70. Filmfestspiele Cannes 2017
Notwendige Erschütterung |
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Die Kunst-Bestie ist los: Ruben Östlund gewinnt die Goldene Palme mit The Square | ||
(Foto: Alamode Film) |
The Winner takes it all – vielleicht war es mein Unterbewusstsein, das mir diese Überschrift gestern eingegeben hat. Ausgerechnet ABBA, eine schwedische Band...
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Es war keine ganz große Überraschung, aber doch ein unerwarteter Preisträger: Der 43-jährige Schwede Ruben Östlund, gewann für seinen Film The Square am Sonntagabend zum Abschluss der 70. Filmfestspiele von Cannes die Goldenen Palme und damit die wichtigste Auszeichnung der Welt für künstlerisch ambitioniertes Autorenkino. Östlunds war einer der stärksten im diesjährigen,
keineswegs schwachen, aber doch eher mittelprächtigen Wettbewerb ohne klare Favoriten.
Der Rentnerclub des Screen-Daily-»Jury Grid«, dessen Favorit schon systematisch nicht die Goldene Palme gewinnt, hatte natürlich dem russischen Poser Andreij Zvyagintsev, der den Wettbewerb eröffnete, gleich am ersten Tag soviel
Punkte gegeben, dass er bis zum Ende vorn lag. Knapp vor Lynne Ramseys You Were Never Really Here, der an zweiter Stelle folgte. Beide Filme gewannen mit dem »Prix de Jury« bzw. Drehbuchpreis (Ramsey ex aequo mit Lanthimos), wichtige Nebenpreise, was in Ordnung ging, da sie den Charakter des Wettbewerbs repräsentierten.
Einige hatten Haneke auf der Rechnung, viele Kollegen mochten auch Sofia
Coppolas The Beguiled, eine sehr zeitgemäße Geschichte aus dem US-Bürgerkrieg, für den Coppola als allererste Frau seit 1961 den Preis für die beste Regie gewann – sehr zu Recht.
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Die Auszeichnung für Östlund war ein verdienter Preis, wenn auch keineswegs ein unumstrittener. Der Film über den ich in Folge 6 dieser Notizen ausführlich und positiv geschrieben habe, und für einen der ästhetisch stärksten im Wettbewerb halte, hat nicht nur Fans, sondern auch vehemente Gegner. Für die Freunde von critic.de etwa ist es eine der schlechtestmöglichen
Entscheidungen. Sie finden den Film didaktisch und politisch reaktionär – was ich wiederum für Unsinn halte, und was, selbst wenn es so wäre, die Qualitäten des Films unterschlägt. Wer Lust hat, kann in den nächsten Tagen im traditionellen Cannes-Pdcast von artechock und critic.de eine ausführliche Debatte zu dem Film finden.
Auch Engin aus Istanbul, der Östlunds Sachen bisher mochte, findet den Film sehr schlecht. Andere dagegen halten es für doch richtige Entscheidung. The Square erzählt die Geschichte eines lächerlichen Mannes, eines Kunstkurators in Stockholm, und nutzt das Leben dieser Hauptfigur zu einer Abrechnung mit unserer Gegenwart, einer schwarzen und bissigen, manchmal auch süffisanten Gesellschaftskomödie, die die politische Korrektheit und die Moralisierung gesellschaftlicher Verhältnisse aufs Korn nimmt – und damit
nicht nur Schweden meint, sondern unser aller Leben in den Wohlstandsoasen des Westens.
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Ästhetisch hat The Square zusammen mit The Beguiled eindeutig der beste Film gewonnen. Zugegeben: Man kann auch Lynn Ramsey aufgemotztem Arthouse-Thriller im 90er-Jahre Stil jedenfalls in puncto Regie die Könnerschaft nicht absprechen. Da greifen dann auch Geschmacksfragen, und ich hätte einen
Haupt-Preis für Ramsey in jedem Fall das falsche Signal empfunden.
Östlund weiß, was er tut, und er hat Humor – das ist im Kunstkino selten, sieht man mal von der Niedlichkeits- und Schmunzelästhetik der Generation Kaurismäki-Jarmusch-Allen ab, die inzwischen völlig aus der Zeit gefallen ist, von den sympathischen, filmisch extrem gut gemachten, aber alles in allem doch sehr banalen Laber-Filmen Hong Sang-soos.
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»Ein aggressiver Film« schreibt Frédéric Jaeger auf critic.de, und macht sich Sorgen.
Ich finde: Aggression gehört dazu. Unser Kino ist zur Zeit nicht aggressiv genug, sondern glatt und selbstgefällig, geölt und geschmeidig, es provoziert zu gar nichts – und wenn Östlund den Filmkunstbetrieb aus seiner Selbstgefälligkeit, seiner Eitelkeit und
seinen eingefahren Bahnen reißt, hat er schon viel erreicht.
Zu diesem Filmkunstbetrieb gehören die Filmkunstkritiker. Ich bin wahrscheinlich auch einer, aber ich rechne mich doch nicht ganz zu jenen, die jedes Jahr in Cannes und anderen Orten im Kritik-Autopiloten die immergleichen Ästhetiken und Filmemacher hochjubeln, bei denen man schon vor den Premieren weiß: Hong Sang-soo und Apichatpong Weerasethakul werden Lobeshymnen ernten, die Dardennes und Kaurismäki auch,
Lav Diaz und ein paar amerikanische Regie-Hipster, Haneke dagegen muss man in der Regel schlecht finden, usf. The Square spaltet, und das ist gut. Denn ich verbinde die Hoffnung mit diesem Film, der sich nicht einfach übersehen lässt, dass sich die Leute an ihm stoßen. Es ist ja auch nicht so, dass sich nichts gegen den Film sagen ließe. Tatsächlich finde ich große Teile seines Humors
billig, unnötig unterkomplex. Gerade die Scherze über Gegenwartskunst provozieren Applaus von der ganz falschen Seite. Östlund beschränkt sich auch selbst, weil er seinem Kino keine Hoffnung gönnt, keine Utopie, weil er sich auf Kritik beshränkt und sie dadurch folgenlos bleibt.
Für mich gehört der Film in die Gruppe der Cannes-Filme, die ich miserabilistisch und anti-humanistisch finde. Er ist unter diesen Filmen aber der humorvollste, offenste, am wenigsten
menschenverachtende.
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Frédéric findet den Film keinen guten Gegenstand, um ein Zeichen für das Kino als Diskursmotor zu setzen, und schlägt stattdessen die Filme von Sergei Loznitsa oder Lynne Ramsay vor, weil sie »nicht weniger umstritten« seien. Da irrt critic.de. Loznitsa ist bis auf wenige Ausnahmen (wie überraschenderweise bei Spiegel-Online) auf einhelligste Ablehnung und geradezu wütende, aggressive Reaktionen gestoßen. Auch ich finde den Film eine längere Auseinandersetzung nicht wert. Und
Lynn Ramsey finden die Amerikaner toll, viele andere eher schwach. Dieser Film wird schon durch seine Brutalität wieder die üblichen Debatten über Gewaltästhetik triggern, er handelt nicht von der Welt des europäischen linksliberalen Bürgertums. Diese aber ist unsere Welt und nur ein Film, der wie Östlunds direkt auf sie und ihre Lebenslügen zielt, wird ihr die dringend notwendige Erschütterung bescheren.
Frédéric gefällt nicht, dass Ruben Östlund übertriebene Toleranz als
übertrieben kritisiert, und Konzeptkunst der Lächerlichkeit preisgibt. Östlunds Held ist eitel – und man kann argumentieren, dass der Vorwurf der Eitelkeit auf den Regisseur zurückfällt.
Aber Östlund ist eben kein Filmemacher, der sich über seinen Gegenstand erhebt. Kein Russe, der sich darin suhlt, dass er alle Menschen verachtet. Östlunds Welt ist weitgehend die, die er hier kritisiert.
Was die Toleranz angeht, muss man vielleicht noch einmal daran erinnern, dass
Östlund 2011 Opfer einer scharfen Kampagne gegen seinen vorletzten Film The Play wurde. Es ging darin um jugendliche Verbrecher, und weil Östlund mit schwarzen Laiendarstellern gearbeitet hatte, wurde ihm Rassismus vorgeworfen. Östlund kennt also, wovon er erzählt. Er ist keineswegs neutraler Beobachter.
Aber nicht jeder, dem »political correctness« auf die Nerven geht, und der das sagt, obwohl auch Rechtsextremisten so etwas sagen, ist deswegen gleich
selbst ein Reaktionär. Es gibt gute Gründe Gründe für Misstrauen – einem zunehmend denkfaulen,
in vieler Hinsicht medial gleichgeschalteten Publikum gegenüber. Aber auch Verhältnissen gegenüber, die von Angst bestimmt sind: Der Angst vor Schmutz, vor Unreinheit, der Angst davor, etwas falsch zu machen. Darum reinigen wir unsere Sprache, unser Essen, unseren Körper, darum sind Gesundheit und körperliche Makellosigkeit und gerechte Sprache und höfliche Manieren die neuen
Götter und politische Korrektheit die neue Religion. Gegen all das richtet sich Östlunds Misstrauen und seine Aggression. Zu recht.
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The Square sei ein zu reichhaltiger Film, als ihn in einer Festival-Rezension auszuschöpfen, hatte ich bereits vor einer Woche geschrieben. Das geht auch jetzt nicht, vielleicht in den nächsten Tagen. Auch Frédérics Kritik verdient es, dass ausführlich auf die einzelnen Punkte eingegangen wird.
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Bis auf Coppola hat die Jury Kinowerke ausgezeichnet, die ihrem Publikum ein Portrait unserer Welt präsentieren, in dem diese vor allem als Panoptikum aus Amoral und Dummheit erscheint: Auch in den neuen Filmen der Schottin Lynne Ramsey, vom Griechen Yorgos Lanthimos, erst recht im russischen Loveless, sind Glück und Hoffnung gestorben. Derartiges Misanthropiekino läuft in Gefahr, die
eigene Kritik zu verraten, weil es keine Auswege zeigt, und sich darin auch noch gefällt.
Das Kino reflektiert immer die Lage der Gegenwart, und das bedeutet, blickt man auf die vergangenen zwei Wochen: Die Richtung ist unklar. Utopien, Hoffnungsschimmer, aber auch Trost und Revolution fehlen im Gegenwartskino, das vor allem Stagnation zeigt, Warten auf den großen Knall.
Wie immer in schweren Zeiten, steigt die Konjunktur des Humors. Dieser Humor ist eher bissig als gelassen,
eher schwarz als heiter. Viele Filme zeigten die Welt zugleich mit Kinderaugen, und wer hierin Regression erkennt, liegt nicht falsch. Andererseits fielen die fürs smarte Telefon gemachten Kinderfilme von Netflix durch – und das europäische Kino hat in Cannes zwar nicht den Krieg gegen die bedrohlichen Streamingdienste gewonnen, aber einen Etappensieg erzielt.
Cannes ist viel mehr als das Spektakel, das es an der Oberfläche bietet. Es ist ein präzises Barometer des
Weltkinos. Schon deswegen war das diesjährige Cannes keineswegs »einer der schlechtesten Cannes-Jahrgänge aller Zeiten«, wie manche Cannes-Kröten jetzt zum Abschluss unken. Sondern es war eine präzise Information über den Stand der Dinge. Über Unsicherheit und Erschöpfung unserer Welt, über die Notwendigkeit, uns neu zu erfinden.