66. Festival de Cine de San Sebastián 2018
Film automatique |
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Ist so das Leben? Nein: Blind Spot | ||
(Foto: Nordisk Film Norge) |
Eine Sporthalle, Mädchenhandball und 14-, vielleicht 15-Jährige. Wir beobachten die Torfrau aus der Distanz. Sie ist ziemlich schlecht. Erst allmählich rücken zwei andere Mädchen in den Vordergrund, die gerade ausgewechselt wurden, und von der Ersatzbank aus die letzten Minuten des Spiels beobachten. Anna und Thea.
Sie sind Freundinnen, tuscheln miteinander, wir beobachten weiter, wie sie sich nach dem Spiel umziehen, die Kamera bleibt auf Anna, als Thea kurz duschen geht.
Und, wie unsere Sehgewohnheiten eben so sind, suchen wir die Hauptfigur, suchen ihr Problem, überlegen wir, warum sie nicht duschen will, überlegen, welcher Art ihre scheinbar sehr besondere Aufmerksamkeit für die Freundin ist.
Sie haben sich dicke Wollpullis übergezogen, denn es ist kalt in Norwegen, und Reste des Schnees liegen auf der Straße; sie gehen zusammen aus dem Schulgelände nach Hause zu einer Gegend mit fünf- bis sechsstöckigen Wohnblocks.
Der Weg dauert bestimmt zehn Minuten und spätestens jetzt fällt uns auf, dass dieser Film scheinbar in Echtzeit erzählt ist, dass noch nicht ein einziges Mal geschnitten wurde.
Während sie gemeinsam nach Hause gehen, reden Anna und Thea über die Schule,
über Mathematik und die Essays, die sie schreiben müssen, Anna schreibt über Ibsen, Thea weiß noch nicht so recht, aber vielleicht etwas zum Zweiten Weltkrieg, und Anna ermutigt sie, das zu tun; sie sprechen über die Norwegisch-Klasse, über Ernährung und Make-Up, über Jungs, über Handball, und wir bekommen eine Ahnung, wie verschieden die beiden sind, und was sie womöglich für Charaktere haben: Anna ist schlecht in Mathematik, die wiederum Thea leichtfällt, Thea bewundert Anna als die
beste Handballspielerin, Anna ist unsicher, weil manche in der Klasse sie verspotten, sie ernährt sich gut und rät ihrer Freundin, statt Süßigkeiten in die Schule besser Obst und Nüsse mitzunehmen, dann könne man sich besser konzentrieren. Beide reden ein bisschen spießiges Zeug, aus der Unsicherheit der Pubertät heraus vermutlich, und sie moralisieren: Die anderen Mitschüler sollten sich doch besser mehr auf Handball konzentrieren als aufs Make-Up.
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Als sich ihre Wege trennen, verabschieden sie sich mit einer Umarmung, und zu unserer Überraschung gehen wir, geht die Kamera mit Thea mit, nicht mit Anna, die bisher eher als Hauptfigur wahrgenommen wurde.
Sie geht in den dritten Stock, hinein in die enge 08/15-Wohnung, begrüßt ihre Mutter und den kleinen Bruder im Bad. Harmlose Gespräche über Hausaufgaben und Abendessen. Sie solle sich ein Sandwich machen, sagt die Mutter, was Thea tut, dazu trinkt sie ein Glas Milch, sagt dem
Bruder gute Nacht, geht in ihr Zimmer und schreibt kurz etwas in ein Heft, vermutlich ihr Tagebuch. Dann ruft sie ihren Vater an, der noch bei der Arbeit ist. Noch immer wurde im Film nicht geschnitten.
Dann wendet sich die Kamera kurz von Thea ab, eigentlich zum ersten Mal, blickt in den leeren Flur, wir hören die Mutter der Tochter etwas zurufen. Die antwortet nicht. Auch beim zweiten Zuruf. Die Mutter tritt in Theas Zimmer. Und aus ihrem erst verwunderten, dann erschreckten Blick
heraus verstehen wir: Thea ist aus dem Fenster gesprungen.
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Dann bleibt die Kamera ganz bei der Mutter. Wir hasten mit ihr in Panik die Treppe hinunter, drei Stockwerke, und da liegt Thea vor dem Haus. Ein Krankenwagen wird gerufen, zufällig stehen auch die Schwiegereltern vor dem Haus, offenbar wohnen sie in der Gegend.
Ich glaube hier übrigens kein Wort. Ich glaube nicht, dass Mädchen einfach so aus dem dritten Stock springen, wenn sie fünf Minuten vorher noch ein Glas Milch getrunken und zwei Minuten vorher noch dem kleinen Bruder einen Gute-Nacht-Kuss gegeben haben. Ich glaube das nicht. Schon wegen des Bruders.
Und dass die Schwiegereltern einfach so vor der Tür stehen, als die Mutter gerade aus dem Haus stürzt, um ihr womöglich bereits zu Tode gesprungenes Kind zu umarmen, das entlarvt die ganze
Überkonstruiertheit dieses nur angeblich naturalistischen, also ganz und gar unkonstruierten, in Wahrheit aber am Reißbrett vollkommen durchchoreographierten und -gestalteten Films, die Gemachtheit des angeblich Ungemachten.
Nur lässt einem dieser Film, lässt einem Blind Spot von der Norwegerin Tuuva Novotny im Wettbewerb von San Sebastián überhaupt keine Zeit zum Nachdenken, keine Zeit dafür, seine fünf Sinne mal kurz beisammenzuhalten.
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Die Mutter ist in Panik, verständlicherweise, sie benimmt sich falsch, verständlicherweise, muss also erst darauf hingewiesen werden, dass man den Körper von Schwerverletzten nicht bewegen solle. Ihr andauerndes Geheule mag auch verständlich sein, ist aber trotzdem eine Zumutung für den Kinozuschauer.
Auch bei der Fahrt ins Krankenhaus – weiterhin in Echtzeit, also minutenlang, ohne Schnitt, mit dauerndem beruhigenden, aber auch etwas floskelhaften Eingerede
der psychosozialen Betreuerin – lässt das Geflenne und Gejammere nicht nach. Statt ein Taschentuch zu reichen, reden die Skandinavier.
Dort im Krankenhaus ist dann Martin. Martin, »die Nurse«, wie er sich vorgestellt hat, geht, kommt wieder, geht, kommt wieder, checkt, was im ER los ist, beruhigt die Mutter, ruft den Vater an, geht, kommt wieder, geht, kommt wieder, diesmal mit besonders besorgtem Blick: Wir erfahren, dass Theas biologische Mutter sich vor ca. zehn Jahren
umgebracht hat.
Langsam schleicht sich Bedeutung und Vermutung in das ungefügte Geschehen ein.
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Thea liegt derweil im Notoperationssaal, neun Leute kümmern sich um sie, sie ist stabil, atmet, ein CT soll gemacht werden. Inzwischen ist Anders gekommen, Theas Vater. Anders ist unsympathisch und aggressiv gegenüber Martin, als hysterische Überreaktion könnte man das abtun, dann wird er kurz ohnmächtig. Wacht wieder auf, ist immer noch aggressiv, er wolle seine Tochter sehen, fährt die Ärzte und Martin an, sie würden nichts tun für Thea.
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Die anstrengendste Figur dieses anstrengenden Films. »Diese überkorrekten Skandinavier«, denke ich, »die Sätze sagen, wie 'Aggression ist immer falsch'«. Ist sie nicht, denke ich; ich möchte diesen Mann anschreien und ihm sagen: Halt einfach mal die Klappe, es geht hier nicht um dich, nicht um deine Befindlichkeit und dein Selbstmitleid, sondern ums Überleben deiner Tochter. Sagt natürlich keiner.
Stattdessen sagen die Ärzte zu Anders, der ihnen vorwirft, sich nicht vorher um
den Zustand der Tochter und der suizidalen Mutter gekümmert zu haben: »Es geht darum, dass Menschen autonom Lösungen finden, dass wir sie dazu bringen, zu verstehen, was für sie das Beste ist.« Eine Ausrede fürs Nichtstun denke ich, dieser bescheuerte Sozialstaat, der alles überkorrekt regelt, sich aber dann auf Autonomie der Bürger zurückzieht.
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Für solche Gedanken bleibt viel Zeit. Ein Echtzeitfilm. Kann man machen. Aber wozu eigentlich? Was bringt das Weinen und Jammern und Flennen? Was bringen die Autofahrten, etwa die, wenn die Mutter dann, weil im Krankenhaus sowieso nichts passiert, nach Hause gefahren wird, und wir diese Autofahrt genau die acht Minuten lang sehen, die sie dauert, wenn wir dabei die Mutter von der Seite sehen, beim Weinen und Jammern und Tränenschlucken.
Wenn man das Flennen und die Autofahrten
und den Nachhauseweg der Girls am Anfang abzieht, ist der Film nur 60 Minuten lang. Höchstens.
Dieses lange Beobachten mag skandinavische Erziehungsmethode sein und Zuschauer Erfahrungen aussetzen wollen, schwarze Pädagogik für die gebildeten Stände, aber es ist auch einfach echt 'ne Zumutung.
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Wenn man parallel zu solchen Gegenwartsfilmen die diesjährige Retrospektive zu Muriel Box anguckt, also britische Routinefilme der Studiozeit, dann erkennt man, dass da eine ganze Kultur des Filmerzählens verloren gegangen ist. Auch diese Filme sind berechenbar, aber sie verschwenden wenigstens keine Zeit.
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Zu Hause angekommen und schweren Schrittes die Treppe drei Stockwerke nach oben geschlurft, ist klar, was die Mutter jetzt tun würde: In das Tagebuch der Tochter gucken. Und wieder flennen... Was hat sie gesehen oder gelesen?
Dann legt sie sich ins Bett. Und die Leinwand wird schwarz, und alles bleibt offen...
Ist so das Leben? Nein.
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Was Blind Spot immerhin gelingt: Wir beobachten uns beim Beobachten in diesem Film, sehen uns beim Sehen zu.
(to be continued)