Kinos in München – Gabriel Filmtheater
Eine Rarität von Kino |
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Der Eingangsbereich im Gabriel öffnet sich auf ein großes, schwungvolles Foyer | ||
(Foto: Dunja Bialas) |
Mit freundlicher Unterstützung durch das Kulturreferat München
Filme werden fürs Kino gemacht, hieß es mal in einer Kampagne. Weil dies im Zeitalter von DVD und erhöhten Kinomieten mehr denn je keine Selbstverständlichkeit mehr ist, stellen wir hier besondere Kinos in München vor, die unbedingt einen Besuch wert sind.
Von Dunja Bialas
Hans-Walter Büche, »der Papa«, wie ihn Kinoleiterin Alexandra Gmell nur nennt, sitzt hinter der Kasse und macht Büro. Mit seiner Schirmkappe gehört der 75-Jährige fast schon zum Inventar des Kinos: mit 23 Jahren übernahm er die Kinoleitung seiner Eltern. Heute aber lässt er lieber seine Tochter erzählen, wie sich der Kinobetrieb unweit des Hauptbahnhofs so anfühlt.
Wir treffen uns im großräumigen Kino-Foyer, das tief ins Gebäudeinnere hineinreicht. Von hier aus kann man auf die belebte, jetzt sonnendurchflutete Dachauer Straße sehen, was für Alexandra Gmell wichtig ist. Sie ist froh, dass das Gabriel wie alle über hundertjährigen Kinos ebenerdig liegt, ganz ohne Tageslicht könnte sie nicht auskommen, und so freut sie sich über das schöne Wetter. Das ist fast schon untypisch für jemanden, der ein Kino hat: Sonnenbrille und Biergartenbesuche sind zwei feste Größen des Münchner Lebensgefühls, die es den Kinobetreibern schwer machen.
Das Kino liegt auf der schöneren, nördlichen Seite des Hauptbahnhofs. Hier befindet sich das Viertel seit einigen Jahren im Umbruch, ohne dass man schon von Gentrifizierung sprechen könnte. Für das Gabriel macht sich das auf positive Weise bemerkbar. Die Gegend verliert ein wenig von ihrer Großstadtschmuddeligkeit und wird attraktiver für ein jüngeres Publikum. Einen Steinwurf vom Gabriel entfernt befinden sich das angesagte Café Kosmos und das neue »Bufet« mit fränkischen Brüh- und Bratwürsten und Maxlrainer-Bier. Dort findet der Stammtisch der Filmvorführer statt. Aber auch im Kino wird Maxlrainer ausgeschenkt – und zwar vom Fass, die Gläser dürfen mit in den Kinosaal genommen werden. Das läuft gut. Hinter der Theke reihen sich Steinkrüge, Geschenke der Brauerei, weil eine gewisse Jahreshektoliterzahl gezapft wurde.
Seit 1994 präsentiert sich das Gabriel so, wie wir es heute kennen: ein großer Saal mit 208 Plätzen im Erdgeschoss, ein kleiner mit 63 Plätzen im Obergeschoss. Der große Saal erfüllt den Wunsch eines Cineasten nach einem »unsichtbaren« Kino, wie es auch das Filmmuseum München ist. Die Wände sind tiefschwarz, die Sitze nachtblau. Bemerkenswert ist der bodenlange Samtvorhang, der mit kleinen Nieten beschwert ist, damit er schön fällt. Wenn sich der Vorhang zur Vorstellung öffnet, glitzern die Beschläge im abdimmenden Licht. Ein erhebender Moment. Der kleine Saal, mit »goldenen« Polstersesseln und ebenfalls tiefschwarzen Wänden, ist ein echter Wohlfühlsaal. Man sitzt nah an der großen Leinwand, und, wenn man die erste Reihe vermeiden kann, nie zu nah. Es ist ein intimes Kinoerlebnis, das man hier hat, dicht am Geschehen dran.
Das Kino kann auf eine 111-jährige Geschichte zurückblicken, die mit vielen Schlagzeilen aufwartet, und die deutlich macht, dass man sich auch immer wieder neu erfinden kann – und muss. Das Gabriel ist das erste Lichtspielttheater Münchens und weltweit das älteste Kino, das durchgehend bespielt wurde. Kinopionier Carl Gabriel schloss am 21. April 1907 auf, 1913 eröffnete er außerdem das Sendlinger-Tor-Kino. Nach seinem Tod 1931 ging das Kino an eine Erbengemeinschaft über. Da sie sich nicht einigen konnte, wurde 1936 verkauft, und zwar an Ludwig und Franziska Büche, die bereits ein Lichtspieltheater in Ingolstadt betrieben. Kurze Zeit später übernahm der Sohn. Dann kam auch schon der Zweite Weltkrieg. Als Hans Büche eingezogen wurde, machte Ehefrau Beate allein weiter. Wenn die Bombenangriffe kamen, brachte sie die Projektoren, das Herzstück des Kinos, in Sicherheit. Als der Krieg vorbei war, wurde das Gabriel als erstes Kino der Stadt wiedereröffnet, es war der 30. Juli 1945. 1966 übernahm Hans-Walter Büche in dritter Generation, 1999 stieg seine Tochter Alexandra in den Familienbetrieb ein. Die Chronik der Familie Büche, die das Kino durch diese und andere schwierige Zeiten navigierte, hängt für jedermann sichtbar an der Wand im Foyer.
Fotos geben außerdem Auskunft vom baulichen Wandel. Das Kino lag ursprünglich quer unter dem Haus, dort, wo sich jetzt das Foyer befindet. Der Saal war langgezogen, es gab Holzsessel, alles war viel gedrängter. Die Sitzreihen stiegen kaum an, Sitz- und Sehkomfort spielten in der Frühzeit des Kinos kaum eine Rolle. Hinten im Saal wurde es etwas luxuriöser, hier gab es zwei abgetrennte, leicht erhöhte Logen, in denen man saß wie in der Oper.
Eine verschwundene Zeit.
Nach dem Krieg wurde es anders. Die Kinos boomten, man lieferte sich ein Wettrennen um die besten Filme, die nur die größten Säle abbekamen, ständig öffneten neue Häuser. Über 350 Plätze hatte das Gabriel damals, was aber nicht ausreichte. Um konkurrenzfähig zu bleiben, musste umgebaut werden. 1956, im letzten Boomjahr der Kinos, als München die Rekordzahl von 125 Lichtspielhäusern schrieb (das kleinste davon hatte um die 400 Plätze), war es dann soweit. Es kam ein Anbau hinzu, in den der Kinosaal wanderte, ein Balkon wurde eingezogen, die Plätze wuchsen auf über 550 an. Auch setzte man jetzt auf Eleganz: Das Foyer wurde großzügig mit italienischen Marmorbruchsteinen und einer abgehängten, geschwungenen Decke ausgestattet. Das ist bis heute so geblieben, weshalb das Kino auch nach 50er-Jahre aussieht und viel jünger wirkt, als es ist. Im Jahr des Umbaus eröffnete auch die Theatiner Filmkunst (als Film-Cabinett), ein Jahr später kam der nahe gelegene Mathäser-Filmpalast mit tausend Plätzen hinzu. Und dann war der Boom auch schon wieder vorbei, das aufkommende Fernsehen brachte das erste große Kinosterben. Das Gabriel überlebte. Aber es musste sich etwas einfallen lassen.
Nach dem Krieg hatte das Kino hauptsächlich auf deutsche Filme gesetzt, es war die Konjunktur des Heimatfilms, das Filmgenre der Wirtschaftswunderjahre. Das ging bis in die sechziger Jahre gut, dann hatte man das Genre zunehmend satt, billig hergestellte Western und Krimis drängten auf die Leinwand, die aber nicht gut liefen. »Bummbumm-Filme« war die abschätzige Bezeichnung. Und dann kam ein neues Phänomen auf: der Erotikfilm.
»Es ging easy los. Das waren erst mal diese Helga-Filmchen und die Lederhosen-Filme und so Zeug. Das war einfach auch ein gutes Geschäft«, erzählt Alexandra Gmell. »Der Papa war da nicht wirklich affin, aber Job ist Job, und Kohle ist Kohle.« Der Erotikfilm war irgendwie auch ein Münchner Genre, mit Produktionsfirmen in der Stadt, dazu kamen freizügige schwedische Filme, später auch die Kolle-Aufklärungsrollen. Alles lief plötzlich wieder gut. Mit dem neuen Erotik-Programm war das Gabriel Vorreiterkino, andere zogen nach.
Begünstigt wurde die Entwicklung durch die Lage. Im Bahnhof befand sich das Aki-Kino, das in den 1950er Jahren noch ein »Aktualitätenkino« gewesen war, mit durchgehendem Einlass. Auch hier setzte man jetzt auf die Erotikfilme. Dabei blieb alles recht brav, unzüchtiger wurde es erst später. Es waren wirklich nette Herren, auch ein paar Damen, die das Kino damals besuchten, berichtet Alexander Gmell und gibt wieder, was »Papa« Büche erzählt. An der Kasse saßen unbehelligt die Kassiererinnen, die teilweise heute noch im Gabriel arbeiten. Anekdoten gibt’s natürlich auch aus der Zeit, auch pikante: Wie die von der Mitarbeiterin, die von einem Pfarrer getraut wurde, der ihr aus gutem Grund kein Unbekannter war…
Heute hätte eine Filmnacht mit Erotikstreifen von damals das Zeug zum Kult. In Nürnberg besinnt man sich seit etlichen Jahren im »Hofbauer-Kommando« genau auf diese Sexfilme, in München huldigt das Fanzine »SigiGötz-Entertainment« seit über fünfzehn Jahren der Ära der Lisa-Filme und ihrer Erben. Prinzipiell bestünde die Möglichkeit, die Erotik-Zeit im Gabriel wieder aufleben zu lassen: Alexandra Gmell berichtet, dass im geräumigen Vorführraum ein voll funktionsfähiger 35mm-Tellerprojektor steht und der Keller voller Filmkopien ist. Doch so wirklich Lust, in diese Zeit zurückzutauchen, hat sie nicht.
Ab 1976 hieß es dann im Gabriel: »Nur für Erwachsene.« Das Kino hatte sich jetzt vom Erotik- zum Porno-Abspielhaus gewandelt. Das ging fast zwanzig Jahre. Erst 1994 wurde das Haus wieder zu einem »normalen« Kino. Um die Zäsur sichtbar zu machen, wurde ein letztes Mal umgebaut. Keinem anderen Etablissement der Stadt gelang die Rückverwandlung in ein Kino mit normalem Spielbetrieb.
Wegen der Erotik-Zeit wuchs Alexandra Gmell nicht im Kino auf, anders als ihre Kollegen Thomas Wilhelm (Rex, Rottmann, Cincinnati) oder Elisabeth Kuonen-Reich (Rio Filmpalast), die in den Familienbetrieb regelrecht hineinwuchsen. Erst mit sechzehn, siebzehn Jahren begann sie, im Kino mitzuhelfen. Dabei war es keinesfalls klar, dass sie ebenfalls ins Kinogewerbe einsteigen würde. »Jetzt machst du erst einmal eine gescheite Ausbildung«, habe der Papa gesagt. Alexandra Gmell ließ sich zur Sozialversicherungsfachangestellten schulen, hat dann auch ein paar Jahre im Großraumbüro einer Versicherung absolviert. Hier hat sie die Angst der Angestellten vor der Hierarchie kennengelernt und die immer gleiche Büroluft geschnuppert. Sie ist zurück ins Kino. »Papa, jetzt bin ich mal wieder bei dir und such mir was anderes, ich will mir schon was anderes suchen.« Drei Wochen später ist er in den Urlaub gefahren und hat der Tochter das Kino in Eigenregie überlassen. »Seitdem hock' ich hier drin.« Seit 1999 betreiben Vater und Tochter gemeinsam das Kino. Und: »Es taugt.«
Wie aber gelang das Bravourstück, vom Porno zum Popcorn zurückzukehren?
»Wir mussten uns erst einmal ausprobieren«, erzählt Alexandra Gmell. Was für ein Publikum das Gabriel anziehen könnte, war zu Beginn der Popcorn-Ära noch völlig offen.
Der erste, gut laufende Film war Forrest Gump mit Tom Hanks. Der nächste Film lief dann schon wieder nicht mehr so gut. »Bis wir wieder als normales
Kino da waren, hat es fast drei Jahre gedauert.« Anders gesagt: Bis zur Schließung des Mathäsers 1997. Es lief dann auch so lange gut, bis der Multiplex 2003 im großen Stil wiedereröffnete. Das Mathäser spürt man so stark? »Absolut«, bekräftigt Alexandra Gmell. Das große Angebot sei das Problem. Wenn es sich um sechs, sieben Säle handeln würde, wäre es noch verschmerzbar. Aber mit vierzehn Sälen zieht das Mathäser das breite Publikum ab, es ist das besucher- und umsatzstärkste Kino
Deutschlands. »Das spüren nicht nur wir. Jedes einzelne von den kleineren Kinos spürt das. Und auch das Cinemaxx.« Hans-Walter Büche sagt: Es werden nicht mehr Zuschauer, es verteilt sich nur anders.
Das Gabriel programmmäßig zu erfassen, ist nicht einfach. Es ist nicht ganz »Arthouse«, aber schon ein bisschen. Es laufen auch immer wieder Blockbuster, aber nicht systematisch. Demographisch gesprochen ist das Publikum Ü30. Und es kommen eher Männer. Auch Frauen natürlich, aber die romantischen »Weichspülerfilme«, wie Gmell die Filme für ein überwiegend weibliches Publikum nennt, sind schwieriger einsetzbar. »Das ist Füllmaterial.«
Kinomachen ist ein fortwährender Prozess. Immer muss man sich auch an neue Bedingungen anpassen, wie jetzt, wo sich die Nachbarschaft ändert. Deshalb gibt es seit einiger Zeit auch viele Filme in OmU zu sehen, in der Originalfassung mit Untertiteln. Eine Gehörlosen-Community hat sich das Gabriel als Kino ausgesucht, wo die angesagten Filme, nicht nur Arthouse wie anderswo, mit deutschen Untertiteln zu sehen sind. Audiodeskription brauche es dabei nicht, meint Alexandra
Gmell, die Dialogzeilen würden ihrem speziellen Publikum reichen, damit sie die Filme genießen.
Selbstverständlich ist eine neue Programmstrukturierung mit unterschiedlichen Fassungen nicht, es braucht dazu die Zustimmung der Verleiher, die bisweilen das Kino auch vor die Gretchenfrage stellen: Entweder OmU oder deutsche Synchro, aber bitte nicht beides! Dies war mit Avengers: Infinity War der Fall, weshalb der Film jetzt ausschließlich in OmU zu sehen sein wird.
Überhaupt: Das Gabriel ist weit entfernt vom Popcorn-Kino, auch wenn es hier natürlich Popcorn gibt. Erwähnenswert ist, dass nur 2D gespielt wird. Zwar gibt es die 3D-Möglichkeit, aber das System ist wegen der Shutterbrillen teuer und aufwendig, Alexandra Gmell sieht es allenfalls für Pressevorführungen einsetzbar, die tagsüber im Gabriel abgehalten werden.
Außerdem ist das Gabriel unfassbar preisgünstig. »Das wollen wir beibehalten, das ist uns sehr wichtig.« Den neuen Avengers kann man so für acht Euro sehen, wegen der Überlänge kostet es ein Fuchzgerl mehr als sonst. Kinotage sind Montag und Dienstag, da kostet der Eintritt nur 6,50. Die günstigen Eintrittspreise gibt es für alle. Das betont Alexandra Gmell: Nicht nur die Studenten oder Senioren, auch die Mama von zwei Kindern soll günstig ins Kino gehen können!
Eine Rarität in München. Dazu gehört auch, dass das Gabriel ausgewählten Filmen eine gewisse Nachspielzeit gönnt, auch mal bis zu fünf Wochen. »Filme bekommen noch einmal Auftrieb, wenn sie woanders abgesetzt sind«, ist das Geheimnis. »Sie laufen oft nur zwei Wochen, man hat noch gar nicht auf dem Schirm, dass was angelaufen ist, schon ist es wieder weg.« Deshalb werden die guten Filme im Hause Gabriel gepflegt. Hier fühlt man sich nicht nur wegen der resoluten und sympathischen Kinobetreiberin gut aufgehoben. Man spürt auch die Sicherheit der Kinomacherin in vierter Generation, die weiß: »Wenn uns das Haus nicht gehören würde, wären wir nicht mehr da.« Die Mieten sind in München zu hoch, um ein nachsichtiges Wirtschaften zu ermöglichen. Dies ist beim Gabriel anders, und das Kino gibt es an seine Zuschauer weiter. Durch günstigen Eintritt, durch ein breites Filmspektrum, für gehobenen Anspruch und für gute Filme, die man sehen kann, ohne ein Kino-Sprinter zu sein.
Literatur:
– »Neue Paradiese für Kinosüchtige – Münchner Kinogeschichte 1945 bis 2007«, hg. von Monika Lerch-Stumpf mit HFF München, Dölling und Galitz Verlag, 368 Seiten, 42 Euro.