21.09.2018
66. Festival de Cine de San Sebastián 2018

Ein Flug­zeug­träger in Spanien

El Amor Menos Pensado
Spanischsprachige Eröffung mit El Amor Menos Pensado
(Foto: Buena Vista International)

Netflix eröffnet in Spanien sein erstes großes europäisches Produktionsstudio und heute Abend beginnt das spanische A-Festival – Notizen aus San Sebastián, Folge 1

Von Rüdiger Suchsland

Heute Abend geht es wieder los: Das Film­fes­tival von San Sebastián ist das schönste Festival des Jahres und das viert­wich­tigste im inter­na­tio­nalen Festi­val­zy­klus. Toronto ist das entgegen anders lautender Gerüchte nicht, denn jene Filme aus dem Toronto-Programm, die man noch nicht vorher bereits in Venedig sehen konnte, haben hier ihre offi­zi­elle Welt­pre­miere – was fehlt, sind allen­falls ein paar Hollywood-Werke. Aber wer braucht schon Hollywood, wenn man hoch­karä­tiges inter­na­tio­nales Autoren­kino sehen kann: Im Wett­be­werb um die Goldene Muschel laufen an den nächsten neun Tagen unter anderem neue Filme von Claire Denis, Naomi Kawase, Icíar Bollaín, also von den meisten jener Regie-Frauen, deren Filme in Venedig und Locarno im Programm von manchen vermisst wurden, und bei deren Filmen es nun gerade um die größten Lieblinge der Kriti­ke­rinnen ging. Außerdem laufen Filme von zum Beispiel Peter Strick­land und Louis Garrel. Judi Dench und Danny De Vito bekommen die Ehren­preise. Noch mehr aber lohnt sich immer der Blick auf das Kino aus Latein­ame­rika und Spanien.

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Eröffnet wird heute Abend gleich mit El Amor Menos Pensado (wörtlich etwa »Eine kaum erwartete Liebe«) aus Argen­ti­nien. Regie führte Juan Vera, den man bisher als Produzent der Filme von Pablo Trapero kennt, und zuletzt von Lucrecia Martels Zama. Die Haupt­rolle spielt mal wieder Ricardo Darín, in Argen­ti­nien der Liebling aller Haus­frauen, und nicht nur der...
Die Retro­spek­tive ist Muriel Box gewidmet, einer zumindest mir voll­kommen unbe­kannten Britin, die in den 1940er-Jahren zunächst als Dreh­buch­au­torin Erfolg hatte, dann bald aber auch Regie führte. Mal sehen, ob es sich hier vor allem um eine Konzes­sion an das Me-Too-Jahr handelt, oder um eine zu Unrecht Unbe­kannte, deren Werke zumindest annähernd das Niveau halten, das die Retro­spek­tiven zu Anthony Mann, Georges Franju, oder Nagisa Oshima in den Vorjahren gesetzt hatten. Allemal zeigt der San-Sebastián-Direktor José Luis Rebon­dinos hier wieder seine Neigung, Unbe­kanntem und Abge­le­genem eine Bühne zu geben.
Letztes Jahr wurde noch mit einem deutschen Beitrag eröffnet, mit Wim Wenders' schwachem Submer­gence. Diesmal gibt es gar keinen Film aus Deutsch­land im Programm; die deutsche Sprache wird man trotzdem hören können, in einem öster­rei­chi­schen Film, dem zweiten von Markus Schleinzer, der für den Schnitt vieler Michael-Haneke-Filme verant­wort­lich war und dessen Regie­debüt Michael vor Jahren im Cannes-Wett­be­werb lief und dann den Max-Ophüls-Preis gewann.

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Dafür werden wir andere deutsche Debatten in San Sebastián nahtlos weiter­führen können. Vor allem die um den Umgang mit Netflix und anderen Streaming-Diensten. In Spanien und den meisten anderen europäi­schen Ländern ist man in dieser Frage nämlich längst über die deutschen Empfind­lich­keiten hinaus – wieder mal versuchen sich die Deutschen an einem Sonderweg.
Nachdem Netflix gerade erst beim Festival in Venedig mit dem Gewinn des Goldenen Löwen demons­triert hatte, dass es in der Lage und willens ist, große Kinokunst zu produ­zieren, richtet es jetzt eine Ausgangs­basis für die Produk­tion von Filmen und Serien in Europa ein, eine Art Flug­zeug­träger für zukünf­tige Opera­tionen. Pünktlich zum Festi­val­be­ginn gab Netflix gestern nun bekannt, dass es in Spaniens Haupt­stadt Madrid sein erstes großes europäi­sches Büro und Produk­ti­ons­studio eröffnen werde. »Große Studio­bauten und andere Anlagen« sollen in Kürze in der soge­nannten »Ciudad de la Tele« (Fernseh-Stadt), einer neu einge­rich­teten 22.000 Quadrat­meter großen Fläche, errichtet werden – dafür haben die Ameri­kaner einen Mehr­jah­res­ver­trag unter­zeichnet.
Studios, Post­pro­duk­ti­onsrein­rich­tungen und Büros werden entstehen. Netflix hat zuletzt bereits vier Filme in Spanien produ­ziert, und dafür 13.000 Arbeits­plätze geschaffen.
In einem Pres­se­state­ment erklärte der Vize­prä­si­dent der Firma, Erik Barmack: »Spain has a rich heritage of inno­va­tive, immersive content creation, and we are excited to streng­then our invest­ment in the cultural heartland of Madrid. From San Sebastián to Santiago de Chile, and from Toronto to Tokyo, Spanish-language content is savoured by Netflix members across the world. The estab­lish­ment of our first European produc­tion hub will create new oppor­tu­ni­ties for Spain’s incre­dible creative talent, as well as demons­t­ra­ting our commit­ment to the produc­tion of original content throug­hout Europe.«

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Ist der Aufstieg von Netflix also unauf­haltsam? In jedem Fall werden wir uns in Deutsch­land bald auch in dieser Frage verändern müssen. Der Netflix-Boykott der deutschen Kinos ist absurd. Dafür, dass sich die Medi­en­po­litik in Deutsch­land bald grund­sätz­lich verändern wird, spricht auch die über­ra­schende Nachricht von der gestrigen Berufung des Vorstands­vor­sit­zenden des Springer-Verlags, Matthias Döpfner, in den Verwal­tungsrat von Netflix.

(to be continued)