30.09.2018
66. Festival de Cine de San Sebastián 2018

Film auto­ma­tique

Blind Spot
Ist so das Leben? Nein: Blind Spot
(Foto: Nordisk Film Norge)

Schwarze Pädagogik für die gebildeten Stände – Notizen aus San Sebastián, Folge 4

Von Rüdiger Suchsland

Eine Sport­halle, Mädchen­hand­ball und 14-, viel­leicht 15-Jährige. Wir beob­achten die Torfrau aus der Distanz. Sie ist ziemlich schlecht. Erst allmäh­lich rücken zwei andere Mädchen in den Vorder­grund, die gerade ausge­wech­selt wurden, und von der Ersatz­bank aus die letzten Minuten des Spiels beob­achten. Anna und Thea.
Sie sind Freun­dinnen, tuscheln mitein­ander, wir beob­achten weiter, wie sie sich nach dem Spiel umziehen, die Kamera bleibt auf Anna, als Thea kurz duschen geht. Und, wie unsere Sehge­wohn­heiten eben so sind, suchen wir die Haupt­figur, suchen ihr Problem, überlegen wir, warum sie nicht duschen will, überlegen, welcher Art ihre scheinbar sehr besondere Aufmerk­sam­keit für die Freundin ist.

Sie haben sich dicke Woll­pullis über­ge­zogen, denn es ist kalt in Norwegen, und Reste des Schnees liegen auf der Straße; sie gehen zusammen aus dem Schul­gelände nach Hause zu einer Gegend mit fünf- bis sechs­stö­ckigen Wohn­blocks.
Der Weg dauert bestimmt zehn Minuten und spätes­tens jetzt fällt uns auf, dass dieser Film scheinbar in Echtzeit erzählt ist, dass noch nicht ein einziges Mal geschnitten wurde.
Während sie gemeinsam nach Hause gehen, reden Anna und Thea über die Schule, über Mathe­matik und die Essays, die sie schreiben müssen, Anna schreibt über Ibsen, Thea weiß noch nicht so recht, aber viel­leicht etwas zum Zweiten Weltkrieg, und Anna ermutigt sie, das zu tun; sie sprechen über die Norwe­gisch-Klasse, über Ernährung und Make-Up, über Jungs, über Handball, und wir bekommen eine Ahnung, wie verschieden die beiden sind, und was sie womöglich für Charak­tere haben: Anna ist schlecht in Mathe­matik, die wiederum Thea leicht­fällt, Thea bewundert Anna als die beste Hand­ball­spie­lerin, Anna ist unsicher, weil manche in der Klasse sie verspotten, sie ernährt sich gut und rät ihrer Freundin, statt Süßig­keiten in die Schule besser Obst und Nüsse mitzu­nehmen, dann könne man sich besser konzen­trieren. Beide reden ein bisschen spießiges Zeug, aus der Unsi­cher­heit der Pubertät heraus vermut­lich, und sie mora­li­sieren: Die anderen Mitschüler sollten sich doch besser mehr auf Handball konzen­trieren als aufs Make-Up.

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Als sich ihre Wege trennen, verab­schieden sie sich mit einer Umarmung, und zu unserer Über­ra­schung gehen wir, geht die Kamera mit Thea mit, nicht mit Anna, die bisher eher als Haupt­figur wahr­ge­nommen wurde.
Sie geht in den dritten Stock, hinein in die enge 08/15-Wohnung, begrüßt ihre Mutter und den kleinen Bruder im Bad. Harmlose Gespräche über Haus­auf­gaben und Abend­essen. Sie solle sich ein Sandwich machen, sagt die Mutter, was Thea tut, dazu trinkt sie ein Glas Milch, sagt dem Bruder gute Nacht, geht in ihr Zimmer und schreibt kurz etwas in ein Heft, vermut­lich ihr Tagebuch. Dann ruft sie ihren Vater an, der noch bei der Arbeit ist. Noch immer wurde im Film nicht geschnitten.
Dann wendet sich die Kamera kurz von Thea ab, eigent­lich zum ersten Mal, blickt in den leeren Flur, wir hören die Mutter der Tochter etwas zurufen. Die antwortet nicht. Auch beim zweiten Zuruf. Die Mutter tritt in Theas Zimmer. Und aus ihrem erst verwun­derten, dann erschreckten Blick heraus verstehen wir: Thea ist aus dem Fenster gesprungen.

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Dann bleibt die Kamera ganz bei der Mutter. Wir hasten mit ihr in Panik die Treppe hinunter, drei Stock­werke, und da liegt Thea vor dem Haus. Ein Kran­ken­wagen wird gerufen, zufällig stehen auch die Schwie­ger­el­tern vor dem Haus, offenbar wohnen sie in der Gegend.

Ich glaube hier übrigens kein Wort. Ich glaube nicht, dass Mädchen einfach so aus dem dritten Stock springen, wenn sie fünf Minuten vorher noch ein Glas Milch getrunken und zwei Minuten vorher noch dem kleinen Bruder einen Gute-Nacht-Kuss gegeben haben. Ich glaube das nicht. Schon wegen des Bruders.
Und dass die Schwie­ger­el­tern einfach so vor der Tür stehen, als die Mutter gerade aus dem Haus stürzt, um ihr womöglich bereits zu Tode gesprun­genes Kind zu umarmen, das entlarvt die ganze Über­kon­stru­iert­heit dieses nur angeblich natu­ra­lis­ti­schen, also ganz und gar unkon­stru­ierten, in Wahrheit aber am Reißbrett voll­kommen durch­cho­reo­gra­phierten und -gestal­teten Films, die Gemacht­heit des angeblich Unge­machten.
Nur lässt einem dieser Film, lässt einem Blind Spot von der Norwe­gerin Tuuva Novotny im Wett­be­werb von San Sebastián überhaupt keine Zeit zum Nach­denken, keine Zeit dafür, seine fünf Sinne mal kurz beisam­men­zu­halten.

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Die Mutter ist in Panik, vers­tänd­li­cher­weise, sie benimmt sich falsch, vers­tänd­li­cher­weise, muss also erst darauf hinge­wiesen werden, dass man den Körper von Schwer­ver­letzten nicht bewegen solle. Ihr andau­erndes Geheule mag auch vers­tänd­lich sein, ist aber trotzdem eine Zumutung für den Kino­zu­schauer.
Auch bei der Fahrt ins Kran­ken­haus – weiterhin in Echtzeit, also minu­ten­lang, ohne Schnitt, mit dauerndem beru­hi­genden, aber auch etwas flos­kel­haften Eingerede der psycho­so­zialen Betreuerin – lässt das Geflenne und Gejammere nicht nach. Statt ein Taschen­tuch zu reichen, reden die Skan­di­na­vier.
Dort im Kran­ken­haus ist dann Martin. Martin, »die Nurse«, wie er sich vorge­stellt hat, geht, kommt wieder, geht, kommt wieder, checkt, was im ER los ist, beruhigt die Mutter, ruft den Vater an, geht, kommt wieder, geht, kommt wieder, diesmal mit besonders besorgtem Blick: Wir erfahren, dass Theas biolo­gi­sche Mutter sich vor ca. zehn Jahren umge­bracht hat.
Langsam schleicht sich Bedeutung und Vermutung in das ungefügte Geschehen ein.

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Thea liegt derweil im Notope­ra­ti­ons­saal, neun Leute kümmern sich um sie, sie ist stabil, atmet, ein CT soll gemacht werden. Inzwi­schen ist Anders gekommen, Theas Vater. Anders ist unsym­pa­thisch und aggressiv gegenüber Martin, als hyste­ri­sche Über­re­ak­tion könnte man das abtun, dann wird er kurz ohnmächtig. Wacht wieder auf, ist immer noch aggressiv, er wolle seine Tochter sehen, fährt die Ärzte und Martin an, sie würden nichts tun für Thea.

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Die anstren­gendste Figur dieses anstren­genden Films. »Diese über­kor­rekten Skan­di­na­vier«, denke ich, »die Sätze sagen, wie 'Aggres­sion ist immer falsch'«. Ist sie nicht, denke ich; ich möchte diesen Mann anschreien und ihm sagen: Halt einfach mal die Klappe, es geht hier nicht um dich, nicht um deine Befind­lich­keit und dein Selbst­mit­leid, sondern ums Überleben deiner Tochter. Sagt natürlich keiner.
Statt­dessen sagen die Ärzte zu Anders, der ihnen vorwirft, sich nicht vorher um den Zustand der Tochter und der suizi­dalen Mutter gekümmert zu haben: »Es geht darum, dass Menschen autonom Lösungen finden, dass wir sie dazu bringen, zu verstehen, was für sie das Beste ist.« Eine Ausrede fürs Nichtstun denke ich, dieser bescheu­erte Sozi­al­staat, der alles über­kor­rekt regelt, sich aber dann auf Autonomie der Bürger zurück­zieht.

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Für solche Gedanken bleibt viel Zeit. Ein Echt­zeit­film. Kann man machen. Aber wozu eigent­lich? Was bringt das Weinen und Jammern und Flennen? Was bringen die Auto­fahrten, etwa die, wenn die Mutter dann, weil im Kran­ken­haus sowieso nichts passiert, nach Hause gefahren wird, und wir diese Autofahrt genau die acht Minuten lang sehen, die sie dauert, wenn wir dabei die Mutter von der Seite sehen, beim Weinen und Jammern und Tränen­schlu­cken.
Wenn man das Flennen und die Auto­fahrten und den Nach­hau­seweg der Girls am Anfang abzieht, ist der Film nur 60 Minuten lang. Höchstens.

Dieses lange Beob­achten mag skan­di­na­vi­sche Erzie­hungs­me­thode sein und Zuschauer Erfah­rungen aussetzen wollen, schwarze Pädagogik für die gebil­deten Stände, aber es ist auch einfach echt 'ne Zumutung.

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Wenn man parallel zu solchen Gegen­warts­filmen die dies­jäh­rige Retro­spek­tive zu Muriel Box anguckt, also britische Routi­ne­filme der Studio­zeit, dann erkennt man, dass da eine ganze Kultur des Film­erzäh­lens verloren gegangen ist. Auch diese Filme sind bere­chenbar, aber sie verschwenden wenigs­tens keine Zeit.

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Zu Hause ange­kommen und schweren Schrittes die Treppe drei Stock­werke nach oben geschlurft, ist klar, was die Mutter jetzt tun würde: In das Tagebuch der Tochter gucken. Und wieder flennen... Was hat sie gesehen oder gelesen?
Dann legt sie sich ins Bett. Und die Leinwand wird schwarz, und alles bleibt offen...
Ist so das Leben? Nein.

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Was Blind Spot immerhin gelingt: Wir beob­achten uns beim Beob­achten in diesem Film, sehen uns beim Sehen zu.

(to be continued)