24.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

The Virgin Murderers

Sofia Coppolas The Beguiled
Mit den Augen einer Frau? Sofia Coppolas The Beguiled
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH)

Versuche die Zeit aufzuhalten: Die neuen Filme von Sofia Coppola und Naomi Kawase im Wettbewerb – Cannes-Notizen, 9. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nothing is more beautiful, than what disap­pears before our eyes.«
aus: »Hikari ›von Naomi Kawase‹«

»Man kann durchaus bezwei­feln, dass die Filmkunst eine erzäh­le­ri­sche Kunst ist.«
Germaine Dulac, fran­zö­si­sche Regis­seurin, 1927 (»Die Zeit des Bildes ist ange­bro­chen!«)

Zwei Filme von Frauen, zwei Refle­xionen über Versuche, die Zeit aufzu­halten. Der Schau­platz ist wie eine Insel für sich, jenseits von Zeit und Geschichte, und so ist dieser Film eine Robin­so­nade. Gleich zu Beginn wird ein Song gesummt. Er erklingt später noch zweimal, dann versteht man auch den Text. Es ist ein Lied des Horrors und der Sehnsucht: Es ist da die Rede vom Winter der den Sommer ablöst, von den vielen Monaten, die der Krieg schon dauert, von verlo­renen Jahren, von der Erin­ne­rung, die alles übermannt. »The years creep slowly by Lorena. ›Das Lied gibt den Ton an in diesem Film.‹«

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The Beguiled – auf Deutsch etwa »Die Verführten ›– ist das Remake eines Films von 1971, der von einem richtigen Macho-Regisseur stammt, von Don Siegel, der immer noch besonders als Regisseur von Dirty Harry berühmt ist. Dessen Haupt­dar­steller Clint Eastwood spielte seiner­zeit auch die Haupt­rolle in Siegels Film.
Mit ihrer Neufas­sung hat Coppola ein Remake gemacht, das zwar ziemlich eins zu eins der Vorlage entspricht (die ihrer­seits eine ameri­ka­ni­sche Erzählung verfilmt), aber sie hat eben doch an einigen entschei­denden Punkten nicht nur Nuancen der Handlung, sondern die Perspek­tive verschoben: Weg von dem Mann, hin zu den Frauen.
Denn was wir hier erleben, ist eine Männer­phan­tasie, die zu einer Frau­en­phan­tasie wird: Ein Mann, Soldat der Nord­staaten im US-ameri­ka­ni­schen Bürger­krieg wird in Virginia (einem Teil der Sezession) im Wald schwer verwundet von einem jungen Mädchen aufge­funden. Sie lebt in einer nahe gelegenen kleinen Mädchen­schule, in der nun auch der verwun­dete Soldat gebracht wird und sich hier nach einer Notope­ra­tion zur Genesung aufhalten darf. Von Anfang an steht im Raum, ihn den konfö­de­rierten Truppen zu übergeben, immer wieder ist von fern Geschütz­donner zu hören, sind Rauch­schwaden zu sehen – der Krieg bleibt nahe und doch wirkt hier alles wie aus der Zeit und dem Krieg gefallen.‹«

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In dieser Schule gibt es eine Lehrerin (Kirsten Dunst), eine Hausdame, die von Nicole Kidman gespielt wird, und sieben junge Mädchen, zum Teil noch vor der Pubertät, zum Teil mitten drin, oder knapp dahinter – sie sind alle übrig­ge­blieben, und haben sich vor dem Krieg in ein kleines verwun­schenes Paradies zurück­ge­zogen, in dem die Zeit stehen­ge­blieben scheint: Eine schöne Villa, ein präch­tiger, etwas herun­ter­ge­kom­mener alter Garten mit Rosen und riesigen Bäumen.
Dieser Ort, die zur Schule umfunk­tio­nierte, für diese Handvoll Leute viel zu große Südstaa­ten­villa, ist einer dieser typischen Sofia-Coppola-Orte, sehr verwandt dem Hotel in Lost in Trans­la­tion, dem Wunder­kammer-Versailles mit seinen vielen Fluren in Marie Antoi­nette und dem leer­ste­henden Paris-Hilton-Haus in The Bling Ring mit seinen voll­ge­stopften, über­quel­lenden Zimmern.
Dominiert ist das alles aber dadurch, dass Sofia Coppola eine Filme­ma­cherin der Ästhetik ist. Man hört schöne Musik, Lieder aus dem Civil War, man sieht pastel­lene, wunder­schön gestal­tete Bilder, mit Weich­zeichner gefilmte Morgen­ne­bel­land­schaften und Sonnen­un­ter­gänge.
Es ist auch deshalb ein Frau­en­traum, weil die Frauen sich freuen – so kann man zumindest vermuten – dass da plötzlich ein Mann ist. Sie verändern ihr Verhalten. Gewis­ser­maßen werden sie auch von dieser Präsenz verführt – er, der Mann wird natürlich auch verführt von den vielen Möglich­keiten, die sich da bieten. »Seems like the soldier being here is having an effect.«

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»Ist das nun ein weib­li­cher Blick? werde ich später gefragt. Der Mann als Hahn im Korb und die Frauen im Konkur­renz­kampf um dessen Gunst, die sich gegen­seitig die Augen auskratzen?
Es ist wohl schon falsch, diese Frage überhaupt zu stellen. Speziell nach einem ›männ­li­chen Blick‹ fragt man ja bei Männern auch nicht. Man stellt ihn allen­falls fest. Da geht es dann schon los, dass man Regie-Frauen einen Sonder­status gibt. Aber natürlich ist es auch ein weib­li­cher Blick – Sofia Coppola ist ja eine Regis­seurin, warum sollte sie so einen Blick auch nicht haben? Und gerade darum zeigt sie eben auch den erwähnten Konkur­renz­kampf zwischen den Frauen. Es wäre ja auch falsch zu meinen, dass Frauen, die Filme machen, nur deshalb andere Frauen dann immer moralisch wahn­sinnig positiv darstellen müssen.«

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Coppola zeigt auch die Schat­ten­seiten des Weib­li­chen. Auf der anderen Seite kommt der Mann auch wirklich nicht gut weg. Denn der ist ein Mani­pu­lator, einer, der die Situation, in der er sich befindet, gut ausnutzt, und die Mädchen und Frauen gegen­ein­ander ausspielt.
Es geht hier eindeutig auch um subtilere Dinge, als darum, wer mit wem irgend­wann in ein Bett steigt. Das passiert zwar auch irgend­wann. Aber es ist schon deswegen nicht die Haupt­sache, weil wir uns im 19. Jahr­hun­dert in einer puri­ta­ni­schen Gesell­schaft befinden. Es wird beispiels­weise regel­mäßig gebetet. Es wird gegessen, und für das Essen kleidet man sich an. Die Menschen inter­es­sieren sich für einander, beob­achten sich genau, denn sie haben ja nur sich.

»We can show him some real southern hospi­ta­lity.«

Es ist ein System der kleinen, fast unschein­baren Zeichen, die Coppola hier auf der Leinwand entfaltet. Das ist Coppolas besondere Film­sprache: Dass sie in der Ober­fläche das Mehr­di­men­sio­nale und Tiefe entdeckt. Man wirft Coppola ja gern manchmal vor, dass sie eine Filme­ma­cherin des Ästhe­ti­schen ist, dass alles etwas zu glatt und schön aussieht. Aber das ist viel zu schlicht gedacht. Ganz davon angesehen, dass, wenn man eine Woche lang vor allem Filme gesehen hat, in denen die Regis­seure das äußerlich und innerlich Hässliche der Welt besonders stark betonen, bis ins Groteske oder Abseitige, dann besonders gut tut, einen Film zu sehen, der die andere Seite betont und stark macht.
Außerdem belegt dieser Film, wie sehr Coppola eine Huma­nistin ist. Sie steht eigent­lich in der Tradition dessen, was Jean Renoir einge­for­dert hat: Allen Figuren gute Gründe zu geben, sie zu lieben und in den Augen des Zuschauers zu vertei­digen, indem sie sich auf sie einlässt: Das Verstehen ist die Aufgabe des Künstlers. Nicht das Verur­teilen.

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»Was habt ihr gelernt durch unseren Gast?«, fragt Kidmans Figur einmal die Mädchen. Elle Fannings Figur antwortet: »That the enemy as an indi­vi­dual is not what we expected. ›Nicht was wir erwartet haben‹ – aber er bleibt der Feind. Nur wird er verstanden, auch emotional.
Coppola ist eine Regis­seurin, die viel versteht, alles versteht – was aber nicht heißt, dass sie alles verzeiht. Und das macht diesen Film inter­es­sant. The Beguiled ist ein sehr huma­nis­ti­scher Film, der jeder seiner Figuren ihre Momente gönnt, bevor alles am Schluss dann über eine Kette von Ereig­nissen dazu führt, dass die Frauen den Mann gemeinsam mit einem Pilz­ge­richt vergiften.«

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Dieses erwach­sene Märchen aus dem Old South ist auch eine Unter­gangs­ge­schichte. Sie erzählt vom Abschied von einer Zivi­li­sa­tion, von Zivi­li­sa­tion überhaupt, von Manieren, von Lebens­stil. Sonnen­un­ter­gänge, anstei­gender Nebel, Vorlaufen zum Tode. Sie handelt von mehr als nur den Folgen eines Krieges.

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Auch Naomi Kawase ist eine der span­nendsten Regis­seu­rinnen unserer Gegenwart. Ihre Hand­schrift ist das genaue Hingucken auf Fami­li­en­ver­hält­nisse und zum zweiten die Unter­su­chung des Verhält­nisses zwischen Mensch und Natur. Die Natur spielt immer eine wichtige Rolle, sie wird aber nie verkitscht, es ist also nie die nur gute Natur, die besser ist als der Mensch und in der wir unser Seelen­heil finden, es ist aber auch nie die nur schreck­liche, gegen die wir uns mit Technik und anderem vertei­digen müssen. Es ist eine Natur, die einfach da ist, unberührt vom Menschen, und sich auch gar nicht sonder­lich um den Menschen kümmert.

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Was wir in ihrem neuen Film Hikari erleben, ist die Begegnung zweier Menschen, die durch Zufall zusam­men­kommen: Ein berühmter Photo­graph, der langsam sein Augen­licht verliert. Am Ende des Films ist er blind. Er arbeitet als eine Art Test­person in einer Firma, die Audio-Ton-Kommen­tare für Blinde im Kino macht. Da arbeitet auch eine junge Frau, die diesen Kommentar schreibt und vorstellt. Am Anfang streiten sie sich: »Wie beschreibt man richtig?« – »Soll man sich als Person einbringen, wenn man einen Film beschreibt, oder nicht?«

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Das klingt jetzt sehr theo­re­tisch. Es ist aber enorm sinnlich, wenn man es im Kino sieht: Schon in der ersten Szene sehen wir einen Film im Film und wir hören dazu gewis­ser­maßen einen Audio­kom­mentar. Wir erleben also sofort den Bruch zwischen dem, was ein Film im Bild zeigt und dessen Beschrei­bung in Worten. Es wird also gleich das Medium Kino reflek­tiert. Denn wir sehen als Zuschauer auch das, was im Kommentar beschrieben wird, und was wir selber viel­leicht ganz anders beschreiben würden. Also: Die Rela­ti­vität des scheinbar Objek­tiven ist ein wichtiges Thema. Der Film heißt übersetzt: »Hin zum Licht«. Der Photo­graph entdeckt auf andere Weise das Sehen neu. Ein Sehen mit dem Herzen – ohne dass es ein Saint-Exupéry-Kitsch wird.
Es ist viel erwach­sener, viel kompli­zierter. Die Begegnung der beiden ist auch keine Liebes­ge­schichte, sondern eine Freund­schafts­ge­schichte. Es geht darum, dass auch die junge Frau Trost findet. Ihr Vater ist gestorben, sie ist über diesen Tod noch nicht hinweg, die Mutter ist dement.

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Hikari kam für mich über­ra­schend gut an. Also ob es vielen so ging wie mir: Es war zuviel Selbst­zer­mar­te­rungs­nar­zissmus am Wochen­ende.
Kawases Film ist ähnlich wie Coppolas ein huma­nis­ti­scher. Sie versucht nicht, alles zu objek­ti­vieren, ihre Figuren sind nicht Reprä­sen­tanten von Klasse und Gesell­schaft – trotzdem erzählt sie etwas auch über diese.
Vor allem erzählt sie etwas über Kunst: Wo Kunst nicht Utopie ist, nicht Irri­ta­ti­ons­mittel, kann sie mögli­cher­weise Trost spenden. Eine Brücke zur Welt sein.
Im Film kommt ein Gespräch mit einem Regisseur vor. Der sagt darin: »I want achieve to conway a more tangible feeling of hope.« Es gehe um perfekte Balance.
Zudem geht es in der Kunst immer auch um die Frage, was eigent­lich schön ist? Kawase versucht, darauf auf ihre Weise eine Antwort zu geben. Die lautet: Die Natur kann sehr schön sein, wenn man genau hinguckt, das ganz normale Leben und die kleinen Dingen im Leben können sehr schön sein, wenn wir uns emotional und mit dem Kopf darauf einlassen – das ist auch eine sehr japa­ni­sche Position.

(to be continued)