70. Filmfestspiele Cannes 2017
Interesse an der Welt statt am Weltbild: Ein Nachruf aus Cannes |
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»Act-up, Paris!«: Ein leidenschaftlicher Film im Wettbewerb war Robin Campillons 120 battements par minute | ||
(Foto: Memento Films) |
Von Till Kadritzke
Schlimmer hätte dieser insgesamt enttäuschende Cannes-Jahrgang für mich wirklich nicht ausgehen können als mit der Goldenen Palme für Ruben Östlund und seinen The Square, über den ich in meinem Zwischenruf von der Croisette bereits viele Worte verloren habe. Ich halte den Film für gefährlich darin, wie er Bloßstellungen linksliberaler Doppelmoral brainstormt und dann in recht billigen Pointen auflöst, die weniger zum Nachdenken als zu populistischen Affekten anregen. Ich will nicht ausschließen, dass mir da Dinge entgangen sind, dass der Film hintergründiger ist, als er mir erschien, dass es da bei einer zweiten Sichtung Gedankengänge zu verfolgen gibt, die komplexer sind als der bloße Clash von Transgression in der Kunst und politischer Korrektheit. Große Lust auf eine zweite Sichtung habe ich aber allein schon aufgrund Östlunds filmischen Gestus nicht, seine Thesen in The Square als Wahrheiten zu verkaufen. Der Schwede selbst nahm seine Goldene Palme am Sonntag auch nicht gerade bescheiden entgegen, sondern jubelte, als sei er gerade Weltmeister geworden.
Jury-Präsident Pedro Almódovar war wohl selbst kein Freund dieser Entscheidung, das wurde auf der obligatorischen Pressekonferenz nach der Verleihung klar. Nach dem Gewinner des Großen Preises der Jury, Robin Campillos 120 battements par minute gefragt, stiegen ihm nicht nur die Tränen in die Augen, als er über die Wichtigkeit dieses Films für die LGBT-Community sprach, sondern er betonte auch nochmal, dass die Jury eine demokratische war und er selbst »nur das neunte Mitglied«. Ich habe das Wettbewerbs-Screening verpasst und BPM erst kurz vor der Verleihung noch nachgeholt, wäre mit einer Palme für diesen Film, wie Almodóvar wohl auch, aber um einiges glücklicher.
Das hat vor allem damit zu tun, dass BPM zwar als Inbegriff des politisch relevanten Themenfilms erscheint, der seine Welt klar in von ihm geliebte Helden und ihre Feinde einteilt, dabei aber wesentlich vitaler, schlauer, besser ist als motivisch ähnlich angelegte Werke. Im Zentrum steht die Aids-Aktivistengruppe »Act-up Paris«, die mit spektakulären Aktionen Politik und Pharmaindustrie bekämpft und zugleich mit dem inneren Konflikten wie dem je einzelnen Kampf gegen die Krankheit zu kämpfen hat. Der schleichende Tod injiziert dem Aktivismus seine Dringlichkeit und seine Energie, dementsprechend changiert Campillos Film zwischen einer stetig nach vorn preschenden Bewegung und einer zeitgleich ablaufenden, melancholischen, aber niemals melodramatischen Verlangsamung.
In einer frühen Szene, als die Gruppe gerade von einer Aktion nach Hause fährt, sehen wir einen der Protagonisten, Sean, wie er aus dem Fenster der Metro blickt, und dann schneidet Campillo in die Außensicht, nimmt Sean durch die Fensterscheibe in den Blick, in der sich die Seine spiegelt, und Sean spricht wie als Voice-over aus einem völlig anderen Film davon, wie die Krankheit seine Sicht auf die Welt verändert hat und alles traurig macht und so weiter. Aber eben nur, bis er lachend abbricht, die Kamera wieder drinnen ist, ganz konkret bei den Figuren, und Sean sagt, dass sich gar nichts verändert hat, also weiter geht’s. Es ist diese Geste, die den ganzen Film durchzieht: Niemals seine Figuren zu Opfern machen, niemals diese Figuren schon dadurch töten, dass man sie ausbeutet für philosophierende Momente über Sterblichkeit, vielmehr immer über den (drohenden) Tod hinausdenken. Diejenigen, die sterben, hören nicht auf, Teil der Gruppe zu sein, »Act-up« ist in diesem Film eine vital-mortale Allianz aus Kämpfern, die dem Lauf der Dinge ihren Stempel aufdrücken wollen, weil sie gar nicht anders können. Wenn der Film bewegend ist und zu Tränen rührt, dann nicht einfach, weil er von Aids handelt, von Ungerechtigkeit, vom Tod, sondern weil er, spätestens wenn die Gruppe mit dem Tod eines Protagonisten umgehen muss, konsequent über den Tod im Modus des Lebens nachdenkt und über das Leben aus der Sicht des Todes reflektiert.
BPM ist einer der wenigen Höhepunkte im Wettbewerb, zu denen für mich auch noch Hong Sang-soos The Day After, Sofia Coppolas Don-Siegel-Remake The Beguiled, Lynne Ramsays You Were Never Really Here, Noah Baumbachs The Meyerowitz Stories und Todd Haynes' Wonderstruck gehören. Coppola und Ramsay, die beide selbstbewusste, aber ungleich uneitlere Filme gemacht haben als ihre männlichen Kollegen im Welterklärermodus (vor allem Östlund und Zvyagintsev, aber auch Yorgos Lanthimos und Sergei Loznitsa) wurden von der Jury glücklicherweise mit Preisen bedacht: Coppola als zweite Frau in der Cannes-Geschichte für die beste Regie, Ramsay für ihr Drehbuch.
Aber genug vom Wettbewerb, sah es doch in den Nebensektionen nochmal ganz anders aus. Die bieten in Cannes nun auch nicht immer ein verlässliches Refugium, in diesem Jahr mitunter aber tatsächlich die interessanteren Filme.
Als Special Screening, also in der offiziellen Auswahl, aber nicht im Wettbewerb, lief nicht nur ein bezaubernder zweiter Film von Hong Sang-soo, der in Cannes selbst spielt und in dem Isabelle Huppert als Hobby-Fotografin in eine Affäre zwischen einem koreanischen Regisseur und seiner jungen Mitarbeiterin hineingerät, sondern auch die ersten beiden Folgen von »Twin Peaks«. Die Vorführung fand zwar erst mehrere Tage nach der TV-Premiere statt, aber nach dieser Vorführung ist es für mich kaum vorstellbar, David Lynchs Serien-Revival mit seinem garstigen Sound Design irgendwo anders als im Kino fortzusetzen. So war diese mitunter eher an einen Experimentalfilm à la Eraserhead denn als Serienauftakt anmutende Erfahrung ein kleiner Ausflug in eine Parallelwelt jenseits von Cannes, auf der entsprechenden Gala bekam »Twin Peaks« angeblich die längste Standing Ovation des Festivals.
Im »Un Certain Regard«, der größten Nebensektion von Cannes, liefen weitere Filme, die auch ohne Weiteres das Niveau des Wettbewerbs nach oben gezogen hätten, wären sie dorthin eingeladen worden. Neben Laurent Cantets The Workshop, der das Verhältnis von Fiktion und Politik vor dem Hintergrund rechtspopulistischer Strömungen vermisst, und dem vollkommen klischeebefreiten Coming-of-Age-Film Closeness des russischen Debütanten Kantemir Balagov, ist hier vor allem Valeska Grisebachs Beitrag Western herausgestochen, eine ungemein faszinierende filmische Meditation auf das genrigste aller Genres, und zugleich eine präzise und auch politisch dringliche Bestandsaufnahme aktueller deutscher Fremdheitsdiskurse. Es geht um eine Gruppe deutscher Bauarbeiter in Bulgarien, temporäre Wirtschaftsflüchtlinge quasi, ein Mikrokosmos, kein Interesse für örtliche Kultur und Sprache, und ein als Spiel und Spaß getarnter sexueller Übergriff am Badesee gegenüber einer Dorfbewohnerin. Klug bringt Grisebach all das nach Hause, was wir in Flüchtlingsdebatten so bereitwillig aufs Fremde projizieren und damit externalisieren. Im Zentrum aber eben auch ein echter Western-Held, Meinhart, ein Wanderer zwischen den Welten, der sich weit vorwagt ins Fremde. Einer der besten Filme, und überhaupt nicht in einem Atemzug zu nennen mit dem anderen deutschen Beitrag der offiziellen Auswahl, Fatih Akins Neonaziploitation Aus dem Nichts, der so viel weniger versteht von fremdenfeindlichen Strukturen als Grisebachs Film.
In der »Quinzaine des Réalisateurs« dann tummelten sich prominente französische Namen wie Claire Denis, Philippe Garrel und Bruno Dumont. Denis hat Roland Barthes' »Fragmente einer Sprache der Liebe«, nunja, verfilmt, Dumont die Kindheit von Jeanne d’Arc in einem eigenwilligen, faszinierenden Rock-Musical verarbeitet, und Garrel eine Trilogie abgeschlossen. Nach La jalousie und Im Schatten der Frauen ist L’amant d’un jour der dritte 80-minütige Film, den der Altmeister in 21 Tagen auf Schwarz-weiß gedreht hat. Dieses Mal spielt nicht Sohn Louis, sondern Tochter Esther mit, die tatsächlich aussieht wie Louis in weiblich, so sehr gleichen sich die Gesichtszüge. L’amant d’un jour ist vor allem wegen seiner zwei Frauenfiguren toll, die eine ist hier die Liebhaberin eines Philosophieprofessors, die andere seine Tochter, und zwischen beiden entsteht eine als Freundschaft getarnte Rivalität oder eine als Rivalität getarnte Freundschaft, es ist auch egal, weil Garrel schlau genug ist, nicht genau zu wissen, was seine Figuren eigentlich wollen.
In der »Semaine de la Critique« schließlich lief ein weiteres stilles Highlight des diesjährigen Festivals. Ava heißt der Film von Léa Mysius, der in seiner ersten Sequenz einen Hund über einen vollen Strand schickt, um eine Protagonistin auszuwählen. Die Wahl fällt auf die 13-jährige Ava, die bald erfährt, dass sie ihr Augenlicht verlieren wird, und der Film entscheidet sich in diesem Moment konsequent, diesen schleichenden Verlust niemals einfach nur zu betrauern oder um unsere Betroffenheit zu werben. Das Sehen und Nicht-sehen wird vielmehr zum Vehikel für Humor und für das Begehren des Films, noch so viel wie möglich mitzunehmen. Der Film eskaliert also viel lieber, als groß zu trauern, Ava pubertiert vor sich hin, trifft Jungs, ist vor allem fasziniert vom feschen Andalusier Juan, der am Strand schläft, der von der Polizei gesucht wird, und mit dem sie irgendwann abhaut. Das Coming of Age wird zum Couple on the Run, und Mysius scheut sich trotz des jungen Alters ihrer Protagonistin nicht vor Nacktheit und Sexualität. Ava ist ein Film, der sich klein und intim anfühlt, aber der eigentlich genau das tut, was wir vom Kino erwarten dürfen: Uns die Welt nicht erklären, sondern erweitern, verlängern, vergrößern; nicht ihr eigenes Weltbild illustrieren, sondern sich für das ihrer Figuren interessieren. Zu wenige Filme in Cannes haben das überhaupt versucht.