66. Festival de Cine de San Sebastián 2018
Muriel Box und der weibliche Blick |
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»Best Original Screenplay« 1946 für The Seventh Veil | ||
(Foto: Universal Pictures) |
Vor zehn Jahren lief die bisher beste Retrospektive meiner Jahre in San Sebastián: »Japón en negro«, theoretisch über japanischen Film Noir, praktisch aber überhaupt über japanisches Kino und seine enorme Breite, über die Weggefährten der großen Namen Kurosawa und Ozu. Nie habe ich mehr gelernt, als hier, und nie habe ich die Filme der Retro insgesamt derart genossen. An Nummer zwei folgt für mich Georges Franju im Jahr 2012, überhaupt ein großartiges Jahr. Und im Jahr davor lief
parallel »American Way of Death: Film Noir 1910-2010« und parallel auch noch Jacques Demy. Auf dritter Stelle muss ich wohl Preston Sturges 2003 nennen, oder doch Powell/Pressburger 2002, das war aber mein allererstes Jahr und ich musste sowieso noch sehr viel über Filmgeschichte lernen. Außerdem erinnere ich mich auch an »50’s from the 50’s« im gleichen Jahr – da wurde das Festival 50 Jahre alt.
Aber selbst in schwächeren Jahren lohnt keine Sektion dieses Festivals
auch nur ansatzweise mehr. Die San-Sebastián-Retrospektiven sind, so scheint mir, noch besser als die schon sehr guten von Locarno – woher genau dieser Eindruck kommt, kann ich gar nicht sagen. Vielleicht denke ich das, weil sie meistens noch umfangreicher sind, und weil man alles angenehmer programmiert – immer nachmittags ab 16 Uhr bis gegen Mitternacht, sodass auch noch Zeit für Aktuelles bleibt, und nahezu jeder Film mindestens zweimal läuft – vielleicht auch,
weil die San Sebastián-Retrospektiven in ihren Themen noch etwas unerwarteter sind: Während Locarno fast immer auf Hollywood setzt, laufen hier eben auch Asiaten, Franzosen, und überhaupt manchmal auch etwas unbekanntere, unwahrscheinlichere Namen und Themen. Kaum erwähnt werden muss, dass hier die Filme fast immer auf 35mm oder 16mm-Filmmaterial vorgeführt werden.
Wahrscheinlich spielt in meine Liebe zu den San Sebastián-Retrospektiven aber auch die ganz subjektive
Tatsache hinein, dass ich schon länger hierherkomme, und den Ort wie das Festival einfach lieber mag als Locarno.
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Als ich zum ersten Mal herkam, gab es pro Jahr nicht weniger als drei Retrospektiven. Eine zu einem historischen Autor, eine thematische und eine zu einem lebenden Filmemacher. Das war zum Beispiel 2002 Volker Schlöndorff, dann 2003 Michael Winterbottom, dann mal Philippe Garrel und irgendwann Barbet Schroeder. Es ist schon eine Weile her, dass man diese Sektion erstmal wegließ und dann nach ein paar Hin-und-Hers im Jahr 2013 endgültig gestrichen hat – zugunsten von Unsinn, wie »Kulinarischem Kino« und dem seichten Entertainment und Wellnessfilmen, das in Sektionen wie »Velodrome« oder gelegentlich auch »Zabaltegi« gezeigt wird.
Aber auch wenn an diesen viel auszusetzen ist, muss man zugeben: Drei Retrospektiven sind super, aber vielleicht doch übertrieben. Man kann sie sowieso nicht alle sehen. Zwei aber, eine personale und eine thematische, eine historisch und eine zeitgenössisch, sollten es schon sein – da hat San Sebastián über lange Jahre vorgemacht, wofür ein Festival eben auch da ist: Zur Bildung des Publikums, dazu die Aufgaben zu übernehmen, die Cinemathequen und Programmkinos aus den verschiedensten Gründen heute immer weniger leisten. Um so schwerer wiegt, dass seit zwei Jahren nur noch die historische Retrospektive übrig geblieben ist. Finanzielle Gründe mögen eine Ursache sein, aber bestimmt spielt auch der seit einiger Zeit erkennbare Populismus des Festivals und die allgemeine Verflachung des San Sebastián-Programms eine Rolle. Hoffen wir mal gegen alle Erfahrung, dass sich das wieder ändert.
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Gewisse Hoffnung darauf gab auch die diesjährige Retrospektive zu Muriel Box (1905-1991). Von der Britin hatte ich bisher noch nie etwas gehört. Die Schau der letzten neun Tage zeigte aber nicht zuletzt auch, dass manche Vorgänge und Probleme, die man für neu hält, tatsächlich schon ziemlich alt sind.
In den San Sebastián-Retros konnte man in den letzten Jahren das britische Kino weit besser studieren, als etwa das spanische oder französische. Dies war jetzt schon die fünfte
Personen-Retrospektive zu britischen Filmemachern, seit ich hierher komme: Powell/Pressburger, Winterbottom, Terence Davies, Losey im Vorjahr, und nun eben Box.
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Einen großen Teil der Retrospektive habe ich gemeinsam mit Rudolf Worschech aus Frankfurt gesehen, dem es offenbar ähnlich geht wie mir, dass er im Zweifelsfall lieber den alten Filmen den Vorzug gibt. Während man sich in den meisten Fällen halt auf das Werk eines anerkannt großen Filmemachers einlässt, lag der Reiz bei Muriel Box darin, dass sie vollkommen unbekannt ist. »Groß« oder »bedeutend« würde ich ihr Werk nach dieser Woche jetzt nicht nennen, weil ich nicht glaube, dass das
Werk einer Regisseurin schon nur deshalb bedeutend war, weil sie eine der wenigen Frauen war, die zu der Zeit Film-Regie führten, aber es ist interessant, und das genügt auch.
Wichtiger als solche generellen Aussagen sind bei einer Retrospektive sowieso einzelne Beobachtungen und Dinge, die einem nur auffallen, wenn man ein Gesamtwerk sieht, oder vieles davon auf einmal.
Muriel Box schrieb für fast 30 Filme das Drehbuch, bei 16 führte sie Regie, bei acht davon verfilmte sie ein eigenes Script – die Drehbücher schrieb sie allerdings immer gemeinsam mit ihrem Mann Sidney Box, der auch der Produzent ihrer Filme war, und mit dem sie seit 1935 verheiratet war. Rudolf hatte Zeit, in den Katalog hineinzulesen, ihm verdanke ich den Hinweis darauf, dass das Paar 1965 in eine Ehekrise geriet, die schließlich 1969 in die Scheidung mündete. Das war dann auch das Ende von beider Filmkarriere.
Das Verhältnis zwischen beiden ist mir unklar. Man wird Sidney Box zugute halten dürfen, dass er, verglichen mit den Maßstäben der Epoche und anderen Ehemännern, mit seiner Frau eine außerordentlich gleichberechtigte Ehe und berufliche Partnerschaft führte, ja: Dass er ihr als Produzent die Möglichkeit gab, Regie zu führen, wozu er selbst offenbar keinen Ehrgeiz hatte. Da beide gleichberechtigt als Autoren der Drehbücher zeichneten, sind die genauen Formen ihrer Zusammenarbeit bzw. die jeweiligen Anteile unklar. Vielleicht weiß ich in ein paar Tagen nach Lektüre des Katalogs mehr.
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Die Retrospektive umfasste 28 Filme, ich habe davon genau 20 Filme gesehen. Was ich gesehen oder nicht gesehen habe, hatte nur mit der Terminlage zu tun, nicht mit den Titeln. Es ergab sich aber, dass ich von den sechs Filmen, bei denen Box fremde Drehbücher verfilmte, nur drei sah, während ich zehn von 14 Filmen sah, bei denen ein Regisseur ein Drehbuch von Box verfilmt hat. Der Film, bei dem mir das Verpassen am meisten leid tut, ist Easy Money von 1948, der einen sehr guten Ruf hat. Ihren – zumindest äußerlich betrachtet – größten Erfolg hatte Box sehr früh, bereits 1945 mit The Seventh Veil. Das war ihr zweites Drehbuch, und das Ehepaar Box bekam für den Film den Oscar für »Best Original Screenplay« 1946. Die Regie hatte Compton Bennett übernommen – tatsächlich ist dies derjenige Film der Retrospektive, der mir insgesamt am allerbesten gefallen hat. Ich werde darüber diese Woche noch ausführlicher schreiben – eine furiose Künstlerbiographie, die Elemente der Gothic Story und des Film Noir mit den in dieser Zeit sehr modischen Motiven der Psychoanalyse mischte. Man kann den Film, wenn auch in schlechter Qualität, auf YouTube angucken.
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Die zusammenfassend interessanteste Frage zu Muriel Box ist die: Wie verhalten sich ihre Fähigkeiten als Drehbuchautorin zu denen als Regisseurin? Ist sie eigentlich die bessere Filmemacherin, oder die bessere Autorin?
Mir fiel auf, dass die stärkeren Filme die waren, bei denen sie nur eines von beidem gemacht hat – während gerade ihre Verfilmungen eigener Drehbücher mitunter auch deutliche Schwächen aufweisen. Allerdings waren es auch wieder zwei der besten Filme
– Street Corner und The Passionate Stranger – bei denen sie das Drehbuch schrieb und zugleich Regie führte.
Die genannten Schwächen mögen aber auch daran liegen, was man ihr überhaupt zu machen erlaubt hat. Zum Beispiel wirkt ihre allererste Regiearbeit, The Happy Family von 1952, wie ein seichter Fernsehstoff. Es handelt sich um eine Komödie über eine Kleinbürger-Familie, deren Haus und Ladengeschäft der Londoner Verkehrsplanung zum Opfer fallen soll, und die sich dagegen mit zivilem Ungehorsam, Humor und Familiensinn zur Wehr setzt.
Wie dieser Film machen viele Box-Werke den Eindruck eines verfilmten Theaterstoffes. »Stagebound« sagt man auf Englisch.
So glaube ich, dass sie am Ende nicht wirklich eine eigene Handschrift als Regisseurin hatte. Muriel Box kommt vom Drehbuch her, vom Text, nicht vom Raum, nicht vom Bild, nicht von der Bewegung. Ihre Geschichten haben immer wieder Handlungen, die in einem Zimmer, einer Wohnung, oder sehr eng begrenzten Räumen spielen, oder in geschlossenen, kaum veränderlichen
Räumen, wie auf einer Insel, oder in einem Gerichtshof. Wenn man die beliebte Frage nach dem »weiblichen Blick« ernst nimmt, dann müsste man sagen: Der weibliche Blick ist vielleicht auch einer, der besonders sensibel für Grenzen ist, für Schranken, für Enge. Genauso möglich ist es aber auch, dass es sich dabei nicht um eine besondere Sensibilität handelt, sondern eben darum: Dass Frauen in früheren Epochen in ihrem Horizont begrenzter waren. Ihr Blick ähnelt dem der Sklaven, er ist
beschädigt durch jahrhundertelange Unterdrückung – und wie könnte er sich von dieser auch ganz frei halten?
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Ein paar Merkmale, die einem in den Filmen von Muriel Box immer wieder begegnen: Die Idee eines unerreichbaren Paradieses. Das Sujet »Ehe und Partnerschaft«, durchaus von einem kühlen, »objektiven« und mit Frauen sympathisierenden Standpunkt aus betrachtet, gemeinsam mit dem Willen, Frauen ins Zentrum zu stellen, sichtbar zu machen, die weibliche Erfahrung ins Zentrum ihrer Filme zu rücken. Box erwähnte öfters die Bedeutung der Lektüre von Virginia Woolf für ihre Arbeit. Als sie aufhörte, Filme zu machen, gründete sie mit 60 Jahren den ersten feministischen Verlag Großbritanniens: »Femina Box«.
Immer wieder spricht sie Themen an, die zu ihrer Zeit soziale Tabuthemen waren: Bigamie, Prostitution, Geschlechtskrankheit, Abtreibung, Teenager-Kriminalität, Teenager-Sex, das Verhältnis der Briten zu Irland. Viele ihrer Filme wurden zensiert oder erhielten von lokalen Behörden Vorführungsverbot.
Box ergriff konstant und immer wieder Partei für die kleinen Leute und ihre Schwächen. Und für die Frauen. Nicht unbedingt dagegen für die Jungen, oder die Kinder. Hier hat sie eine
erstaunlich konservative Position, paternalistisch, von oben herab, ohne Verständnis und viel Toleranz. Wir begegnen öfters einem »angry young man«, aber das lag wohl in der Zeit.
Ein Thema, das öfters vorkommt, ist die Macht der Kunst. Die Gesellschaft – aber in welchem britischen Film dieser Zeit ist das kein Thema?
Box hatte Humor. Ihr Humor ist aber ein ironischer, ein Humor des Relativierens, nicht des Verspottens oder Verdammens. Auffallend gern macht sie sich
über Abkürzungen lustig.
Als Regisseurin stellte sie das Film-System infrage. So weigerte sich beispielsweise die Schauspielerin Jean Simmons, von einer Frau inszeniert zu werden.
(to be continued)