methoden bedient, sondern auch einer, der sich seiner Sache sicher ist, der mit verschränkten Armen und aus großer Distanz selbst erdachte Schlachten analysiert und uns erklärt, was Phase ist.
So einer wäre dann der in der modernen Kunstwelt angesiedelte The Square von Ruben Östlund, der uns gleich in den ersten Sequenzen einiges erklären will: Wenn Geschäftsleute die Frage einer Flyer verteilenden Frau mit Dreadlocks »Do you want to save a human life?« auf ihrem Arbeitsweg ignorieren; wenn Museumskurator Christian in einem Interview mit einem eigenen verklausuliert-theoretischen Zitat über das Museale konfrontiert wird und nicht in der Lage ist, den dahinterstehenden Gedanken in einfachen Worten zu erklären; wenn eine Podiumsdiskussion mit einem Künstler ständig von einem am Tourette-Syndrom Leidenden gestört wird und man die Sache aus falscher Toleranz über sich ergehen lässt; wenn eine migrantische Obdachlose auf Christians Frage, ob sie statt Geld etwas zu essen wolle, wie aus der Pistole geschossen ein Chicken Ciabatta ohne Zwiebeln bestellt. Und so weiter, und so fort, mit derartigen Bissen ins liberale Gewissen im Sparwitzmodus geht es durch den Film, und man soll die Sache ruhig genießen dürfen, weil ja auch niemand ausgespart wird, weil uns ja nur der Spiegel vorgehalten wird, immer wieder begleitet von der Frage: »Was würdest du in dieser Situation tun?« Und der Antwort: »Ha! Siehste..«
Aber ein Rundumschlag kann eben nur alle treffen, wenn sich der Schlagende fortwährend im Kreis dreht und sich nicht selbst trifft. Natürlich ist Östlund schlau genug, seinen Kunstdiskurs so anzulegen, dass er das eigene Kunstwerk ohne Weiteres in die Zielgruppe seiner Satire integrieren und im Zweifelsfall auf die eigene Verstrickung in die ganze Chose verweisen kann. Die eigentliche Geste des Films ist aber gerade keine der bescheidenen Selbstbefragung, sondern des selbstsicheren Wissens um irgendwelche Dilemmata unserer Zeit, die mit Verantwortung, Gruppenzwang, dem menschlichen Wesen und den Codes des Zivilisierten zu tun haben, mit der Kluft zwischen bürgerlichen Idealen und egoistischem Handeln. Wenn uns aber ein Spiegel vorgehalten wird, der die Sache auf derlei altbackene Begriffe herunterbricht, dann erkennen wir uns in ihm natürlich nur als die Fratze, als die Östlund uns verstanden haben will. Und wenn das eitle Einreißen von (menschlichen? elitären? bürgerlichen? intellektuellen? zivilisatorischen? politisch-korrekten?) Fassaden dann noch auf derart beliebigen Versuchsanordnungen beruht und mit derart populistischen Affekten begleitet wird wie hier, dann droht der unsympathische Welterklärer zum gefährlichen Weltsimplifizierer zu werden.
Eine ganz ähnliche Selbstsicherheit im Aufzeigen gesellschaftlicher Missstände – weniger pseudo-analytisch, stärker chauvi-fatalistisch – legt Andrey Zvyagintsev an den Tag, wenn er das Verschwinden eines angehenden Scheidungskindes in seinem Wettbewerbsbeitrag Loveless dermaßen mit zeitdiagnostischem Ballast auflädt, dass man für die Geschichte, an der er seine Gesellschaftskritik durchführt, jedes Interesse verliert. Das Kind ist hier nicht Kind, sondern Moralkeule, mit der Zvyagintsev die Eltern verprügelt, die längst neue Beziehungen haben, in denen sie eifrig rumvögeln und ihre eigentliche Familie nur noch als Belastung erfahren.
Vor allem mit den Frauen geht Zvyagintsev hart ins Gericht, nicht nur weil der Russe die Mutterrolle als entscheidenden Ort ansieht, an dem Kinderschicksale zerstört oder gerettet werden (die Kälte der Mutter wird biografisch erklärt mit der Kälte der Mutter davor), sondern auch und gerade in seiner stetigen Verknüpfung des Weiblichen mit sozialen Medien und mobilen Endgeräten. Die interessieren den Film natürlich nicht etwa als kommunikative Kanäle, sondern als bloße Entfremdungsmarker. Selbst die Tochter des neuen Geliebten der Mutter muss für diese Verknüpfung herhalten, obwohl sie irgendwo am anderen Ende der Welt hockt. Als sie mit ihrem Vater skypt, äußert dieser den Wunsch, sie wieder einmal zu sehen. »Ich sehe dich wunderbar, Daddy«, antwortet sie und meint mal wieder nur den Bildschirm. Kein Wunder, dass in so einer Welt Kinder verschwinden, das wird Zvyagintsev ja wohl noch sagen dürfen!
Und dann wäre da noch Michel Hazanavicius und eine andere Spielart filmischer Selbstsicherheit. Der Franzose ist sich zwar mehr als bewusst darüber, dass er »nur« einen Film gemacht hat, aus jeder Szene spricht das Selbstbild als »spielerische Hommage« an Jean-Luc Godard, dem Hazanavicius hier seine Ehre erweist. Allerdings speist sich diese Bescheidenheit aus der Sicherheit, in diesem Spiel nur gewinnen zu können. Die Selbstsicherheit des Godard-Biopics Redoubtable ist dementsprechend eine, die weiß, dass sie keinen Einsatz leisten muss, dass sie sich je nach Bedarf und angesichts jeden möglichen Vorwurfs zurückziehen kann: Aber ich wollte doch gar nicht, aber ich hatte doch gar nicht vor… Einmal Godard spielen, das Ganze als Hommage verkaufen, sich in Ehrerbietung üben, damit bleibt Hazanavicius nicht nur seinem Gegenstand indifferent gegenüber, sondern eben auch seiner filmischen Form, die nicht scheitern kann, weil sie gar nichts formen will.
Man könnte noch weitermachen, darüber nörgeln, wie sich Yorgos Lanthimos in seinen »not so funny games« The Killing of a Sacred Deer gefällt (der neue Film von Michael Haneke, Happy End, kommt angesichts dieses Films übrigens geradezu zurückgenommen, vorsichtig, fragend daher), oder Naomi Kawase in ihrer Coelho-Holzhammerpoesie Radiance. Und freilich lassen mich all diese selbstsicheren Filme die neuen Werke von Hong Sang-soo (gleich mit zwei Filmen vertreten: The Day After und Claire’s Camera), Philippe Garrel (Lover for a Day) oder Valeska Grisebach (Western) nur umso stärker genießen – die, filmisch selbstbewusst, sich ihrer Sache eben niemals sicher sind. Und doch ist da dieses Jahr erstmal viel Enttäuschung darüber, dass sich die Türsteher in Cannes in diesem Jahr von den Oberschlauen haben blenden lassen und die Unsicheren abgewiesen haben.