70. Filmfestspiele Cannes 2017
Der Augenblick |
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Visages villages von und mit Agnès Varda läuft in Cannes außer Konkurrenz | ||
(Foto: Weltkino Filmverleih GmbH) |
»Publicity is fascism.«
Jean-Luc Godard
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Cannes wird heuer 70 Jahre alt. Zum Jubiläum hat man hier den üblichen Festivaltrailer, der seit mehr als zwei Jahrzehnten zur Musik von Camille Saint-Saens' »Karneval der Tiere« gezeigt wird, leicht variiert. Wie immer sind 24 Treppenstufen zu sehen, die man Stück für Stück aus dem Wasser gen Himmel steigt, nach der zwölften wird die Wasseroberfläche durchbrochen. Doch diesmal steht auf jeder Stufe der Name eines Regisseurs, vermutlich eines Cannes-Gastes. Als der Trailer zum ersten Mal lief, gab es Buhrufe, denn natürlich ist es eine besondere Würdigung, ganz oben auf der letzten Stufe zu stehen – und da stand noch vor Ingmar Bergman der Name Orson Welles. Schnell begriff man dann aber, dass die Trailer variieren, und es mindestens sieben Versionen gibt: Neben Welles sind ganz oben noch Luchino Visconti, Nagisa Oshima, Pedro Almodóvar, Jane Campion, Robert Altman, und Jean-Luc Godard. Es könnte wirklich schlechter sein.
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»Unvergleichlich, gefährlich, ansteckend, revolutionär, lustig, genial, links, brilliant, charismatisch, tragisch, kindlich, liebenswert, verachtet, mythisch, gehasst, politisch, verspielt, wütend, engagiert, visionär, fesselnd, manipulativ, charmant« – es stimmt ja alles, was hier (und in Michel Hazanavicius' Le redoutable) so an Eigenschaften zur Beschreibung von Jean-Luc Godard aufgeführt wird. Und die Tatsache, dass man das meiste davon und schon gar nicht alles zusammen über keinen einzigen anderen lebenden Filmemacher unserer Zeit sagen könnte, auch nicht über Brian de Palma, oder Francis Ford Coppola, genügt bereits, um noch einmal (als ob das nötig wäre, oder etwas ändern würde) an die einzigartige Bedeutung Godards zu erinnern.
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Aber was für ein Verhältnis hat Cannes wirklich zur klassischen französischen Kinotradition, für die der Name Godard steht? Ganz sicher kann sich das französische Autorenkino der Loyalität der jetzigen Cannes-Führungsetage nicht mehr sein. Da ist zum einen der Umgang mit den aktuellen Autorenfilmen. Schon vor ein paar Jahren war man sehr überrascht, zu sehen, dass die Filme von Phillippe Garrel und Arnaud Desplechin vom Wettbewerb abgelehnt plötzlich in der »Quinzaine«
auftauchten – und wenn man die Filme dann gesehen hatte, verstand man es noch weniger. Auch in diesem Jahr ist manche Entscheidung recht sonderbar. Auch Garrels neuer Film findet sich in der »Quinzaine«, ebenso, wie Bruno Dumont, der im letzten Jahr noch im Wettbewerb auftrat, und Claire Denis, die in Cannes allerdings schon lange keinen guten Stand mehr hat. Desplechin darf immerhin eröffnen, aber außer Konkurrenz.
Dumonts neuer Film heißt Jeanette,
l’enfance de Jeanne d’Arc und ist tatsächlich ein – sehr verführerisches, aber auch anstrengendes – Attentat auf die Wettbewerbsauswahl mit ihrem insgesamt sehr staatstragenden, sehr braven und auch sehr bürgerlichen Charakter. Den Filmen, die dort laufen, fehlt oft der Mut zum Experiment, der Exzess, das Element der Überschreitung. Jeanette bietet dafür eine Dosis an Exzess, die für mehr als einen Film genug wäre.
Dumonts neuer Film erzählt von der Kindheit der Johanna von Orleans. Aber nicht einfach so, nicht als naturalistisches Krippenspiel, sondern als Rock-Musical. Der Film ist etwas zu redundant und auf der Stelle tretend, um nicht Wünsche offen zu lassen, aber er bietet doch Erbauung, wie man sie vom Kino erwartet – eines der zauberhaftesten Werke aus den Nebenreihen von Cannes.
Wie um die Qualität dieser französischen Autorenfilme zu unterstreichen, gewannen Denis' und
Garrels Filme an diesem Samstag die Haupt-Preise der »Quinzaine«. Ich habe beide leider bisher nicht sehen können – genau dies, die relative Nichtsichtbarkeit ist genau der große Nachteil für Filmemacher, die in der »Quinzaine« und »Semaine« platziert sind. Die Zeiten sind lange vorbei, in denen die »Quinzaine« noch eine derart starke Alternative zur offiziellen Auswahl war, dass man oft den einen guten Kilometer langen Fußweg zum Quinzaine-Kino gefunden hat.
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Ein zweiter Anlass, um das Verhältnis der Cannes-Leitung zum französischen Autorenfilm zu befragen, ist die Programmierung von Michel Hazanavicius' Le Redoutable im Wettbewerb. Da könnte man machen, wenn es ein gleichwertiges Gegengewicht zu ihm gäbe. Aber die anderen französischen Beiträge sind einfach nur schwach, nicht auf Augenhöhe mit der Tradition, die Godard
repräsentiert, und – ausgerechnet zum Cannes-Jubiläum – in Le Redoutable offen mit Füßen getreten wird.
Vorweg muss man sagen: Manche Kritik an Le Redoutable war übertrieben. Dies ist kein schlechter Film. Handwerklich ist er gut gemacht, das Production Design ist
hervorragend, Regie und Darsteller gut.
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Trotzdem: Wenn man es schon für nötig hält, eine Satire über Godard zu machen, und das auch noch mit Godards ureigenen Mitteln, dem Kino, dann sollte schon auf Augenhöhe mit seinem Gegenstand sein. Und das ist Michel Hazanavicius in kaum einem Moment. Ich glaube sogar, dass Hazanavicius Godard mag. Ein ums andere Mal gibt es im Film direkte Referenzen an seine Filmsprache. Nur an ausgewählte, formale Stilelemente, wie Negativbilder, Schriftzüge, bewusst abrupte Schnitte, kommentierende Untertitel – aber immerhin. In seiner Haltung aber könnte kein Regisseur dem ewigen Revolutionär JLG entgegengesetzter sein, als der affirmative Hazanavicius, der alles irgendwie schön findet, Godard und sein Gegenteil, und der damit zeigt, dass er nichts verstanden hat.
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Nach Kapiteln geordnet, erzählt der Film angelehnt an die Erinnerungen von Godards zweiter Frau Anne Wiasemsky (»Un an après«) von jenen Monaten vor und nach dem Pariser Mai ‘68, als das Paar frisch verheiratet war, der gemeinsame Film La Chinoise bei seiner Premiere in Avignon durchfiel, und Godard begann, die Revolte für sich zu entdecken. Zwischendurch fährt der Meister auch noch nach
Cannes, wo parallel zu den Pariser Unruhen, Präsident de Gaulles Flucht aus der Hauptstadt und dem Generalstreik, ein Filmfestival stattfindet, für dessen Abbruch Godard gemeinsam mit dem Freund François Truffaut und anderen sorgt.
Anne Wiasemsky, 17 Jahre jünger als Godard, war Spross einer großbürgerlichen Familie, Enkelin von Nobelpreisträger François Mauriac, Tochter eines emigrierten russischen Fürsten, und Schauspielerin aus eigenem Recht: Bevor sie ihren Mann
kennenlernte, hatte sie bereits die Hauptrolle in Robert Bressons Au hasard Balthazar (1966) gespielt.
Ihre Geschichte ist kein verklärter Blick auf die Ereignisse, das war klar, und das muss auch nicht sein – obwohl es vielleicht schön wäre, denn wie hier schon mehrfach geschrieben: Jeder hat seine guten Gründe. Verarschen ist leicht, verstehen viel schwerer.
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Le Redoutable ist unterhaltsam, aber auf recht niedrigem Niveau. Es ist zu viel Verarschung, zu viel Ridiculisierung Godards, zuviel hier unpassender Slapstick, wie das ständige Zerbrechen von Godards Brille. Dies ist eine Sicht, die genau den reaktionären Bourgeois in die Hände spielt, die hier wie bei uns jetzt sowieso den Ton angeben. Hier lachen die, die mit Godards Filmen noch
nie etwas anfangen konnten.
Godard – übrigens sehr gut gespielt von Louis Garrel – erscheint hier als großes Kind: eifersüchtig, kindisch, besessen. Als lächerliche Figur.
Die Qualitäten von Godard, dass einer sich nämlich selber derart radikal in Frage stellt, dass einer bis ins hohe Alter versucht, immer etwas Neues zu machen, sich komplett zu ändern und neu zu erfinden, dass einer immer und unbedingt politisch leben und politisch Filme machen will, dass einer die Idee
der Revolution ernst nimmt, bis hin zur Kritik der Studenten an sich selber, diese Qualitäten kann aber auch Hazanavicius nicht übertünchen. Immer wieder bricht in seinem albernen Film so ein Godard-Satz durch, der dem Kino heute fehlt: »Ich mache keine Filme. Ich mache Revolution.«
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Auch wenn man es nicht glaubt, hat Godard ein gewisses Talent zur Freundschaft über ästhetische Differenzen hinweg. Mit Jacques Demy war das so, dem Mann von Agnes Varda. Mit Visages villages ist Varda im offiziellen Programm vertreten. Der Film, den ich direkt vor Le Redoutable gesehen habe
(ein Zufall, aber nichts hätte besser passen können) ist eine Zusammenarbeit zwischen Varda und dem Designer JR, der Photos monumental-formatig ausdruckt, und sie dann auf Häuser oder Zugwagen oder Felswände pappt, wo sie nach ein paar Tagen, dann von Wind und Regen wieder zum Verschwinden gebracht werden. Allzu lang hält sich der Film mit den etwas affigen Arbeiten des JR auf – interessant an ihm, ist, wie Varda dann nach stinklangweiligem Beginn allmählich das Kommando
übernimmt, und alles nach sechzig Minuten in eine Road-Movie-Sozialreportage Frankreichs verwandelt.
Typisch Varda ist der Besuch bei den Frauen von Hafenarbeitern in Le Havre, eine Hommage an Gewerkschaften und Solidarität zwischen Arbeitern und zwischen Frauen, weibliche Stärke die nicht durch Quoten erzeugt werden muss. Dann eine erste Godard-Hommage: Besuch beider im Louvre, die schnelle Fahrt in knapp zwei Minuten durch die Säle, wie in Bande à part, aber mit Varda im Rollstuhl.
Trotzdem bringt der ganze Film in der Intensität eines solchen Festivals nicht viel außer dem Ende, einem Besuch bei Godard, in dessen neuem Haus in Rolle am Genfer See. Schon bevor sie dort ist, sagt Varda in die Kamera: »He changed cinema for ever... I care about him...« und bemerkt dann in der Bahnhofskneipe, er sei immer gut für Überraschungen...
Es klingt, wie eine Vorahnung. Denn Godard, der die Verabredung zugesagt hatte, ist nicht zuhause. Oder öffnet nicht die Tür. Dort steht nur eine kurze Notiz, eine Erinnerung an Demy, die Varda zu Tränen rührt.
Als sie wieder abgefahren ist, sagt sie
aus dem Off mit Blick auf den See, »dirty rat, I like you well« und erinnert an einen gemeinsamen Urlaub mit Jacques und Jean-Luc und Anna. Sie seien ständig am Meer gewesen, nur Godard nicht, der habe er hat den ganzen Tag gelesen. Genau das – ein Urlaub am Meer, in dem Godard ständig liest, sehe ich dann gleich nochmal bei Hazanavicius.
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Am Ende ist die Tür zu Godard verschlossen. Wäre dies das letzte Bild von Vardas großartiger Filmkarriere, wäre es ein schönes Ende. Aber wenn ausgerechnet dies ihr letzter Film würde, wäre es schade.
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Kurz nach dem Mai ‘68 und dem lesewütigen Strandurlaub schloss sich Godard mit anderen zu der »Dziga Vertov Group« zusammen. Revolution sollten sich verschmelzen, das Kino sollte revolutionär sein. Mittel dazu: Abschaffung der Hierarchien, gemeinsames Abstimmen über jede Entscheidung. Vormittags wurde also debattiert, was man nachmittags drehen würde.
Vier Jahre lang setzte sich Godard diesem Experiment aus. Dann entschied er sich dem Kino vor der Revolution
den Vorzug zu geben, eher wieder JLG zu sein, als Politkommissar. Was er am eigenen Leib erfahren hatte, war die Illusion der Demokratie, war wie Demokratie zum Totschlagargument gegen die Freiheit des Geistes wird. Die Illusion, dass man über alles abstimmen könnte. Genau die Verabsolutierung der Demokratie wird zu ihrem Totengräüber.
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»Au Corée du Nord, le temps s'est arrêté, il y a 62 ans...« – einen ganz anderen Sehnsuchtsraum eröffnet Claude Lanzmann. Der 92-jährige Regisseur des Klassikers Shoah ist diesmal nach Nord-Korea gereist. Sein Film ist eine knappe Lektion über die Geschichte dieses vollkommen unbekannten, mit Vorurteilen behafteten Landes, das Lanzmann gelassen interpretiert als »besonderen Versuch,
die Zeit anzuhalten.« Alles was Menschen tun, sagt er, sei auch Kampf um Unsterblichkeit. Die Pyramiden, die Tempel auf dem Peloponnes, »das sind unsere absoluten Zeitgenossen. Alles negiert den eigenen Tod.«
Da redet er auch über sich.
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Die Bilder dieses Films sehen toll aus. Er zeigt ein monumentales und leeres Pjöngjang. Repräsentativgebäude, 20 Meter hohe Statuen aus goldener Bronze. Aus dem Off, begleitet von Dokumentarbildern, erzählt er vom Koreakrieg, den amerikanischen Massenbombardements, und den 3,2 Millionen Litern Napalm, die über dem Land vergossen wurden, dem Krieg mit Insekten, die man in Schwärmen aussetzte, um Krankheiten zu verbreiten, und er erzählt, dass allein über Pjöngjang mehr als eine Bombe pro Bewohner abgeworfen wurde. 95% der Stadt waren zerstört. McArthur wollte auch die Atombombe einsetzen. »It’s really easy to win a war under this circumstances.« Aber »Kim did know how to use the Cold War.«
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Der Clou von Napalm ist aber, was nun folgt: Denn zugleich ist dieser Film auch eine Rückkehr Lanzmanns auf den Spuren seiner ersten Nordkorea-Reise 1958. Im Schatten der harten Arbeit des Besuchs, bei dem der Regime-Sympathisant in über vier Wochen täglich drei Fabriken besichtigen musste, hat sich Lanzmann nämlich seinerzeit in eine junge Krankenschwester verliebt. »She was observing me as I was observing her.« Die Erinnerung an diese Erfahrung weniger Tage, ihre Küsse – »bestialement« –, die Schweißperlen auf ihrer Oberlippe – »das sexuell erregendste, das ich je gesehen habe« – und an den unbeobachteten Augenblick, in dem sie einmal, für ein paar Sekunden, das Hemd kurz öffnet, ihm ihre Brust zeigt, und darunter »ein schwarzer Streifen«. Sie sagte nur ein Wort »Napalm« wird zu einem atemberaubenden Filmmoment. »I intended to kiss this burned flesh« als »acte d’amour, acte de chevalerie«. Und der versehrte Leib der Frau wird für Lanzmann zur Chiffre für das Rätsel Nordkorea – Pjöngjang, mon amour!
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Lanzmann ist vieles, aber kein Idiot. Natürlich weiß er, dass er mit solchen Erinnerungen sich unter den Verdacht stellt, nur als ein »dirty old man« zu erscheinen. Aber so einfach ist es nicht. Lanzmann ist offen mit sich selbst, mit der längst bekannten Tatsache, dass er nicht nur ein großer Filmemacher, sondern auch ein großer Womanizer ist, ein Verführer. Nicht nur Lanzmanns Filme, auch seine Frauen sprechen für ihn.
Was »Napalm« besonders interessant macht: Hier nun wendet
Lanzmann erstmal das Prinzip seiner Filme auf sich selber an: Der Blick in die Gesichter, in die Reaktionen, die Spiegelung der Vergangenheit im gegenwärtigen Ausdruck. Wir hören und sehen ihn selbst in einer die lange Erzählung. Das Interessante, Wesentliche ist einmal mehr nicht, was er erzählt, sondern wie er es tut.
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Wenn in den letzten Notizen von »verachteten« Boulevard-Journalisten die Rede war, man muss auch daran immer wieder erinnern: Es gibt Leute, die hier nur die Mainstream-Filme sehen und die auch nicht zuende, weil sie am Tag ein Dutzend sogenannter Star-Interviews machen. »Sogenannt« deshalb, weil es Gruppeninterviews sind, in denen sich oft sechs bis zwölf Fragesteller zehn bis zwanzig Minuten mit den Interviewten teilen. Da geht es dann nicht um Lieblingsfilme, sondern um Lieblings-Make-Up. Diese Gruppenverfütterung von Sprechblasen heißen verräterisch »Junket«, nicht Interview. Warum? Weil es sich um Müll handelt, nicht um Journalismus, es sei denn um solchen, der von Müll nicht zu unterscheiden ist.
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Bevor wir hier weiterschreiben und die letzten Wettbewerbsfilme resümieren, die hier gestern und heute Abend ihre Premieren hatten, geht’s jetzt erstmal ins »Irish Pub«. Denn kein Cannes ohne Fußball. An diesem Samstag laufen in vielen europäischen Ländern die nationalen Pokalfinals. Nach dem britischen sehen wir das spanische und dazwischen hoffentlich das deutsche in Berlin: »Ohe, hier kommt der BVB!«
(to be continued)