Cinema Moralia – Folge 194
Das Kino ist ein Superheld |
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Martin Scorseses Netflix-Produktion THE IRISHMAN |
Von Rüdiger Suchsland
»The busy have no time for tears.«
Lord Byron
Gefühle sind wichtig, gerade auch im Kino. Aber sollte es uns nicht zu denken geben, dass es gerade die Geschäftigen, die Gschaftelhuber und Geschäftemacher sind, die immer wieder auf Emotionen und Gefühle sich berufen? Auf »große« Gefühle natürlich, denn Gefühl allein reicht nicht.
»Im Kino gewesen, geweint« – zumindest diesen Satz von Kafka zitiert gern ein gewisser Typ von Kinogängern. Um so etwas wie die emotionale, melodramatische, tränendrüsige Qualität des
Kinos zu beschwören.
Aber vielleicht weinte Kafka aus ganz anderen Gründen. Vielleicht hatte er nur einen schlechten deutschen Film gesehen?
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»Im Kino gewesen, gelacht« – das wäre doch auch nicht so schlecht.
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Emil Nolde ist jetzt auch abgehängt. Aus dem Kanzleramt. Bedenkenträger, Saubermänner vom Syndikat für moralischen Purismus haben dafür gesorgt. Nolde war ein Nazi, klar, zumindest irgendwie, das konnte man aber schon seit mindestens 50 Jahren wissen. Er war aber auch, das sind schon die feineren Unterschiede, innerhalb der NS-Ideologie ein Dissident, er war verfemt als Expressionist, weil der Versuch der einen Nazi-Fraktion, der um Joseph Goebbels, den Expressionismus als »nordische deutsche Kunst« für den NS Staat zu vereinnahmen, an der anderen, an der Alfred-Rosenberg-Fraktion scheiterte. Ist vielleicht auch besser so, für die Expressionisten vor allem.
Wenn Nolde aus dem akzeptablen, staatsmännisch vorzeigbaren Teil der deutschen Kunstgeschichte getilgt werden soll, hinterlässt das aber ein Geschmäckle.
Getilgt werden soll hier nicht das Nationalkonservative, dann müsste nicht nur die Regierungspartei erst mal bei sich selbst die Ecken auskehren, sondern ein Radikalismus an sich. Dabei wäre es solcher Radikalismus, der jeden Künstler überhaupt erst anfängt, interessant zu machen: Eisenstein und Brecht zum Beispiel,
Kommunisten. Riefenstahl und Harlan, harte Nazis. Liebeneiner, Sirk und Staudte – mindestens krasse Mitläufer und Opportunisten.
Das Problem ist eher die Spießigkeit von Nolde. Die hatte Merkel und ihre Berater, aber auch die »kritischen« Journalisten, allerdings noch nie gestört.
Einmal mehr das ästhetische Defizit der deutschen Debatte.
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Der Spielraum wird enger. Die Zügel werden angezogen. Neue Richtlinien überall. Auch bei der Europäischen Filmakademie. Die hat es zwar bitter nötig, sind interessanter zu machen, aber ob es der richtige Schritt ist, weiter zu normieren und zu regulieren, die Menge der Filme, die nominiert werden dürfen einzuschränken, anstatt sichtbar zu machen.
»Die European Film Academy hat das Auswahlverfahren für Spiel- und Dokumentarfilme im Wettbewerb für die European Film Awards geändert. Der EFA-Vorstand hat sich dazu entschieden, einige Neuerungen einzuführen, die die Anzahl der ausgewählten Filme reduzieren, das Nominierungsverfahren demokratisieren und alle Länder gleichwertig behandeln.
...müssen diese nun zusätzlich mindestens eins der folgenden Kriterien erfüllen: eine Auszeichnung bei einem großen Festival,
große Aufmerksamkeit bei Filmfestivals, verkauft nach oder bereits verliehen in mindestens drei Länder (bei Dokumentationen: ein Land).
Frist ist der 31. Mai, danach wählen die Komitees maximal 45 Spielfilme und 12 Dokumentationen aus, um sie den EFA-Mitgliedern für eine Nominierung vorzuschlagen. Diese entscheiden anschließend über die Gewinner, die dann bei der Verleihung der 32. European Film Awards am 7. Dezember in Berlin verkündet werden. ....
Die vollständigen
EFA Regularien stehen online zur Verfügung unter www.europeanfilmacademy.org«
»Auszeichnung bei einem großen Festival«, »große Aufmerksamkeit bei Filmfestivals«, Verkäufe...
Das ist nur Kulturkapitalismus.
»Demokratisieren und ... gleichwertig behandeln« ist übrigens das, was Diktatoren immer sagen, wenn sie ihre Macht ausweiten wollen.
Wieso übrigens sollte man Frankreich oder England eigentlich als Filmländer gleich behandeln wie Kroatien oder Malta?
Die europäischen Förderungen behandeln sie ja einstweilen höchst ungleich.
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»Europäisch, im Sinne der European Film Academy, bedeutet geografisches Europa, sowohl EU als auch nicht-EU, und schließt Israel und Palästina mit ein.«
Ein palästinensischer Film ist also ein europäischer? Ihr habt sie ja nicht alle!
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Videoblogs, Podcasts, Audiofiles – das ist das gar nicht mehr allerneueste Ding. Es kommt jetzt in den deutschen Zeitungen an. Schon seit Jahren gibt es etwa Videofilmkritiken in der FAZ und Videoliteraturkritiken in der Süddeutschen. Als ob wir die Autoren sehen müssen, oder gar wollen, drängen sich ihre Gesichter vor ihre Gedanken, ihr ungeschminktes Äußeres vor die genau durchdachten Formulierungen, ihre eitlen Gesten und ungeschulten Kameraauftritte –
bei Filmkritikern immerhin merklich besser als bei Literaturkritikern –, vor die natürlich auch eitlen, aber immerhin geschulten Analysen der Werke.
Der nächste Schritt wäre die Stilkritik des Autorenäußeren auf der Modeseite anstelle der Rezension. Kommt noch. Alles leserfreundlich, Service, die Leute »da abholen, wo sie stehen«. Die SPD zeigt, wohin das führt.
Als ob die Leute da stehen, wo sie sollen. Oder auch nur, wo sie stehen wollen. Wäre das so, bräuchten sie die
Kritik nicht, die natürlich am Ende dazu da ist, sie zu besseren Menschen zu machen.
Das Phänomen der Enttextung schreitet derweil voran.
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»Das Kinojahr 2018 – Marktzahlen aus Deutschland« – Die FFA vermeldet: »Der Kinomarkt in Deutschland musste im vergangenen Jahr bekanntlich bedeutende Einbußen verkraften – Umsatz und Besucherzahlen gingen nach den Ergebnissen des GfK Consumer Panels jeweils um rund 15 Prozent auf 100 Mio. Besucher bzw. 893 Mio. Euro zurück. In seinem Vortrag ›Das Kinojahr 2018 – Marktzahlen aus Deutschland‹ beim Kinokongress 2019 analysierte Frank Völkert,
stellvertretender Vorstand der Filmförderungsanstalt FFA, ... was die Marktdaten zum Verständnis der Ursachen für den Besuchereinbruch beitragen können. Sicher scheint demnach, dass Jahrhundertsommer und Fußball-Weltmeisterschaft zwar Einfluss auf das Besucherverhalten hatten, die Hauptursachen aber woanders liegen.
2018 waren knapp 25 Mio. (37 Prozent) der Deutschen über 10 Jahre mindestens einmal im Kino. Im Vergleich zu 2017 ist dies ein stabiler Wert, in der
Langzeitbetrachtung geht die Reichweite jedoch deutlich zurück: Vor 10 Jahren besuchten noch 44 Prozent der Deutschen ab 10 Jahren ein Kino.
Die Besuchsintensität sank im Vergleich zum Vorjahr von 4,7 auf 4,1 Besuche pro Kopf um 14 Prozent. Es zog also nicht weniger Menschen ins Kino, sondern diejenigen, die ins Kino gingen, taten dies weniger häufig.
Mit 37 Prozent Reichweite gingen 2018 immer noch mehr Personen ins Kino, als Personen, die Home-Video-Produkte (34 Prozent)
nutzen. Im Vergleich zu 2017 haben sich diese Anteile nicht verändert. Auch der Anteil der Home-Entertainment-Nutzer, die ins Kino gehen, ist 2018 mit 69 Prozent stabil – obwohl die Umsätze des Teilbereichs SVoD 2018 um 77 Prozent zugelegt haben.
Wie im Vorjahr waren im Jahr 2018 55 Prozent aller SVoD-Nutzer gleichzeitig Kinogänger. Die SVoD-Konsumenten gingen also auch in dem schwachen Kinojahr 2018 ins Kino und taten dies zwar weniger als im Vorjahr, aber dennoch weiterhin
häufiger als der Gesamtmarkt. Gleichzeitig gaben sie dort auch mehr Geld aus als andere Filmkonsumenten und zahlen im Vergleich zum Gesamtmarkt vier Prozent höhere Eintrittspreis. Dennoch verändert sich für die Kinobetreiber die Struktur ihrer Kinogänger: Waren 2017 noch 23 Prozent der Kinogänger gleichzeitig SVoD-Kunden, hat sich dieser Anteil 2018 auf 28 Prozent erhöht.«
Wie lernen daraus: Video- und Streamingplattformen sind kein Feind des Kinos, sondern ein Partner.
Wir lernen auch: Kino ist auch quantitativ wichtiger als Heimkino.
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Nicolas Winding Refn kommt mal wieder zu spät. Viel zu spät. »Cinema Is Dead« erklärt der Mann allen Ernstes, und mit seriösem Gesichtsausdruck, etwa 30 Jahre nach Peter Greenaway, 35 Jahre nach Serge Daney und zig Jahre nach vielen anderen. So ein Blödsinn. Wahrscheinlich ist das Kino ein Superheld, das unsterblich ist, immer wieder
aufsteht, nachdem es mit dem Stummfilm spätestens zum ersten Mal gestorben ist.
Arguing About Netflix Is 'so 2000' and Pointless behauptet der dänische Narziss mit dem großen Ego.
»Cinema is dead, I have come to Lyon to declare film to be dead. And now it’s resurrected. Film clings on to our feet as we move forward. The best way to move forward [is] to bury the past. That doesn’t mean you forget it.
It’s like a cathedral. It’s where you read the first testament. You study scriptures to get to the second testament, if you look at Instagram or Twitter or all these things that my children use – they're all for free! What on earth are we
thinking? That it doesn’t mean anything for cinema?«
Was für ein Riesenbullshit!
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Die sogenannte Netflix-Debatte, die eigentlich eine um die Streaming-Dienste ist, ist allerdings auch Blödsinn. Sie geht vor allem die Förderer an.
Denn tatsächlich müssen sich ja die Förderer aller Länder in ihrer unendlichen Weisheit fragen (lassen), warum, Alfonso Cuarón oder Martin Scorsese (Cuarón!! Scorsese!!! Keine Nobodys) nirgendwo soviel Geld bekommen, wie von diesen Bösenhaien, die noch keinen Cent verdient haben.
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Wir brauchen einen Förderpranger, äh eine Transparenzwebseite, wo alle Sünden und Desiderate der Fördertätigkeiten einmal aufgelistet werden.
Gerechtigkeit für Förderer. Aber auch für Filmemacher. Dazu nächstes Mal mehr!
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Neueste Nachrichten vom Untergang des Abendlandes: Das Rechtschreibprogramm schlägt Podolski vor, aber nicht Polanski.
(to be continued)