70. Filmfestspiele Cannes 2017
Es ist wie es ist, sagt der Teufel |
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Wird es ein Happy End am Ende des Festivals geben? Michael Hanekes Happy End, einer der vielen nicht so guten Filme von Cannes | ||
(Foto: X Verleih AG / Warner Bros. Entertainment GmbH) |
Das Palmenfieber steigt, es sind die Tage der Juryflüsterer und der Spekulationen, wer wohl am Sonntagabend die besten Palmenchancen hat. Drei Filme stehen noch aus: Die von François Ozon, von Fatih Akin und von Lynn Ramsey, drei weitere, die von Kritiker-Darling Hong Sang-soo, vom Ungarn Kornel Mundruzcko und vom russischen Berliner Sergei Losnitza habe ich bisher nicht gesehen. Losnitza hole ich heute nach, die drei anderen hoffentlich am Sonntag.
Einig sind sich meine Freunde
und Bekannten, dass es ein unbefriedigendes Jahr gewesen sei. Dem kann ich nur zum Teil zustimmen. Zu meiner eigenen Überraschung finde ich die meisten Wettbewerbs-Filme zumindest anständig und der ernsthaften Diskussion wert. Ob alles im Wettbewerb laufen muss, ist eine andere Frage.
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Wem ich bisher meine persönliche Goldene Palme geben würde, hat Engin aus Istanbul mich vor ein paar Minuten gefragt. Ich habe mit der Antwort gezögert, nannte dann aber ganz überzeugt Sofia Coppola. The Beguiled ist filmisch hervorragend und hat viel Tiefgang. Aber auch dieser Film ist nicht perfekt und nicht der beste der Regisseurin. Das gilt für alle anderen Werke, die bei mir in die engere
Wahl kommen auch: Naomi Kawases Film gefällt mir persönlich, auch weil ich Kawases Werk mag und eine Affinität für japanische Ästhetik, japanisches Lebensgefühl habe. Aber Hikari ist bestimmt nicht der beste Film der Regisseurin. Engins Istanbuler Kollegin Nil ist aus dem Film rausgegangen – etwas zu früh, glaube ich, aber ich wusste, dass sie den Film nicht mögen würde und kann
verstehen, dass man die Story übermäßig konstruiert findet, und einem dieser Typus der bescheidenen, wissbegierigen, bei älteren Männern um Erkenntnis heischenden jungen japanischen Frau nicht mag. Ich war überzeugt, dass viele den Film hassen würden. Wie gut er insgesamt bei der internationalen Presse ankam, hat mich sehr überrascht – vielleicht lag das aber auch daran, dass dies der erste humanistische Film war, nachdem nicht immer subtiler Anti-Humanismus die erste
Festivalhälfte beherrscht hatte
Die drei besten Filme dieses Typus sind Ruben Östlunds The Square, Happy End von Michael Haneke und Yorgos Lanthimos The Killing of a Sacred Deer. Was
zuallererst gegen diese Filme spricht: Auch sie sind sämtlich nicht die besten Werke ihrer Macher.
Sie sind intensiv und stark, aber nur in ihrem Negativismus. Alle drei weichen nämlich aus: Östlund in billigem Humor in seiner Beschreibung der zeitgenössischen Kunstszene. Da lachen und klatschen wirklich nur jene, die mit der modernen Kunst schon seit Manet nichts mehr anfangen können.
Bei Haneke ist der große Ausweichpunkt der, dass er sich nicht entscheidet, welche Geschichte
er genau erzählen will. Die interessanteste, die aber mehr am Rand von Happy End verborgen liegt, ist die der »Kindheit eines Chefs« (Sartre): Wie bürgerliche Kinder zu stillen Brütern der Gewalt, des Faschismus werden.
Lanthimos' Achillesferse: Sein Mystery-Teil. In Folge 7 der Cannes-Notizen hatte ich beschrieben, wie hier unerklärliche Ereignisse über eine bürgerliche Familie
hereinbrechen. Darin unterscheidet sich der Film nicht von Bunuels Würgeengel. Es ist wie es ist, sagt der Teufel. Aber auch bei Bunuel ist das Unerklärliche vor allem Behauptung, und darin auch ein bisschen billig und prätentiös.
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Aber was mag wohl so eine Jury entscheiden. Worauf können sich zum Beispiel Maren Ade und Will Smith einigen? Es ist jedes Jahr das Gleiche: Man konzentriert sich übermäßig stark auf den Präsidenten der Jury, in diesem Fall also Pedro Almodóvar, und fängt an, billiger zu psychologisieren, als noch der schlechteste Hollywood-Film, in diesem Fall also: Der Mann ist schwul und kulturell ein Kind der 80er Jahre, also muss der Mann bestimmt den französischen, in den 80ern spielenden
Aids-Film 120 BPM besonders toll finden... Dümmer geht’s nimmer. Wenn wirklich ausschließlich Almodóvars Geschmack ausschlaggebend sein sollte, dann spricht eher einiges dafür, dass es dem Spanier auch gefallen könnte, vielleicht ja doch mal wieder eine weibliche Preisträgerin zu finden. Es wäre erst die zweite Palme für eine Frau nach Jane Campion, die für Das Piano gewann.
Meine sehr allgemeine Erfahrung: Zuviel Regisseure in einer Jury ergeben schlechte Preise. Und fühlt sich nicht sogar Will Smith als kompetenter Filmemacher?
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Der Tiefpunkt des Wettbewerbs liegt schon zwei Tage zurück: Jacques Doillons Künstlerbiopic Rodin hat keine Gnade verdient: Eine Altherrenphantasie des Regisseurs im Verein mit Hauptdarsteller Vincent Lindon. Die Figur wird als gönnerhafter Checker präsentiert, der allen seinen Platz zuweist, und zu »Paul« (Cezanne) Sachen sagt wie: »Als ich 40 war hat sich auch keiner für mich
interessiert.«
Ansonsten: Vincent Lindons Wurstfinger zuerst im Gips patschend und dann an den nackten Brüsten der Modelle. Und der einzige Lichtblick: Izïa Higelin als Camille Claudel ist selbst zwischen den Ruinen dieses Films noch eine Darstellerin, die im Gedächtnis bleibt.
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In Djiam von Tony Gatlif (Außer Konkurrenz) bin ich nur hineingegangen, um mal ganz ehrlich zu sein, weil ich Barbara aus Belgien, meiner allerliebsten internationalen Presseagentin, einen Gefallen tun wollte. Wir hatten vor Cannes gemailt, und wie man es so tut, uns gegenseitig auf Stand gebracht, und nützliche Informationen ausgetauscht, und ich hatte ihr zugesagt, Gatlif, den ich nicht mag, nach Jahren mal wieder eine Chance zu geben.
Man sieht dann
das Insert »Lesbos Island 2016«, denkt an Flüchtlinge, sieht eine hübsche junge Frau vor einem Zaun, die anfängt zu singen. Der Gesang ist nicht untertitelt. Was man durch ihre Art zu tanzen und den sehr kurzen Rock schnell sehen kann: Sie hat keinen Slip an. Nachdem der Gesang vorbei ist gibt es ein kurzes Gespräch mit einem Mann, der mindestens ihr Vater sein könnte. Der redet mit ihr etwa in dem Ton »Understood, you little bitch«, sie antwortet entsprechend: »Yes, you stinking old
man«. Ist aber freundschaftlich gemeint.
Was folgt ist der übliche Musik-Tourismus von Gatlif, Reisen durch Istanbul und Griechenland, immer unterwegs immer mit neuen Figuren alle fünf Minuten, immer mit unmotivierten Musikstücken zwischendurch. Bollywood für Politisch-Korrekte vor dem Hintergrund von krachledernem Ethnokitsch. Dieser Film wirkt wie eine Karikatur von Gatlif. Im Grunde unglaublich, dass so etwas hier läuft. Dann sehen wir dem Girl noch beim Schamhaare rasieren
zu, und auch sonst hat alles mitunter die Anmutung eines Arthouse-Pornos.
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Beim Essen kommt RP irgendwann auf diese vielen Frauen, die von Männern künstlerisch... ja missbraucht werden, zu sprechen. Und erwähnt zwei Fälle: Mary Tsoni, die vor acht Jahren in Yorgos Lanthimos Dogtooth die jüngere Tochter spielte, ging Anfang Mai in den Tod. Schön länger her ist der Selbstmord von Yekaterina Golubeva, die in Leos Carax Pola X Hauptrollen spielte, wie in Bruno Dumonts 29 Palms und Claire Denis L’intrus.
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Das letzte Drittel des Festivals hat begonnen, die ersten sind schon abgereist, alles ist insgesamt etwas entspannter. zugleich beginnt ein anderer Stress: Wie kann man noch alles sehen, was man bisher versäumt hat? Wie kann man alles aufschreiben, was man erlebt hat, was aber noch nicht in diese Notizen hier eingeflossen ist? Und vor allem: Wie schaffe ich es noch, die ganzen Freunde und Bekannten zu sehen, die ich noch treffen wollte?
Ganz klar noch treffen will ich Violeta und
Violeta. Beiden bin ich schon über den Weg gelaufen: Violeta aus Barcelona, Filmkritikerin und Barça-Dauerkartenbesitzerin, laufe ich zwar immer wieder über den Weg, aber richtig viel Zeit haben wir bisher nicht gehabt.
Violeta aus Buenos Aires hat seit September ein Kind, Julia. Es hat mich überrascht, dass sie schon wieder auf andere Kontinente riest und auf Festivals fährt, aber auch gefreut: Endlich mal eine Mutter, die nicht alles, was sie tut auf, das Kind einstellt, sondern
die ihr Kind in ihr Leben, so wie es ist integriert. »Anders hätte ich es nicht tun wollen«, hat sie mir schon vor einer Woche beim Locarno-Empfang erzählt. Immerhin habe Julia bereits einen Festivalbadge und ist fast immer mit dabei, wenn Violeta im Halbstundentakt ihre Meetings hat.
Zuende ist auch der Markt. Deswegen verändert sich mit dem heutigen Tag das Publikum, zumindest ein wenig. Manche Filmkritiker und die von mir verachteten Boulevard-Journalisten sind schon abgereist,
ihre freien Plätze nehmen die Menschen mit den Marktakkreditierungen ein.
Da gibt es dann sowohl welche, die noch viel schneller herausgehen, wenn ihnen ein Film nicht zusagt, als auch jene, die auch dann bis zum bittren Ende aushalten, weil sie »endlich mal einen Film ganz sehen« wollen.
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Jetzt schnell ins Kino, zu François Ozon, im Wettbewerb. Später noch Fatih Akins Film, der hier auch hoch gehandelt wird, weil er sich offenbar im Markt sehr gut verkauft hat. Auch Lynn Ramseyys neuen Film, mit dem am Samstag der Wettbewerb abgeschlossen wird, sei »ein Brett« höre ich aus informierten Kreisen.
(to be continued)