70. Filmfestspiele Cannes 2017
The winner takes it all... |
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NSU-Thriller auf höchstem Niveau: Fatih Akins Aus dem Nichts | ||
(Foto: Warner Bros. Entertainment GmbH) |
»Fußball ist das Spiel, Borussia seine Seele.«
Auf der Fanseite des BVB
»Campeones, campeones...« Til Kadritzke und ich feierten den Pokalsieg von Borussia Dortmund in der Station Taverne, dem Irish Pub von Cannes, die Spanier freuten sich über Barças 3-1, die Engländer über Arsenals Sieg gegen Chelsea, und die Argentinier freuten sich über alles. Nachdem wir im letzten Jahr bereits an diesem Ort die Meisterschaft des FC Barcelona feiern konnten, scheint in diesem Jahr der Cannes Fluch endgültig gebrochen zu sein. Diego Lerer erinnerte gestern noch einmal an die vielen Niederlagen für Barcelona, Athletico Madrid und Borussia Dortmund, die wir in der Station Tavern erleben mussten. Und an unsre Freundin Violeta Bava, die diesen Fluch persönlich zu verkörpern schien. Zweimal kam es in aufeinanderfolgenden Jahren dazu, dass in dem Moment, in dem sie das Pub betrat ein entscheidendes Tor für die falsche Mannschaft fiel – unter anderem Ramos' Ausgleich gegen Athletico in letzter Minute des Championsleague-Finales. Diesmal war sie nicht da.
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»Almodóvar is like Athletico Madrid: always in the final, never wins«, sagte Violeta aus Barcelona gestern über ihren Landsmann, den Jurypräsidenten. »Haneke is Real Madrid. La bestia blanca.« Wir überlegen, ob Almodóvar wohl Haneke überhaupt einen Preis geben würde. Denn schließlich wurde er mehr als einmal in Cannes von Haneke geschlagen, und fast immer wenn Haneke dabei war, gab es für Almódovar gar keinen Preis, selbst wenn er am Tag der Preisverleihung favorisiert war. Beider
Kino ist einander so entgegengesetzt wie möglich. Barocke Opulenz gegen Askese, Emotion gegen Intellektualität. Ausgelassene Party gegen strenge Erziehung. Und doch eint beide zumindest eine Liebe zum B-Movie, die im Fall Hanekes zwar versteckt, aber doch erkennbar ist.
Aber um Haneke und seinen Film Happy End geht es wohl in der Preisverleihung nicht. Eine dritte Goldene Palme für
ihn wäre eine riesige Überraschung. Happy End ist ein Film, den ich unbedingt noch mal sehen möchte, der aber bei weitem nicht der beste ist, weder von Haneke, noch unter den Filmen des Wettbewerbs.
Dafür ruht sich der Regisseur etwas zu sehr auf bekannten Klischees vom Großbürgertum aus. Interessant und für mich etwas wunderlich ist auch, dass viele Happy End als Gesellschaftskomödie sehen. Das kann man zwar, aber nur witzig ist der Film ja wirklich auch nicht.
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Als wir nach den Fußballspielen mit den Spaniern und Latinos noch in bisschen zusammensaßen, wurden wir schnell einig: Unser Bauchgefühl sagt, dass Sofia Coppola heute Abend gute Chancen auf einen Haupt-Preis hat. Denn Almodóvar wird, meinte nicht nur Violeta, »sehr darauf bedacht sein, welches Bild er als Jurypräsident für die Nachwelt abgibt«. Er wird das Bild wollen, dass er Sofia Coppola auszeichnet, endlich wieder eine Frau, und die Tochter eines Filmemachers, der für ihn wichtig ist.
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Von Bauchgefühlen geprägt ist auch das Kino Fatih Akins. Seine Stärke sind die Emotionen, die »starken« Frauen, und die Power der schieren druckvollen Bewegung der Bilder. Fatih Akins neuer Film Aus dem Nichts, der diesjährige deutsche Wettbewerbsbeitrag, wurde von der internationalen Presse überwiegend positiv aufgenommen – und schon während der Woche hatte man gehört, der Film sei auf dem wichtigen Cannes-Film-Markt auf begeisterte Reaktionen gestoßen und habe sich in die ganze Welt verkauft.
Dass es im Festivalpalais neben viel Applaus aber auch einzelne Buhrufe gab, kann angesichts der Geschichte nicht überraschen: Akin erzählt von einer Frau, deren Mann und Kind bei einem rechtsextremen Terroranschlag ermordet werden. Parallelen zum NSU-Terror sind nicht zufällig, und Akin zeigt auch strukturellen Rassismus. Der Film erzählt in drei Akten in ganz unterschiedlichen Tonlagen zuerst von der Tat und den unmittelbaren Folgen bis zur Verhaftung der Täter, dann vom Prozeß, der mit einem Freispruch »zweiter Klasse« »im Zweifel für den Angeklagten« ausgeht und schließlich von dem, was darauf folgt: Die Pointe ist nämlich – und dies muss man enthüllen, um über den Film überhaupt sprechen zu können –, dass Krugers Figur dann das Recht in die eigene Hand nimmt: Am Schluss sprengt sie die Mörder per Selbstmordattentat ins Jenseits – eine weibliche Kohlhaas, die Selbstjustiz und Rache übt, und der auf Erden nicht zu helfen ist.
»Das ist die Entscheidung des Charakters«, verteidigte Akin seine Figur auf der Pressekonferenz nach dem Film. »Ich weiß nicht, was ich tun würde, wenn ich Frau und Kind verlöre.« Leider sind die mittleren Passagen über Justiz und Staatsanwaltschaft der Schwachpunkt der Films, der in erster Linie ein moralisches Drama ist, in dem der Charakter der Mutter, ihr Leid und der Umgang damit, ganz im Zentrum steht. Die Frage der Selbstjustiz, der Kohlhaas-Konflikt zwischen Gerechtigkeit und Gewalt, Recht und Terror, wird nicht wirklich ausgetragen. Akin zeichnet auf der Leinwand ein schwarzes Bild unser gegenwärtigen Welt.
Zusammengehalten wird das in erster Linie durch die Deutsche, Französin und Hollywoodschauspielerin Diane Krueger, die in der Hauptrolle (für mich) überraschend überzeugend auftritt.
Insgesamt ist mir der Film zu vage. Dem Zuschauer eine Geschichte vorzusetzen und dann zu sagen, man solle wählen, wie sie moralisch zu beurteilen sei, nervt. Das ist keine Offenheit, sondern Feigheit. Und wenn man die Geschichte einer moralischen Selbstmordattentäterin erzählt, muss man
sich ein bisschen positionieren.
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Unverständlich finde ich allerdings, wenn die geschätzte und sonst auf politische Korrektheit großen Wert legende Hannah Pilarcyk nun ausgerechnet Fatih Akin vorwirft, dass er die Rolle der Witwe eines Nazi-Terroranschlag mit einer vor, dass er diese Rolle mit »einer blonden Bio-Deutschen« besetzt. Es geht hier Akin – der übrigens mit einer »Bio-Deutschen« verheiratet ist – bestimmt nicht um Rassismus oder Whitewashing der »People of Colour«. Um die geht es sowieso nicht. Sondern eher darum, gerade zu zeigen, dass der deutsche Faschismus sich nicht nur gegen »X-stämmige« richtet, sondern alle trifft. Und ich möchte nicht wissen, was Hannah geschrieben hätte, wenn wir eine Kurdin oder Türkin hier als Selbstmordattentäterin gesehen hätten. Das wäre erst recht ein Klischee gewesen. Narrative Reinheit dieser Art wird es sowieso nie geben, dafür stellt die politische Korrektheit der Kunst zu viele Fallen.
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In Cannes hat die Front National im ersten Wahlgang der Präsidentschaftwahl über 40 Prozent bekommen.
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Sogar der Hund ist traurig. »Why are you so sad?« Das ist der erste Satz, der in diesem Film gesprochen wird, von einer Frau zu ihrem Hund. Sie ist die Hauptfigur in diesem überaus zähem, über zweieinhalb Stunden langen, gefühlt achtstündigen Film: Krotkaya (A Gentle Creature) des Russen Sergeij Loznitsa, der allerdings seit 17 Jahren in Berlin lebt.
Die Frau ist die namenlose Hauptfigur, deren Höllenfahrt durch ein zwischen Phantastik und Realismus unentschlossen pendelndes Rußlandbild wir folgen müssen. Zu Beginn kommt ein Paket zurück, dass sie ihrem Mann ins Gefängnis geschickt hat, jetzt fährt sie hin um es persönlich anzuliefern. Schon nach 45 Minuten kommt sie in der Gefängnisstadt an. Während der öden Zugfahrt singen Passagiere überlaute Lieder von »Comrade Stalin«, den Kosaken und den Wolgafrauen, sodass man nicht einmal gemütlich schlafen kann. Später dann sehen wir unglaublich kaputte Körper und Gesichter, die saufen, grölen, Strippoker spielen. Alle reden schlecht über alle. Und wir sehen eine Frau, die alles mit sich machen lässt – geistig und körperlich, die nie aufmuckt, widersteht, duldsam bis zur Vergewaltigung, einer ebenfalls zähen, minutenlangen Gruppen-Vergewaltigung.
Eine Männerphantasie. Wenn das ein Franzose machen würde, wäre das Buh groß, bei einem Russen will das Kunstkinopublikum glauben, so sind sie halt.
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So sind sie aber nicht. Das ist effekthascherisches, Propagandakino. Es gibt Hassmails und Hassprediger, aber es gibt auch Hassfilme. Krotkaya ist ein solcher Hassfilm.
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»Das war, ohne zu übertreiben, wirklich die allerschlimmste Filmerfahrung meines Lebens. Ich habe diesen Film mit jeder Zelle verabscheut, war körperlich angeekelt«, sagt Nil aus Istanbul nach dem Film. »Dieser Film, das sind Schläge ins Gesicht des Zuschauers«, sagte Elisa, in Berlin lebende italienische Regisseurin, die für ein paar Tage in Cannes zu Besuch ist: »Loznitsa ist ein Sadist. Warum muss ich Masochist sein?«
Und gestern dann brachte es José Luis aus Spanien am besten
auf den Punkt: »Dass einer sein Leben damit verbringt, die Welt durch Production Design und Schminke möglichst hässlich zu machen, ist extrem unsympathisch. Was für ein Arschloch!«
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»Cannes ist ja auch Spektakel«, sagt die Wochenzeitungsredakteurin in der Radiokabine neben mir, käut ein paar Klischees von »französischem Chauvinismus« wieder, und behauptetet, es sei »einer der schlechtesten Cannes-Jahrgänge aller Zeiten«.
Solche Übertreibungen erzählen mehr über die Lage der Zunft, vor allem der Printmedien, als über die Filme, die man hier sieht. »Zeitungslesen ist überschätzt«, sagte neulich ein mir bekannter Redakteur des Deutschlandfunk etwas bräsig, aber in der Sache korrekt.
Noch wichtiger: Die Erschöpfung der Kritiker, die in Cannes größer ist als sonst, nicht nur weil das Festival mit zwölf vollen Tagen noch einen Tag länger dauert als Venedig, und gleich drei Tage mehr als Berlin. Sondern
weil die Filme einen mehr fordern, weil sie anstrengender und nachwirkender sind.
Trotzdem habe ich diese oft miesepetrige Reaktion vieler Kollegen noch nie verstanden. Ich meine jetzt die ernsthaften, satisfaktionsfähigen aus Deutschland. Man möchte manchmal regelrecht Mitleid mit ihnen haben, dass die Armen nach Cannes müssen, so klingen ihre Texte. In diesem Jahr ist die Miesepetrigkeit besonders stark. Mir geht es zwar auch so, dass ich den Wettbewerb im Schnitt schwächer finde als letztes Jahr, aber keineswegs schwach. Er ist nur weniger abwechslungsreich, es fehlen die Werke, die man »outstanding« nennen würde, das Extreme, Experimentelle, das interessant Missglückte, es fehlt ein Werk, das der beste Film seines Regisseurs wäre, und es fehlen die »Crowdpleaser« – die es allerdings in den Sektionen sehr wohl gibt. Ich mag auch manche Filme überhaupt nicht – aber die Auseinandersetzung sind sie wert, die Kritik. Sie sind sehr, sehr selten nur belanglos. Das unterscheidet sie von Filmen im Wettbewerb von Berlin und erst recht Locarno oder San Sebastián. Fast jeder Film im Wettbewerb von Cannes würde diese Festivals schmücken, und man würde dort zu den stärksten Filmen rechnen. Diese Miesepetrigkeit vieler Kollegen ist also Jammern auf sehr hohem Niveau, eine Verwöhntheit, die die Kollegen nicht reflektieren. Luxusprobleme.
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Lieben oder hassen, da rümpfen unsere politisch korrekten FilmkritikerInnen immer schon ihre Näschen, sooohoo kann man doch nicht über Filme reden. Kann man nicht? Kann man doch! Muss man. Fragt mal die Argentinier. Die Spanier. Die Franzosen. Die Österreicher. Sogar die Holländer.
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Wir wollen es nicht vergessen: Das Weltkino-Orakel. In vielen der letzten Festivals konnte man sich darauf verlassen, dass ein Film gewinnen würde, der sich bereits im Besitz des Leipziger Weltkino-Verleihs befand. Letztes Jahr in Cannes hat es zwar nicht ganz geklappt, aber immerhin bekamen die Filme von Olivier Assayas und Xavier Dolan wichtige Preise. In diesem Jahr hat Michael Kölmel bisher nur einen einzigen Film gekauft: L’amant double.
Der neue Film von François Ozon war überraschend. Es ist ein herrlich exzentrischer, souverän inszenierter und prachtvoll ausgestatteter Psychothriller mit Hitchcock-Touch, genau jene Mischung aus B-Movie und Melodram, die Almodóvar so liebt.
Mehr dazu in den nächsten Notizen.
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Das wird also die prinzipielle Wahl sein, die die Jury zu treffen hat, wenn sie nicht einen Kompromisskandidaten wie François Ozons Psychothriller-Spiel L’amant double prämieren will: Entscheidet sie sich am Ende eines anständigen, aber nicht wirklich herausragenden Festivaljahrgangs für humanistisches, offenes Kino, wie es auch die Japanerin Naomi Kawase und der Koreaner Hong Sang-soo bietet, oder eher für die anti-humanistischen Portraits unserer Welt als Panoptikum aus Amoral und Dummheit: In den neuen Filmen von Michael Haneke oder des Schweden Ruben Östlund, erst recht in den beiden russischen Wettbewerbsfilmen, gibt es nur schlechte Gründe, Glück und Hoffnung sind gestorben. Derartiges Depressions- und Misanthropiekino verrät die eigene Kritik, weil es keine Auswege zeigt, und sich darin noch gefällt.
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Film ist die Kunst, Cannes seine Seele.
(to be continued)