04.04.2019
Cinema Moralia – Folge 193

Und dann und wann ein blauer Elefant...

Robert Reinerts NERVEN
Einer der allerbesten unter den vielen vergessenen Filmen des Weimarer Kinos: Robert Reinerts Nerven
(Foto: Murnau-Stiftung)

Das Karussell: Posten, Pfosten, Kosten – Neueste Nachrichten aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 193. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Mit einem Dach und seinem Schatten dreht/
sich eine kleine Weile der Bestand/
von bunten Pferden, alle aus dem Land,/
das lange zögert, eh es untergeht./«

Zwar manche sind an Wagen ange­spannt,/
doch alle haben Mut in ihren Mienen;/
ein böser roter Löwe geht mit ihnen/
und dann und wann ein weißer Elefant.

Rainer Maria Rilke: »Das Karussell – Jardin du Luxem­bourg«

April ist der grau­samste Monat, allemal im deutschen Kino, jetzt, hier, im wüsten Land am Anfang des chine­si­schen Jahr­hun­derts, wo man schon mal den Kotau übt, lange bevor die neuen Herren da sind. Noch ist Deutsch­land nicht Teil der neuen Seiden­straße, aber man wüsste gern, ob es nicht bald auch eine Seiden­straße des Kinos geben könnte?
Einst­weilen geht es weiter wie gehabt: Förder­ent­scheide werden bekannt, Film­preis­no­mi­nie­rungen und Nicht­ein­la­dungen nach Cannes, alle paar Jahre rotieren wie jetzt gerade auch die Verbände bei ihrer Aufstel­lung der Film­för­der­ge­setz­stel­lung­nahmen. In diesem Jahr könnte man zudem mit den vielen Köpfen, die das zur Zeit herum­rollen, und irgendwo auf oder abgesetzt oder in die Ecke geballert werden, Bowling spielen.
Es wechseln die Zeiten, mehr als drei Särge schwimmen am Grunde der Moldau und manch neuer Chef sieht eher aus wie ein blutiger Hahn, als wie ein frisch gekrönter Kaiser. Die Stimmung ist schlecht: Grund­sätz­liche Nervo­sität ist das vorherr­schende Gefühl, seeli­sches April­wetter, ein Sturmwind, der über den Starn­berger See quer durch München bis nach Berlin bläst.

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Wo sollen wir anfangen? Ganz oben, wie immer. Monika Grütters ist diese Woche gestürzt worden. Nicht als Kultur­staats­mi­nis­terin, aber als CDU-Vorsit­zende von West-Berlin.
Wenn jetzt jemand naseweis darauf aufmerksam machen möchte, dass Berlin doch seit dem soge­nannten »Mauerfall« vor 30 Jahren nicht mehr aus Ost- und West-Berlin besteht, dann muss ihm antworten, dass dies aber nicht für die West-Berliner CDU gilt. In Ost-Berlin gibt es gar keine nennens­werte CDU, und die aller­meisten aus dem Westen haben sich seit der Gren­zöff­nung noch nicht über die Zonen­grenze getraut. Oder sie haben ihr Gehirn zuhause gelassen. Grütters, der man derartige Borniert­heiten nicht nachsagen kann, war immer zu fein für all die Reser­ve­of­fi­ziere, Raum­aus­statter und Bade­meister, die die West-Berliner CDU ausmachen, für die sogar ehemalige Landes­vor­sit­zende wie Frank Steffel den Begriff »Skru­pel­lo­sig­keit« gebraucht. Grütters, die aus Münster kommend, in Berlin zwar eine Wohnung hat, aber nie ange­kommen ist, wäre allzugern regie­rende Bürger­meis­terin geworden. Das wird nun nichts. Dazu fehlt ihr das, was ihr auch in der Film­po­litik gut anstehen würde: Inhalt­li­ches Profil, Mut zum Streit und zur klaren Linie, die Gabe zu über­ra­schen, Offenheit, Unab­hän­gig­keit von Beratern.
Weil das auch die CDU spürte, wurden Grütters schon lange von den eigenen Leuten Knüppel zwischen die Beine geworfen, und nun hat man sie halt, recht­zeitig vor der nächsten Senats­wahl politisch abge­schossen.

Während nun die soge­nannte bürger­liche Presse, allen voran die Lokal­zei­tung »Tages­spiegel«, aufjaulte und der CDU attes­tierte, »zurück in den Klein­garten« zu fallen, musste mal wieder die »TAZ« die Dinge zurech­trü­cken. Weder sei Grütters so liberal, wie ihr Umfeld gern behauptet, noch »everybody’s darling«.
Vor allem wolle sie sich nicht festlegen. Das bekommt auch nicht ihrer Partei. Obwohl die SPD in Berlin mit dem farblosen Appa­rat­schik Michael Müller als Bürger­meister inzwi­schen auf 15 Prozent abge­sunken ist, profi­tiert davon nicht die Union (20%), sondern GRÜNE (27%) und Linke (18%). Rot-Rot-Grün würden heute mehr Menschen wählen als 2016, aller­dings wäre es dann Grün-Rot-Müller.

Für die deutsche Kultur­po­litik bedeutet das: Wer gehofft hatte, Grütters könnte 2020 ihr Amt verlassen, um Spit­zen­kan­di­datin in Berlin zu werden, hat Pech gehabt. Grütters wird mindes­tens so lange im Amt bleiben, wie Angela Merkel im Kanz­leramt; wer weiß, viel­leicht sogar viel länger.

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Alles Mögliche ändert sich auch bei der SPIO. So ganz habe ich zwar bis heute immer noch nicht verstanden, was es eigent­lich mit dieser »Spit­zen­or­ga­ni­sa­tion der Film­wirt­schaft e.V.« auf sich hat, was ihr Mandat ist, weil der Dach­ver­band der Film­schaf­fenden ist sie ja nicht; aber immerhin arbei­teten da bis vor kurzem ein paar nette Leute wie Chris­tiane von Wahlert oder Alfred Holighaus.
Und viel­leicht kann es einem ja bald Thomas Negele erklären. Der 63-jährige Jurist und amtie­rende HDF-Vorstands­vor­sit­zende wurde jetzt zum neuen SPIO-Präsi­denten gewählt.

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Bei der FFA haben vorges­tern bestimmt auch in einigen Büros die Sekt­korken geknallt; viel­leicht sogar bei FFA-Chef Peter Dinges.
Denn Nägeles frei­ge­wor­denen Posten beim HDF übernimmt Christine Berg. Die 53-jährige war seit über 12 Jahren bei der FFA, darunter seit 2012 als stell­ver­tre­tender Vorstand für den gesamten Förder­be­reich verant­wort­lich.
Ein Aufstieg ist das nicht, eher eine Abschie­bung: Intern war Berg bei der FFA nicht gerade beliebt, extern erst recht nicht, und wurde immer als Gegenpol und Konkur­rentin zu Dinges angesehen.
Aber wer wird jetzt bloß der Nach­folger von Berg bei der FFA?
Rein sche­ma­tisch gesehen, müsste das eine Frau werden. Ande­rer­seits war in dem Zusam­men­hang gerade erst zu hören: »Alfred braucht 'nen Posten.« Könnte es also sein, dass Alfred Holighaus zur FFA geht?
Kaum, hatte doch Holighaus erst neulich in einem Interview erklärt, er wolle »zu den Kreativen«. Bei der FFA wird er die lange suchen.

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Diverses Drunter und Drüber und Wechsel gibt es auch bei einigen Film­ver­bänden. So hat sich der einstige »Dach­ver­band« »Die Film­schaf­fenden« selbst zerschred­dert, offenbar weil das Konto überzogen war und der Verband bankrott ist. Der »Bundes­ver­band Schau­spiel« (BFFS) spielt hier seit etwa zwei Jahren die Rolle eines Aasgeiers, der sich die Reste des Dach­ver­bands einver­leibt und im Ton eines Sama­ri­ters, der ganz unei­gen­nützig »Doppel­struk­turen besei­tigen«, aufräumen und alles »auf neue Füße stellen« will. Diese Füße sind vor allem die breiten Latschen des eigent­li­chen BFFS-Anführers, des Schatz­meis­ters Heinrich Schaf­meister, der dafür sorgte, dass der BFFS sich jetzt zunehmend, flankiert von der film­fremden »Medien«-Gewerk­schaft Verdi geriert, als sei dies die einzige legitime Inter­es­sen­ver­tre­tung der Film­branche.

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Auch der Regie­ver­band geht gerade durch schwere Zeiten. Hier ist der Ärger offenbar so andauernd, so stark, justi­ziabel und überdies nicht öffent­lich, auf reinem Hören­sagen basierend, dass selbst ich meine Formu­lie­rungen sorgsam wählen muss. Offenbar aber gab es Verun­treu­ungen und verbands­wid­rige Verwen­dung von Geldern, auch von Täuschung und anste­henden Straf­an­zeigen ist hinter vorge­hal­tener Hand die Rede.
Der Regie­ver­band selber spricht in einer Pres­se­mit­tei­lung vom Februar von »Neuanfang«, von »Refor­mie­rung«, erwähnt eine »Aufklärungs­kom­mis­sion«. Aber was genau gibt es da eigent­lich aufzu­klären? Wüsste man schon gerne. Zur Zeit ist ein Inte­rims­vor­stand im Amt, der den vorhe­rigen Vorstand um Stephan Wagner (geschäfts­füh­rend) offenbar auf Anraten der Kommis­sion ersetzte. Der lang­jäh­rige Geschäfts­führer und quasi das »Gesicht« des Regie­ver­bandes, Jürgen Kasten wurde durch die Medi­en­ju­ristin Edith Forster ersetzt, die zuvor an der DFFB als Geschäfts­füh­rerin und Verwal­tungs­lei­terin eine wenig rühmliche Rolle gespielt hatte, weil sie sich dort während des letzten Konflikts zwischen Studenten und Berliner SPD-Senat um die lange offene Suche nach einem neuen Direktor überaus einseitig gegen die Studenten posi­tio­niert hatte und die Geschäfte so führte, dass sie nicht wenigen als ein Avatar des Senats erschien.

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Dies ist einer der aller­besten unter den vielen verges­senen Filmen des Weimarer Kinos. Und der beste aus München. Denn in München wurde dieser Film gedreht, vor genau hundert Jahren, kurz nach Revo­lu­tion und Räte­re­pu­blik: Nerven von Robert Reinert mit Erna Morena, einer der großen Münchner Stumm­film­diven als Star des Films.
Reinerts Traumata-Reigen stellt in hyste­ri­schen Massen­szenen die revo­lu­ti­onären Unruhen in München während der ersten Nach­kriegs­mo­nate nach, und zeigt eine tief erschüt­terte und trau­ma­ti­sierte Gesell­schaft auf der Suche nach sich selbst. Ein Film als reißender Strom aus Schocks und Kata­stro­phen. Die Handlung beschreibt den Zerfall einer groß­bür­ger­li­chen Familie in einem Taumel aus Schuld und Sühne. Fabri­kanten und Propheten, Kommu­nis­tinnen aus gutem Haus und Nervenärzte – ein Melodram, in expres­siven Gesten und Farben.
Nerven zeigt einen völlig anderen Expres­sio­nismus, drei­di­men­sional, nicht flächig, ohne Zacken und schiefe Wände, kein Märchen­land, sondern Teil unserer Welt. Gegenüber Das Cabinet des Dr. Caligari ist Nerven ohne Frage der modernere Film. Weniger einfluss­reich, weil er sich weniger zum Dekors eignet.
Es ist immer Aufruhr in diesem Film, es kommt nichts zur Ruhe...
Robert Reinert, ein großes, verges­senes Talent, zeigt beispiel­haft den Einbruch des Unbe­wussten auf der deutschen Leinwand. Und er erzählt von der Zukunft: Masse, Krise, Ideologie.

Am 9. April 2019 wird Nerven in den Münchner Kammer­spielen mit einer Neukom­po­si­tion aufge­führt. Sie stammt vom Jewish Chamber Orchestra Munich und dem Münchner Kompo­nisten Richard Ruzicka, dem das Jewish Chamber Orchestra Munich einen Kompo­si­ti­ons­auf­trag vergab.

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Funk­ti­onäre statt Fakten. Als letzte Woche aus Brüssel die Nachricht kam, dass die Urhe­ber­rechts­ver­schlech­te­rung, euphe­mis­tisch »Reform« genannt, verab­schiedet wurde, da genügte ein Blick auf die Pres­se­mit­tei­lungen, um zu verstehen, was eigent­lich passiert war.
Allein, wer sich da alles öffent­lich freute, sollte uns miss­trau­isch machen: Die Produ­zen­ten­al­lianz, die SPIO, die Film­för­derer, das BKM – das sind ja sonst auch nicht die Freunde desje­nigen Films und Kino­ver­s­tänd­nisses, für das wir stehen. Es sind die Anwälte des Etablierten, der »Infamie des Bestehen« (Leo Löwenthal)
Kein einziger Kreativer ist vom Euro­pa­par­la­ment gestärkt worden, nur in der prak­ti­schen Arbeit behindert. Sie haben sich vor den Karren fremder Inter­essen spannen lassen, weil ihre »Krea­ti­vität« sie offenbar daran hindert, sich mit Fakten zu beschäf­tigen.
Im Übrigen wird wird alles bleiben wie es jetzt ist. Und Tages-Zeitungen sind trotzdem tot in ein paar Jahren, weil die Verlage zu dumm waren, um auf das Internet von Anfang an richtig zu reagieren.

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»Und das geht hin und eilt sich, daß es endet,/
und kreist und dreht sich nur und hat kein Ziel./
Ein Rot, ein Grün, ein Grau vorbei­ge­sendet,/
ein kleines kaum begon­nenes Profil -./«

Und manchesmal ein Lächeln, herge­wendet,/
ein seliges, das blendet und verschwendet/
an dieses atemlose blinde Spiel...

(to be continued)