29.05.2017
70. Filmfestspiele Cannes 2017

Notwen­dige Erschüt­te­rung

The Square
Die Kunst-Bestie ist los: Ruben Östlund gewinnt die Goldene Palme mit The Square
(Foto: Alamode Film)

Die Goldene Palme geht an den Schweden Ruben Östlund: An seinem Film kann man sich stoßen, er lässt sich nicht übersehen, und das ist gut – ansonsten lieferte Cannes auch in diesem Jahr wieder präzise Information über den Stand der Dinge – Cannes-Notizen, 14. Folge

Von Rüdiger Suchsland

The Winner takes it all – viel­leicht war es mein Unter­be­wusst­sein, das mir diese Über­schrift gestern einge­geben hat. Ausge­rechnet ABBA, eine schwe­di­sche Band...

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Es war keine ganz große Über­ra­schung, aber doch ein uner­war­teter Preis­träger: Der 43-jährige Schwede Ruben Östlund, gewann für seinen Film The Square am Sonn­tag­abend zum Abschluss der 70. Film­fest­spiele von Cannes die Goldenen Palme und damit die wich­tigste Auszeich­nung der Welt für künst­le­risch ambi­tio­niertes Autoren­kino. Östlunds war einer der stärksten im dies­jäh­rigen, keines­wegs schwachen, aber doch eher mittel­präch­tigen Wett­be­werb ohne klare Favoriten.
Der Rent­ner­club des Screen-Daily-»Jury Grid«, dessen Favorit schon syste­ma­tisch nicht die Goldene Palme gewinnt, hatte natürlich dem russi­schen Poser Andreij Zvyag­intsev, der den Wett­be­werb eröffnete, gleich am ersten Tag soviel Punkte gegeben, dass er bis zum Ende vorn lag. Knapp vor Lynne Ramseys You Were Never Really Here, der an zweiter Stelle folgte. Beide Filme gewannen mit dem »Prix de Jury« bzw. Dreh­buch­preis (Ramsey ex aequo mit Lanthimos), wichtige Neben­preise, was in Ordnung ging, da sie den Charakter des Wett­be­werbs reprä­sen­tierten.
Einige hatten Haneke auf der Rechnung, viele Kollegen mochten auch Sofia Coppolas The Beguiled, eine sehr zeit­ge­mäße Geschichte aus dem US-Bürger­krieg, für den Coppola als aller­erste Frau seit 1961 den Preis für die beste Regie gewann – sehr zu Recht.

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Die Auszeich­nung für Östlund war ein verdienter Preis, wenn auch keines­wegs ein unum­strit­tener. Der Film über den ich in Folge 6 dieser Notizen ausführ­lich und positiv geschrieben habe, und für einen der ästhe­tisch stärksten im Wett­be­werb halte, hat nicht nur Fans, sondern auch vehemente Gegner. Für die Freunde von critic.de etwa ist es eine der schlech­test­mög­li­chen Entschei­dungen. Sie finden den Film didak­tisch und politisch reak­ti­onär – was ich wiederum für Unsinn halte, und was, selbst wenn es so wäre, die Quali­täten des Films unter­schlägt. Wer Lust hat, kann in den nächsten Tagen im tradi­tio­nellen Cannes-Pdcast von artechock und critic.de eine ausführ­liche Debatte zu dem Film finden.
Auch Engin aus Istanbul, der Östlunds Sachen bisher mochte, findet den Film sehr schlecht. Andere dagegen halten es für doch richtige Entschei­dung. The Square erzählt die Geschichte eines lächer­li­chen Mannes, eines Kunst­ku­ra­tors in Stockholm, und nutzt das Leben dieser Haupt­figur zu einer Abrech­nung mit unserer Gegenwart, einer schwarzen und bissigen, manchmal auch süffi­santen Gesell­schafts­komödie, die die poli­ti­sche Korrekt­heit und die Mora­li­sie­rung gesell­schaft­li­cher Verhält­nisse aufs Korn nimmt – und damit nicht nur Schweden meint, sondern unser aller Leben in den Wohl­stands­oasen des Westens.

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Ästhe­tisch hat The Square zusammen mit The Beguiled eindeutig der beste Film gewonnen. Zugegeben: Man kann auch Lynn Ramsey aufge­motztem Arthouse-Thriller im 90er-Jahre Stil jeden­falls in puncto Regie die Könner­schaft nicht abspre­chen. Da greifen dann auch Geschmacks­fragen, und ich hätte einen Haupt-Preis für Ramsey in jedem Fall das falsche Signal empfunden.
Östlund weiß, was er tut, und er hat Humor – das ist im Kunstkino selten, sieht man mal von der Nied­lich­keits- und Schmun­zeläs­thetik der Gene­ra­tion Kauris­mäki-Jarmusch-Allen ab, die inzwi­schen völlig aus der Zeit gefallen ist, von den sympa­thi­schen, filmisch extrem gut gemachten, aber alles in allem doch sehr banalen Laber-Filmen Hong Sang-soos.

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»Ein aggres­siver Film« schreibt Frédéric Jaeger auf critic.de, und macht sich Sorgen.
Ich finde: Aggres­sion gehört dazu. Unser Kino ist zur Zeit nicht aggressiv genug, sondern glatt und selbst­ge­fällig, geölt und geschmeidig, es provo­ziert zu gar nichts – und wenn Östlund den Film­kunst­be­trieb aus seiner Selbst­ge­fäl­lig­keit, seiner Eitelkeit und seinen einge­fahren Bahnen reißt, hat er schon viel erreicht.
Zu diesem Film­kunst­be­trieb gehören die Film­kunst­kri­tiker. Ich bin wahr­schein­lich auch einer, aber ich rechne mich doch nicht ganz zu jenen, die jedes Jahr in Cannes und anderen Orten im Kritik-Auto­pi­loten die immer­glei­chen Ästhe­tiken und Filme­ma­cher hoch­ju­beln, bei denen man schon vor den Premieren weiß: Hong Sang-soo und Apichat­pong Weer­a­set­hakul werden Lobes­hymnen ernten, die Dardennes und Kauris­mäki auch, Lav Diaz und ein paar ameri­ka­ni­sche Regie-Hipster, Haneke dagegen muss man in der Regel schlecht finden, usf. The Square spaltet, und das ist gut. Denn ich verbinde die Hoffnung mit diesem Film, der sich nicht einfach übersehen lässt, dass sich die Leute an ihm stoßen. Es ist ja auch nicht so, dass sich nichts gegen den Film sagen ließe. Tatsäch­lich finde ich große Teile seines Humors billig, unnötig unter­kom­plex. Gerade die Scherze über Gegen­warts­kunst provo­zieren Applaus von der ganz falschen Seite. Östlund beschränkt sich auch selbst, weil er seinem Kino keine Hoffnung gönnt, keine Utopie, weil er sich auf Kritik beshränkt und sie dadurch folgenlos bleibt.
Für mich gehört der Film in die Gruppe der Cannes-Filme, die ich mise­ra­bi­lis­tisch und anti-huma­nis­tisch finde. Er ist unter diesen Filmen aber der humor­vollste, offenste, am wenigsten menschen­ver­ach­tende.

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Frédéric findet den Film keinen guten Gegen­stand, um ein Zeichen für das Kino als Diskurs­motor zu setzen, und schlägt statt­dessen die Filme von Sergei Loznitsa oder Lynne Ramsay vor, weil sie »nicht weniger umstritten« seien. Da irrt critic.de. Loznitsa ist bis auf wenige Ausnahmen (wie über­ra­schen­der­weise bei Spiegel-Online) auf einhel­ligste Ablehnung und geradezu wütende, aggres­sive Reak­tionen gestoßen. Auch ich finde den Film eine längere Ausein­an­der­set­zung nicht wert. Und Lynn Ramsey finden die Ameri­kaner toll, viele andere eher schwach. Dieser Film wird schon durch seine Bruta­lität wieder die üblichen Debatten über Gewal­täs­thetik triggern, er handelt nicht von der Welt des europäi­schen links­li­be­ralen Bürger­tums. Diese aber ist unsere Welt und nur ein Film, der wie Östlunds direkt auf sie und ihre Lebens­lügen zielt, wird ihr die dringend notwen­dige Erschüt­te­rung bescheren.
Frédéric gefällt nicht, dass Ruben Östlund über­trie­bene Toleranz als über­trieben kriti­siert, und Konzept­kunst der Lächer­lich­keit preisgibt. Östlunds Held ist eitel – und man kann argu­men­tieren, dass der Vorwurf der Eitelkeit auf den Regisseur zurück­fällt.
Aber Östlund ist eben kein Filme­ma­cher, der sich über seinen Gegen­stand erhebt. Kein Russe, der sich darin suhlt, dass er alle Menschen verachtet. Östlunds Welt ist weit­ge­hend die, die er hier kriti­siert.
Was die Toleranz angeht, muss man viel­leicht noch einmal daran erinnern, dass Östlund 2011 Opfer einer scharfen Kampagne gegen seinen vorletzten Film The Play wurde. Es ging darin um jugend­liche Verbre­cher, und weil Östlund mit schwarzen Laien­dar­stel­lern gear­beitet hatte, wurde ihm Rassismus vorge­worfen. Östlund kennt also, wovon er erzählt. Er ist keines­wegs neutraler Beob­achter.
Aber nicht jeder, dem »political correct­ness« auf die Nerven geht, und der das sagt, obwohl auch Rechts­extre­misten so etwas sagen, ist deswegen gleich selbst ein Reak­ti­onär. Es gibt gute Gründe Gründe für Miss­trauen – einem zunehmend denk­faulen,
in vieler Hinsicht medial gleich­ge­schal­teten Publikum gegenüber. Aber auch Verhält­nissen gegenüber, die von Angst bestimmt sind: Der Angst vor Schmutz, vor Unrein­heit, der Angst davor, etwas falsch zu machen. Darum reinigen wir unsere Sprache, unser Essen, unseren Körper, darum sind Gesund­heit und körper­liche Makel­lo­sig­keit und gerechte Sprache und höfliche Manieren die neuen Götter und poli­ti­sche Korrekt­heit die neue Religion. Gegen all das richtet sich Östlunds Miss­trauen und seine Aggres­sion. Zu recht.

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The Square sei ein zu reich­hal­tiger Film, als ihn in einer Festival-Rezension auszu­schöpfen, hatte ich bereits vor einer Woche geschrieben. Das geht auch jetzt nicht, viel­leicht in den nächsten Tagen. Auch Frédérics Kritik verdient es, dass ausführ­lich auf die einzelnen Punkte einge­gangen wird.

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Bis auf Coppola hat die Jury Kinowerke ausge­zeichnet, die ihrem Publikum ein Portrait unserer Welt präsen­tieren, in dem diese vor allem als Panop­tikum aus Amoral und Dummheit erscheint: Auch in den neuen Filmen der Schottin Lynne Ramsey, vom Griechen Yorgos Lanthimos, erst recht im russi­schen Loveless, sind Glück und Hoffnung gestorben. Derar­tiges Misan­thro­pie­kino läuft in Gefahr, die eigene Kritik zu verraten, weil es keine Auswege zeigt, und sich darin auch noch gefällt.
Das Kino reflek­tiert immer die Lage der Gegenwart, und das bedeutet, blickt man auf die vergan­genen zwei Wochen: Die Richtung ist unklar. Utopien, Hoff­nungs­schimmer, aber auch Trost und Revo­lu­tion fehlen im Gegen­warts­kino, das vor allem Stagna­tion zeigt, Warten auf den großen Knall.
Wie immer in schweren Zeiten, steigt die Konjunktur des Humors. Dieser Humor ist eher bissig als gelassen, eher schwarz als heiter. Viele Filme zeigten die Welt zugleich mit Kinder­augen, und wer hierin Regres­sion erkennt, liegt nicht falsch. Ande­rer­seits fielen die fürs smarte Telefon gemachten Kinder­filme von Netflix durch – und das europäi­sche Kino hat in Cannes zwar nicht den Krieg gegen die bedroh­li­chen Strea­ming­dienste gewonnen, aber einen Etap­pen­sieg erzielt.
Cannes ist viel mehr als das Spektakel, das es an der Ober­fläche bietet. Es ist ein präzises Barometer des Weltkinos. Schon deswegen war das dies­jäh­rige Cannes keines­wegs »einer der schlech­testen Cannes-Jahrgänge aller Zeiten«, wie manche Cannes-Kröten jetzt zum Abschluss unken. Sondern es war eine präzise Infor­ma­tion über den Stand der Dinge. Über Unsi­cher­heit und Erschöp­fung unserer Welt, über die Notwen­dig­keit, uns neu zu erfinden.