70. Filmfestspiele Cannes 2017
The Virgin Murderers |
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Mit den Augen einer Frau? Sofia Coppolas The Beguiled | ||
(Foto: Universal Pictures International Germany GmbH) |
»Nothing is more beautiful, than what disappears before our eyes.«
aus: »Hikari ›von Naomi Kawase‹«»Man kann durchaus bezweifeln, dass die Filmkunst eine erzählerische Kunst ist.«
Germaine Dulac, französische Regisseurin, 1927 (»Die Zeit des Bildes ist angebrochen!«)
Zwei Filme von Frauen, zwei Reflexionen über Versuche, die Zeit aufzuhalten. Der Schauplatz ist wie eine Insel für sich, jenseits von Zeit und Geschichte, und so ist dieser Film eine Robinsonade. Gleich zu Beginn wird ein Song gesummt. Er erklingt später noch zweimal, dann versteht man auch den Text. Es ist ein Lied des Horrors und der Sehnsucht: Es ist da die Rede vom Winter der den Sommer ablöst, von den vielen Monaten, die der Krieg schon dauert, von verlorenen Jahren, von der Erinnerung, die alles übermannt. »The years creep slowly by Lorena. ›Das Lied gibt den Ton an in diesem Film.‹«
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The Beguiled – auf Deutsch etwa »Die Verführten ›– ist das Remake eines Films von 1971, der von einem richtigen Macho-Regisseur stammt, von Don Siegel, der immer noch besonders als Regisseur von Dirty Harry berühmt ist. Dessen Hauptdarsteller Clint Eastwood spielte seinerzeit auch die
Hauptrolle in Siegels Film.
Mit ihrer Neufassung hat Coppola ein Remake gemacht, das zwar ziemlich eins zu eins der Vorlage entspricht (die ihrerseits eine amerikanische Erzählung verfilmt), aber sie hat eben doch an einigen entscheidenden Punkten nicht nur Nuancen der Handlung, sondern die Perspektive verschoben: Weg von dem Mann, hin zu den Frauen.
Denn was wir hier erleben, ist eine Männerphantasie, die zu einer Frauenphantasie wird: Ein Mann, Soldat der Nordstaaten im
US-amerikanischen Bürgerkrieg wird in Virginia (einem Teil der Sezession) im Wald schwer verwundet von einem jungen Mädchen aufgefunden. Sie lebt in einer nahe gelegenen kleinen Mädchenschule, in der nun auch der verwundete Soldat gebracht wird und sich hier nach einer Notoperation zur Genesung aufhalten darf. Von Anfang an steht im Raum, ihn den konföderierten Truppen zu übergeben, immer wieder ist von fern Geschützdonner zu hören, sind Rauchschwaden zu sehen – der Krieg
bleibt nahe und doch wirkt hier alles wie aus der Zeit und dem Krieg gefallen.‹«
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In dieser Schule gibt es eine Lehrerin (Kirsten Dunst), eine Hausdame, die von Nicole Kidman gespielt wird, und sieben junge Mädchen, zum Teil noch vor der Pubertät, zum Teil mitten drin, oder knapp dahinter – sie sind alle übriggeblieben, und haben sich vor dem Krieg in ein kleines verwunschenes Paradies zurückgezogen, in dem die Zeit stehengeblieben scheint: Eine schöne Villa, ein prächtiger, etwas heruntergekommener alter Garten mit Rosen und riesigen Bäumen.
Dieser
Ort, die zur Schule umfunktionierte, für diese Handvoll Leute viel zu große Südstaatenvilla, ist einer dieser typischen Sofia-Coppola-Orte, sehr verwandt dem Hotel in Lost in Translation, dem Wunderkammer-Versailles mit seinen vielen Fluren in Marie Antoinette und dem leerstehenden
Paris-Hilton-Haus in The Bling Ring mit seinen vollgestopften, überquellenden Zimmern.
Dominiert ist das alles aber dadurch, dass Sofia Coppola eine Filmemacherin der Ästhetik ist. Man hört schöne Musik, Lieder aus dem Civil War, man sieht pastellene, wunderschön gestaltete Bilder, mit Weichzeichner gefilmte Morgennebellandschaften und Sonnenuntergänge.
Es ist auch deshalb ein
Frauentraum, weil die Frauen sich freuen – so kann man zumindest vermuten – dass da plötzlich ein Mann ist. Sie verändern ihr Verhalten. Gewissermaßen werden sie auch von dieser Präsenz verführt – er, der Mann wird natürlich auch verführt von den vielen Möglichkeiten, die sich da bieten. »Seems like the soldier being here is having an effect.«
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»Ist das nun ein weiblicher Blick? werde ich später gefragt. Der Mann als Hahn im Korb und die Frauen im Konkurrenzkampf um dessen Gunst, die sich gegenseitig die Augen auskratzen?
Es ist wohl schon falsch, diese Frage überhaupt zu stellen. Speziell nach einem ›männlichen Blick‹ fragt man ja bei Männern auch nicht. Man stellt ihn allenfalls fest. Da geht es dann schon los, dass man Regie-Frauen einen Sonderstatus gibt. Aber natürlich ist es auch ein weiblicher
Blick – Sofia Coppola ist ja eine Regisseurin, warum sollte sie so einen Blick auch nicht haben? Und gerade darum zeigt sie eben auch den erwähnten Konkurrenzkampf zwischen den Frauen. Es wäre ja auch falsch zu meinen, dass Frauen, die Filme machen, nur deshalb andere Frauen dann immer moralisch wahnsinnig positiv darstellen müssen.«
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Coppola zeigt auch die Schattenseiten des Weiblichen. Auf der anderen Seite kommt der Mann auch wirklich nicht gut weg. Denn der ist ein Manipulator, einer, der die Situation, in der er sich befindet, gut ausnutzt, und die Mädchen und Frauen gegeneinander ausspielt.
Es geht hier eindeutig auch um subtilere Dinge, als darum, wer mit wem irgendwann in ein Bett steigt. Das passiert zwar auch irgendwann. Aber es ist schon deswegen nicht die Hauptsache, weil wir uns im 19.
Jahrhundert in einer puritanischen Gesellschaft befinden. Es wird beispielsweise regelmäßig gebetet. Es wird gegessen, und für das Essen kleidet man sich an. Die Menschen interessieren sich für einander, beobachten sich genau, denn sie haben ja nur sich.
»We can show him some real southern hospitality.«
Es ist ein System der kleinen, fast unscheinbaren Zeichen, die Coppola hier auf der Leinwand entfaltet. Das ist Coppolas besondere Filmsprache: Dass sie in der Oberfläche das Mehrdimensionale und Tiefe entdeckt. Man wirft Coppola ja gern manchmal vor, dass sie eine Filmemacherin des Ästhetischen ist, dass alles etwas zu glatt und schön aussieht. Aber das ist viel zu schlicht gedacht. Ganz davon angesehen, dass, wenn man eine Woche lang vor allem Filme gesehen hat, in denen die
Regisseure das äußerlich und innerlich Hässliche der Welt besonders stark betonen, bis ins Groteske oder Abseitige, dann besonders gut tut, einen Film zu sehen, der die andere Seite betont und stark macht.
Außerdem belegt dieser Film, wie sehr Coppola eine Humanistin ist. Sie steht eigentlich in der Tradition dessen, was Jean Renoir eingefordert hat: Allen Figuren gute Gründe zu geben, sie zu lieben und in den Augen des Zuschauers zu verteidigen, indem sie sich auf sie einlässt: Das
Verstehen ist die Aufgabe des Künstlers. Nicht das Verurteilen.
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»Was habt ihr gelernt durch unseren Gast?«, fragt Kidmans Figur einmal die Mädchen. Elle Fannings Figur antwortet: »That the enemy as an individual is not what we expected. ›Nicht was wir erwartet haben‹ – aber er bleibt der Feind. Nur wird er verstanden, auch emotional.
Coppola ist eine Regisseurin, die viel versteht, alles versteht – was aber nicht heißt, dass sie alles verzeiht. Und das macht diesen Film interessant. The Beguiled ist ein sehr humanistischer Film, der jeder seiner Figuren ihre Momente gönnt, bevor alles am Schluss dann über eine Kette von Ereignissen dazu führt, dass die Frauen den Mann gemeinsam mit einem Pilzgericht vergiften.«
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Dieses erwachsene Märchen aus dem Old South ist auch eine Untergangsgeschichte. Sie erzählt vom Abschied von einer Zivilisation, von Zivilisation überhaupt, von Manieren, von Lebensstil. Sonnenuntergänge, ansteigender Nebel, Vorlaufen zum Tode. Sie handelt von mehr als nur den Folgen eines Krieges.
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Auch Naomi Kawase ist eine der spannendsten Regisseurinnen unserer Gegenwart. Ihre Handschrift ist das genaue Hingucken auf Familienverhältnisse und zum zweiten die Untersuchung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Die Natur spielt immer eine wichtige Rolle, sie wird aber nie verkitscht, es ist also nie die nur gute Natur, die besser ist als der Mensch und in der wir unser Seelenheil finden, es ist aber auch nie die nur schreckliche, gegen die wir uns mit Technik und anderem verteidigen müssen. Es ist eine Natur, die einfach da ist, unberührt vom Menschen, und sich auch gar nicht sonderlich um den Menschen kümmert.
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Was wir in ihrem neuen Film Hikari erleben, ist die Begegnung zweier Menschen, die durch Zufall zusammenkommen: Ein berühmter Photograph, der langsam sein Augenlicht verliert. Am Ende des Films ist er blind. Er arbeitet als eine Art Testperson in einer Firma, die Audio-Ton-Kommentare für Blinde im Kino macht. Da arbeitet auch eine junge Frau, die diesen Kommentar schreibt und vorstellt. Am Anfang streiten sie sich: »Wie beschreibt man richtig?« – »Soll man sich als Person einbringen, wenn man einen Film beschreibt, oder nicht?«
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Das klingt jetzt sehr theoretisch. Es ist aber enorm sinnlich, wenn man es im Kino sieht: Schon in der ersten Szene sehen wir einen Film im Film und wir hören dazu gewissermaßen einen Audiokommentar. Wir erleben also sofort den Bruch zwischen dem, was ein Film im Bild zeigt und dessen Beschreibung in Worten. Es wird also gleich das Medium Kino reflektiert. Denn wir sehen als Zuschauer auch das, was im Kommentar beschrieben wird, und was wir selber vielleicht ganz anders beschreiben
würden. Also: Die Relativität des scheinbar Objektiven ist ein wichtiges Thema. Der Film heißt übersetzt: »Hin zum Licht«. Der Photograph entdeckt auf andere Weise das Sehen neu. Ein Sehen mit dem Herzen – ohne dass es ein Saint-Exupéry-Kitsch wird.
Es ist viel erwachsener, viel komplizierter. Die Begegnung der beiden ist auch keine Liebesgeschichte, sondern eine Freundschaftsgeschichte. Es geht darum, dass auch die junge Frau Trost findet. Ihr Vater ist gestorben, sie ist
über diesen Tod noch nicht hinweg, die Mutter ist dement.
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Hikari kam für mich überraschend gut an. Also ob es vielen so ging wie mir: Es war zuviel Selbstzermarterungsnarzissmus am Wochenende.
Kawases Film ist ähnlich wie Coppolas ein humanistischer. Sie versucht nicht, alles zu objektivieren, ihre Figuren sind nicht Repräsentanten von Klasse und Gesellschaft – trotzdem erzählt sie etwas auch über diese.
Vor allem erzählt sie
etwas über Kunst: Wo Kunst nicht Utopie ist, nicht Irritationsmittel, kann sie möglicherweise Trost spenden. Eine Brücke zur Welt sein.
Im Film kommt ein Gespräch mit einem Regisseur vor. Der sagt darin: »I want achieve to conway a more tangible feeling of hope.« Es gehe um perfekte Balance.
Zudem geht es in der Kunst immer auch um die Frage, was eigentlich schön ist? Kawase versucht, darauf auf ihre Weise eine Antwort zu geben. Die lautet: Die Natur kann sehr schön sein, wenn man
genau hinguckt, das ganz normale Leben und die kleinen Dingen im Leben können sehr schön sein, wenn wir uns emotional und mit dem Kopf darauf einlassen – das ist auch eine sehr japanische Position.
(to be continued)