Cinema Moralia – Folge 197
Der Risikoreichtum des Kinos |
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Juli Jakab in Sunset | ||
(Foto: MFA+) |
»Ich habe das Gefühl, die Erfahrungen, die das Publikum heutzutage im Kino macht, werden zunehmend unbefriedigender. Filme werden, um ein leichteres Verständnis zu gewährleisten, auf eine industrialisierte Sprache reduziert, wobei die eigene innere Reise des Zuschauers komplett ignoriert wird. Filme weigern sich, dem Publikum zu vertrauen.«
László Nemes, Regisseur von Son of Saul und Sunset im Presseheft zu Sunset»Was wird aus einer Zivilisation, die hinter der Bereitschaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag?«
Anne Dufourmantelle
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Das Leben ist kein Roman, sondern eine Skizze. Schon deswegen ist László Nemes' Film Sunset für mich einer der interessantesten Filme des Jahres. Gerade auch weil ich alles andere als ein großer Fan des unisono gefeierten Son of Saul war. Nemes' Stationendrama wirkte wie ein KZ-Disneyland. Das kann einem nicht gefallen. Es war zudem extrem manieriert, und ein gewollter Bruch mit den visuellen Konventionen. Im Fall der Shoah schien mir das obszön und moralisch verboten – aber für die Zeit der Jahrhundertwende funktioniert die Methode. Dieser Film hat mich gepackt. Zögerlich, aber um so fester.
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Nemes ist zwar Ungar, hat aber fast sein ganzes Leben in Frankreich verbracht. Wer ihn Französisch sprechen gehört hat, weiß, wo seine ästhetische Heimat liegt. Hüten wir uns also vor national-fixierten, identitären Auslegungen. Dies ist auch ein französischer Regisseur.
Ein spannendes Interview mit Nemes hat Ulrich Kriest für den Filmdienst geführt.
In Zeiten, in denen manche sehr gern und auch noch auftrumpfend den Unterschied zwischen Kino und Fernsehen einebnen oder gleich leugnen, erklärt er dort: »Ich bin der Überzeugung, dass sich das Kino vom Fernsehen unterscheiden sollte. Im Kino werden die tieferen Fragen gestellt; im Fernsehen werden die Antworten geliefert. Was ein Gefühl von Sicherheit vermittelt. Man sollte das nicht unterschätzen: das rührt tief und hat mit unseren Ängsten zu tun. Im Kino geht es aber immer auch um Kontrollverlust und um die Erfahrung eines ganz subjektiven Raumes für Imagination!«
Weil auch Nemes' Kommentare im Presseheft alle Aufmerksamkeit wert sind, zitieren wir diese jetzt im Folgenden einfach ausführlich.
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»Heutzutage wollen Filmemacher die Zuschauer in eine Richtung lenken, sie unaufhörlich in Sicherheit wiegen. Aber mein Ziel war es immer, neue Wege zu finden, wie ich dem Publikum eine subjektive Erfahrung von Ungewissheit und Zerbrechlichkeit vermitteln kann. Meiner Meinung nach können wir mehr erreichen, indem wir einen flüchtigen Eindruck von der Welt zeigen, aber nicht versuchen, sie vollständig sichtbar zu machen. Die Vorstellungskraft des Publikums tut dann schon den
Rest.
Ich finde die Standardisierung von Film und Fernsehen zweifelhaft und ich bleibe entschlossen, neue Wege zu finden, Bilder und Geschichten zu erzählen. Dabei verlasse ich mich nicht auf Methoden, die eine Geschichte übererzählen und alles in einen übergeordneten Kontext bringen müssen.
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Ich habe das Gefühl, die Erfahrungen, die das Publikum heutzutage im Kino macht, werden zunehmend unbefriedigender. Filme werden, um ein leichteres Verständnis zu
gewährleisten, auf eine industrialisierte Sprache reduziert, wobei die eigene innere Reise des Zuschauers komplett ignoriert wird. Filme weigern sich, dem Publikum zu vertrauen.
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In der Filmbranche verlässt man sich immer weniger auf reale Sets und greift immer öfter auf den Computer und visuelle Effekte zurück. Aber eigentlich finde ich, hat Kino mit der Magie von Physik, Optik und Chemie zu tun. Es handelt sich beim Film um einen Trick in der Wahrnehmung, von Licht und
Dunkelheit. Wir entschieden uns daher, ein Set in einer echten Stadt zu bauen – Budapest. Wir verwendeten photochemisch belichteten und entwickelten Film sowie echte Effekte. Außerdem haben wir kompliziert choreographierte, lange Szenen gedreht, um Sunset in einer körperlichen, den Naturgesetzen folgenden Welt zu verankern. Einer Welt, an die das Publikum glauben kann.
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Es
kommt mir so vor, als befinden wir uns wieder am Beginn einer neuen filmischen Ära, aber einer, die nicht mehr so leidenschaftlich ist. Möglicherweise stehen wir wieder an einem Scheideweg, und die Versuchung könnte uns auf einen Weg führen, auf dem die Standards und Regeln des Filmemachens starrer sind als jemals und nicht mehr hinterfragt werden. Unsere bedingungslose Liebe zur digitalen Technologie und die gängige stromlinienförmige Dramaturgie bergen jedoch in sich das
Risiko, dass die Magie und der nicht nachlassende Ideenreichtum des Kinos verloren gehen.«
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Wie eine vorweggenommene Bestätigung dazu wirkt das Buch »Lob des Risikos« (»Eloge du Risque«) der 2017 verstorbenen französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle, das nun auf Deutsch erschienen ist.
Für das, was man heute so für »riskant« hält, hat die Autorin nur Verachtung übrig: Aktivitäten, Extremsportarten – ein Symptom eines neurotischen Umgangs mit dem Unvorhergesehenen. Ebenso aber das Gegenteil: Der allgegenwärtige
Sicherheitswahn und die hysterischen Ängste der Mehrheitsgesellschaft – vom Überwachungsfanatismus der sogenannten »Sicherheitsbehörden« gar nicht zu reden.
Sie plädiert dafür, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, sich selbst abhanden zu kommen, und das Risiko »als Lebende vom Leben her und nicht vom Tod her zu denken«.
Anne Dufourmantelle: »Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse.« Aufbau Verlag, Berlin 2018
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»Vor einem Jahrhundert beging Europa, als es auf seinem Zenit stand, Selbstmord. Dieser Selbstmord bleibt für mich bis heute ein Rätsel. Es ist, als würde eine Gesellschaft, die auf ihrem Höhepunkt steht, bereits das Gift produzieren, das sie zu Fall bringt. Die Beschäftigung mit diesem Rätsel wurde zum Herzstück des Films. ... Ich glaube, wir leben in einer Welt, die nicht viel anders ist, als die kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Es ist eine Welt, die so gut wie blind für die
Kräfte der Zerstörung ist, die sie selbst aus ihrem Inneren heraus nährt. Wir sind nicht weit entfernt von den Vorgängen, wie sie in der österreichisch-ungarischen Monarchie stattgefunden haben. Geschichte passiert jetzt, und zwar in Mitteleuropa.«
(László Nemes)
(to be continued)