27.09.2018
66. Festival de Cine de San Sebastián 2018

Uner­war­tete Lieb­schaften

El Amor Menos Pensado
Vollkommen überflüssig, aber nicht störend: El Amor Menos Pensado
(Foto: Buena Vista International)

Machtergreifung der Horrorclowns: Zum Auftakt des Filmfestivals im baskischen San Sebastián – Notizen aus San Sebastián, Folge 2

Von Rüdiger Suchsland

Irgend­wann hat es ange­fangen, dass das Wort »Moder­ni­sie­rung« nicht mehr bessere Zeiten versprach, sondern zu einer Drohung wurde. Ähnlich wie die Rede von »Reformen«. Und bei »Verjün­gung« hat man schon lange an jene windigen Chirurgen gedacht, die einer nicht mehr ganz taufri­schen Schönheit ein immer­wäh­rendes Lachen so ins Gesicht schnitten, dass es nicht mehr zu tilgen war und zur Clowns-Fratze wurde. Nun sind die Zeiten nicht mehr so lustig, und heute weiß jedes Kind, dass hinter der Clowns­maske schon immer Horror­fi­guren sich verbargen.

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Ist dies auch eine solche Verjün­gung? 25 Jahre sind Ana und Marcos verhei­ratet, jetzt geht der gemein­same Sohn aus dem Haus. Und eines Abends sitzen die beiden bei einem Glas Wein zusammen und fragen sich: Was soll da noch kommen? Was wird das nächste große Ereignis? Außer dem Warten aufs Enkelkind in viel­leicht zehn Jahren? Weil sie keine rechte Antwort finden und weil sie nicht so neben­ein­ander dahin­ve­ge­tieren wollen wie ihre fremd­ge­henden Freunde, beschließen sie, sich zu trennen. Sie bleiben eng mitein­ander verbunden, haben aber kurze Affären und irgend­wann neue Partner, mit denen sie zusam­men­ziehen.
El Amor Menos Pensado (wörtlich etwa »Eine kaum erwartete Liebe«) heißt der argen­ti­ni­sche Film, der diese Geschichte erzählt, und mit dem am Frei­tag­abend das Film­fes­tival von San Sebastián eröffnet wurde. Regie führte Juan Vera, den man bisher als Produzent der Filme von Pablo Trapero kennt, und zuletzt von Lucrecia Martels Zama. Die Haupt­rollen spielen Argen­ti­niens Superstar Ricardo Darín und Mercedes Morán.
In den ersten Minuten beginnt der Film überaus konven­tio­nell, mit Klim­per­musik und einem Erzähler aus dem Off, der, »Moby Dick« zitierend, von Anfang an als Klischee eines Lite­ra­tur­pro­fes­sors erscheint. Marcos ist Lite­ra­tur­pro­fessor, Ana ist Lebens­be­ra­terin und -thera­peutin für Frauen.
Damit also ist alles nichts mehr als typische Well­ness­un­ter­hal­tung, alles hier erscheint ein bisschen zu bieder, wo es gewagt tut, viel zu selten als wenn schon nicht kluges, so aber geist­rei­ches Kammer­spiel über Liebe, das Leben und das Altern, und nie wirklich gefähr­lich, weder für die Figuren, noch fürs Publikum.

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Dem zumindest aber müsste ein Film gefähr­lich werden. Hier gelingt es dann ein bisschen, wenn man bereit ist, die Dialoge und die Gedanken der Figuren, die einem Aller­welts­rat­geber auch für die niederen Stände entstammen könnten, an sich heran­zu­lassen. Denn natürlich fragt man sich, wo sie denn im Alltag liegt, die Liebe? Ob man lieber die gewohnten Routinen und bekannten Menschen schätzt, den Beruf, in dem man sich einge­richtet hat, die Stadt, die ganzen Verhält­nisse, oder ob man das alles zum Mond schießen und auch mit 50 noch einmal anfangen soll.
Für solche Gedanken braucht man diesen Film natürlich nicht, kann ihn aber zum Anlass nehmen.

Auch ansonsten ist El Amor Menos Pensado voll­kommen über­flüssig, aber nicht störend. Außer man stört sich an Kino, das keine weiteren Gedanken ans Bilder­ma­chen verschwendet, sondern das diese Probleme wohl­ha­bender Menschen in gesi­cherten Verhält­nissen, die man wie auch die ihrer Freunde bis zum Schluss nicht wirklich versteht, in konsu­mier­bare Glattheit verpackt, in filmi­sches Seiden­pa­pier, das so weich ist, dass man es kaum spürt, außer man hat sich jene Sensi­bi­lität bewahrt, die in unseren Zeiten als störend empfunden wird, erst recht von Förderern, Redak­teuren und Festi­val­or­ga­ni­sa­toren, die dafür sorgen, dass wir tagtäg­lich solche Filme sehen.

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Wenn dann der Film mit einer Verab­schie­dung aller Liebe­sutopie endet, ist das zwar faktisch nicht falsch, zumal behauptet wird, dass Lachen und überhaupt Humor wichtiger sind als der ganze Rest, aber es ist eben auch quie­tis­tisch und bürger­lich, denn das Publikum bekommt gesagt »Schuster bleib bei deinen Leisten« – also was es sowieso schon denkt. Das ist nicht einfach alters­weise, es ist einfach nicht genug.

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Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an, sang einst zumindest Udo Jürgens, und war damit weiter als die zehn Jahre jüngeren Figuren des Eröff­nungs­films. So ähnlich geht es auch dem Festival in der baski­schen Haupt­stadt: Denn mit seiner 66. Ausgabe hat man sein Design verjüngt, streicht die über­bor­dende Zahl der Sektionen zusammen und popu­la­ri­siert das Programm. Hier haben wir das Para­de­bei­spiel von Moder­ni­sie­rungen, Popu­la­ri­sie­rungen und Reformen, hinter denen sich der ganze Malai­sen­ka­talog unserer Gegenwart, also Leis­tungs­re­du­zie­rung, Vulga­ri­sie­rung und Infan­ti­lismus verbirgt, sowie Einspa­rungen und Ausgaben an falscher Stelle.

Über­flüssig Geld ausge­geben wurde für eine Design-Agentur, die – bestimmt für teures Geld – das Corporate Image des Festivals komplett über­ar­beitet und »refor­miert« hat. Statt der tradi­tio­nellen Muschel gibt es nun nur noch den Umriss der Concha-Bucht, bei dem es sich genau­sogut um den eines Fächers handeln könnte. In sieben Farben wird die Abkürzung des Festivals wieder­holt – und auch diese selbst ist neu: SSIFF. Das steht für San Sebastián Inter­na­tional Film Festival, ist also nicht falsch, soll aber an die um sich grei­fenden Abkür­zungen anderer Festivals erinnern: TIFF ist zum Beispiel Toronto, SIFF Shanghai und Seattle, NIFFF Neuchatel aber auch Nordic Film Festival – an diesen Beispielen merkt man schon, dass hier nicht nur die Verwechs­lungs­ge­fahr zunimmt, sondern dass es sich vor allem um eine frei­wil­lige Selbst­pro­vin­zia­li­sie­rung von San Sebastián handelt. Denn nennt sich die Berlinale BIFF? Venedig VIFF oder Cannes CIFF?
Also! Die haben den Quatsch nicht nötig. Und hören nicht auf die Deppen vom Marketing.

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Das Geld, das man für das neue Design ausgeben musste, hat man bei den Retro­spek­tiven einge­spart: Eine von bislang immer mindes­tens zwei Retro­spek­tiven wurde in diesem Jahr gestri­chen. Und die baski­schen Natio­na­listen ärgern sich, dass der baskische Name der Stadt, Donostia, nun endgültig unter den Tisch gefallen ist.
Die dies­jäh­rige Eröff­nungs­feier selbst war auf den ersten Blick überaus gut gelaunt und erfri­schend mit ihrem (selbst-)ironi­schen Spott auf Festi­val­kli­schees und die Konkur­renz zu anderen Film­fes­ti­vals, in der San Sebastián zwar gut dasteht, aber keines­wegs an der Spitze.

Zwei Schau­spie­le­rinnen, Belén Cuesta und die aus dem Basken­land stammende Nagore Aranburu, mode­rierten und sprachen die Texte. Geschrieben wurden diese von drei Dreh­buch­au­toren – Borja Cobeaga, Diego San José, Borja Eche­varría –, die darin all das aufs Korn nahmen, worüber man sich bei Festivals gern so unterhält.

Das war dort selbst­iro­nisch, wo es um San Sebastián als ein Festival ging, zu dem die Gäste in erster Linie zum Essen kommen. Das sei aber besser als in Cannes oder Venedig – und wer wolle da noch den »Brokkoli in Toronto«?
Oder es ging darum, dass hier die Filme gezeigt würden, die Cannes und Venedig abgelehnt hatten (inter­es­sant, dass die Berlinale hier gar nicht erwähnt wurde). Oder über die baskische Sprache mit einem veral­bernden Sprach­kurs: »Wie man Danke auf Baskisch sagt«. Der FIPRESCI-Award für den »Besten Film des Jahres« wurde dann mit folgender Bemerkung moderiert: »Festivals sind ja besonders wichtig für Kritiker: Das ist die einzige Woche, in der sie nicht bei ihren Eltern leben.«

Den Preis hat dann P.T. Anderson für Phantom Thread gewonnen, bereits zum dritten Mal. Nicht nur deswegen unnö­ti­ger­weise. Oder die Jury: Sie sei divers, nicht nur, weil drei Männer und drei Frauen drin säßen. »Sondern zwei sind Lactose-into­le­rant, zwei sind Veganer...«
Schließ­lich: Die »Regu­la­tions for the official selection: 1. you must suffer; 2. no smiling charac­ters; 3. long shots; 4. very long shots; 5. strange language«.

Lustig oder? Man kann das alles auch gut begründen: »These are bad times for humour. Humour has always been an essential part of artistic expres­sion and serves as a catalyst, making us question ourselves and the topics which reappear time and again. In this case, we want to laugh at the clichés generally used when referring to our city and our festival« so Festival Director José Luis Rebor­dinos.
Ist also lustig, oder nicht? Aber zwischen­drin fragte ich mich, ob sich in die gemüt­liche Ironi­sie­rung der Festi­valu­sancen nicht auch ein Vorschein kommender Dinge und Härten einschleicht?
Finden wir nicht im gemüt­li­chen Spott über die Kritiker auch ein Stück ehrlicher Verach­tung eines ganzen Berufs­standes? Dem eine angeb­liche Infan­ti­lität vorge­worfen wird, die tatsäch­lich das hier feixende Publikum längst kolo­ni­siert hat, wie die Aliens in einem Body­snat­cher-Film?
Und ist es nicht so, dass man in der Erleich­te­rung darüber, dass die Kunstan­stren­gung eines Kunst­wett­be­werbs auch einmal benannt wird, mit jenen sich innerlich verbündet, die solcher Anstren­gung in den Förder­gre­mien und Sender­re­dak­tionen ein für allemal den Garaus machen wollen?

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»Ich lache gern, wenn’s passt.« heißt es irgend­wann bei Loriot. Manchmal merkt man zu spät, dass das Passende die Zwangs­jacke ist.

(to be continued)