68. Berlinale 2018
Wirklichkeit schlägt Phantasie |
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Filmisch armseliger Kunst- und Seelenporno, ein Film als Freakshow und Kuriositätenkabinett: der Berlinale-Gewinner Touch Me Not. | ||
(Foto: Alamode Film – Fabien Arséguel e.K. / Die FilmAgentinnen GmbH i.G.) |
Da blieb sogar der sonst so liebedienerischen Berliner Lokalpresse die Spucke weg: Die Rumänin Alina Pintilie gewinnt mit Touch Me Not bei der Berlinale den Goldenen Bären.
Dieser Preis für eine Doku-Fiction, die in uninspirierten, weißgleißenden, cleanen Bildern eine Sexual-Therapie mit Schauspielern und Laien nachstellt, ist keine Überraschung, und keine
Provokation – er ist ein Offenbarungseid für die Jury und das Festival.
Die Berlinale-Wettbewerbsjury unter Tom Tykwer ist damit auf die plumpe Provokation einer bourgeoisen Künstlerin hereingefallen, die 90 Minuten lang mit ihren scheinbaren Tabubrüchen hausieren geht, und sich im Quälen des Publikums gefällt, im Ausstellen defekter Körper und ruheloser Psychen.
Der Goldene Bär, den einst Meisterwerke bekamen wie Wilde Erdbeeren von Bergman, La notte von Antonioni, oder Die Sehnsucht der Veronika Voss von Fassbinder, geht also diesmal an einen filmisch armseligen Kunst- und Seelenporno, einen Film als Freakshow und Kuriositätenkabinett, in dem ein Schwerbehinderter über sein glückliches Sexleben berichtet, eine ältere Frau halb nackt mit einem Transvestiten über ihre Unfähigkeit zu körperlicher Berührung parliert, und wir in einem Darkroom quälenden (und trotzdem recht gesitteten) Sado-Maso- und Fesselspielchen beiwohnen.
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Schaumgebremste, moralingetränkte Provokation für brave Bürgerkinder, die sich einen kleinen Kitzel gönnen möchten, aber für das Wohlgefühl dann bitte auch bestraft werden möchten. Früher ging man zur Beichte, heute ins Berlinale-Kino. Zehn »Ave Maria« bitte!
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Juryentscheidungen enttäuschen oft. Sie machen weder das breite Publikum, mit seiner Freude an Stars und Mainstream glücklich, noch die Cinephilen mit ihrem sehr geschulten, daher kaum mehrheitsfähigen Geschmack.
Preise sind – oft faule – Kompromisse.
Aber was die Jury der 68. Berlinale am Samstagabend – man muss schon sagen: – »verbrochen« hat, spottet jeder Beschreibung: Bis auf den Preis an den polnischen Film Twarz gingen sämtliche Filme, die sich für überdurchschnittliche Bilder interessieren, die wirklich Kino sein wollen, und nicht nur Bebilderung einer Story, leer aus.
Und die »Beste Regie« für einen
Puppen-Animationsfilm – die hat Wes Anderson vermutlich vor allem für seine Schauspielführung verdient.
In einem Jahr starker deutscher Filme bekam weder Christian Petzolds gediegene, sichere Anna-Seghers-Verfilmung Transit, noch Philip Grönings riskanter, mutiger, in vieler Hinsicht herausfordernder Geschwister-Gesellschafts-Thriller Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot einen der vielen Preise.
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Stattdessen Inhaltismus pur. Symbolpolitik, die folgenlos bleibt und keine Zuschauer finden wird, sich aber gut macht.
Denn man kann die Preise vom Samstag auch so erzählen: Hauptpreis für eine Doku über Sex und Behinderung, zweiter Preis für einen Film über einen Mann, der nach einem Unfall ein neues Gesicht erhält, eine Art polnischer Frankenstein, und der dritte Preis für ein Kammerspiel über ein altes lesbisches Paar aus Paraguay, der fast nichts mit Paraguay zu tun hat.
Sind Darstellungen von Außenseitern das wahre Kriterium? Oder dass drei der vier Hauptpreise an Frauen gingen?
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Man wüsste wirklich zu gern, was Jurypräsident Tom Tykwer im stillen Kämmerlein über die Auswahl und die Qualität des Wettbewerbs denkt. »Wilde, sperrige Filme« vermisse er in Deutschland.
Hat er sie auf der Berlinale gefunden? Kaum zu glauben.
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Irgendwie ist das alles aber auch egal – denn im Gegensatz zu den Goldenen Palmen und Raubtieren anderer Festivals hat man den knuffigen Berlinale-Bär schnell vergessen. Oder wer erinnert sich noch an Preisträger vergangener Jahre, wie Tuyas Hochzeit und Eine Perle Ewigkeit und Körper und Seele. Oder an ihre Macher?
Schade für ein Festival, das einmal zu den besten der Welt gehörte – aber heute nur noch als Filmmesse und Markt wirklich wichtig ist.
Ums Publikum geht es der Berlinale jedenfalls entgegen ihrer Marketingbehauptung auch nicht: Denn würde die Berlinale das Publikum schätzen, hätte sie Respekt vor jedem einzelnen Zuschauer – der sich dann in sorgfältiger Programmauswahl beweisen würde, in Vermittlungsangeboten und im Dialog mit Besuchern.
So aber wird einfach
ein zäher Brei von viel zu vielen Filmen in den Konsumententrog gegossen – auf das die Masse verkaufter Tickets immer weiter steigen möge.
Das ist respektlos.
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Schon zum zweiten Mal in drei Jahren gewinnt der einzige Dokumentarfilm des Berlinale-Wettbewerbs gegen knapp 20 Spielfilme – Wirklichkeit schlägt Phantasie. Was soll so ein Signal auf einem Kunstfestival?
Doch ist die Berlinale zur Zeit überhaupt noch ein Kunstfestival, oder eher eine Themen-Abhak-Veranstaltung, die sich in der vermeintlichen politischen Bedeutung ihrer Sujets gefällt – Me-Too, Flüchtlinge, Kriege und Krisen, und jetzt eben auch sexuelle
Störungen –, sich aber für Formales, für Ästhetiken, für das Entdecken neuer Film-Stile kaum interessiert.
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Zugleich erzählt uns dies wie der Preis vom Samstag nicht nur etwas über den Zustand der Berlinale, sondern leider auch über den des Kinos überhaupt.
Das Kino ist bedroht. Es befindet sich zunehmend im Zangengriff zwischen hartem Kommerz, einer Konsumgesellschaft, in der auch Filme nur Mittel dafür sind, um sich zwei Stunden aus der Realität wegzuballern, und dem Versuch, Kunst zum Standortvorteil zurechtzustutzen.
Festivals müssten solchen Tendenzen Widerstand entgegensetzen. Sie müssten das Kino als solches feiern und pflegen, und gegen jede Art von Indienstnahme schützen. Gerade auch gegen die durch die Gutgemeinten.
Kunst ist zu allererst zwecklos. Weil er die Verzweckung und Vernutzung der Kunst, ihre Domestizierung betreibt, ist Kapitalismus im Innersten zutiefst kunstfeindlich.
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Lassen wir uns die Namen noch einmal vor dem inneren Auge aufscheinen: Bergman, Antonioni, Fassbinder. Sie waren nur drei Große unter vielen Großen, deren Filme in den 68 Jahren, vor allem in den ersten 50 des Festivals vor seiner Kaperung durch die Interessen der Förderpolitik, auf der Berlinale liefen.
Es wird von interessierter Seite heute gern behauptet, es gäbe diese Art von Kino nicht mehr. Das ist eine Lüge. Es gibt das Kino, es gibt die Filme, es gibt immer neue Tendenzen eines wilden, sperrigen Kino. Ja, wenn es das nicht gibt, liegt das auch an den Förderern – das sage ich jetzt mal dazu – denn die entscheiden,
Aber das große und – ja!, auch schöne – Kino gibt es, aber es gibt es zur Zeit nicht in Berlin.
Goldener Bär für den besten Film: Touch Me Not von Adina Pintilie
Großer Preis der Jury – Silberner Bär: Twarz von Magorzata Szumowska
Alfred Bauer Preis für neue Perspektiven – Silberner Bär: Las herederas von Marcelo Martinessi
Beste Regie – Silberner Bär: Wes Anderson für Isle of Dogs – Ataris Reise
Beste Darstellerin – Silberner Bär: Ana Brun in Las herederas von Marcelo Martinessi
Bester Darsteller – Silberner Bär: Anthony Bajon in La prière von Cédric Kahn
Bestes Drehbuch – Silberner Bär: Manuel Alcalá und Alonso Ruizpalacios für Museo von Alonso Ruizpalacios
Silberner Bär für herausragende künstlerische Leistungen: Elena Okopnaya für Kostüme und Produktionsdesign in Dovlatov von Alexey German Jr.
Preis für den besten Dokumentarfilm: Ruth Beckermann für Waldheims Walzer
Mitglieder der internationalen Jury waren: Tom Tykwer (Präsident), Cécile de France, Chema Prado, Adele Romanski, Ryichi Sakamoto und Stephanie Zacharek