13.06.2019
Cinema Moralia – Folge 197

Der Risi­ko­reichtum des Kinos

Sunset
Juli Jakab in Sunset
(Foto: MFA+)

Unsere bedingungslose Liebe zur digitalen Technologie und die gängige stromlinienförmige Dramaturgie: Kommentare des ungarischen Regisseurs
László Nemes und eine Fußnote

Von Rüdiger Suchsland

»Ich habe das Gefühl, die Erfah­rungen, die das Publikum heut­zu­tage im Kino macht, werden zunehmend unbe­frie­di­gender. Filme werden, um ein leich­teres Vers­tändnis zu gewähr­leisten, auf eine indus­tria­li­sierte Sprache reduziert, wobei die eigene innere Reise des Zuschauers komplett ignoriert wird. Filme weigern sich, dem Publikum zu vertrauen.«
László Nemes, Regisseur von Son of Saul und Sunset im Pres­se­heft zu Sunset

»Was wird aus einer Zivi­li­sa­tion, die hinter der Bereit­schaft zum Risiko nur noch Heroismus, hellen Wahnsinn oder ein abstruses Verhalten zu sehen vermag?«
Anne Dufour­man­telle

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Das Leben ist kein Roman, sondern eine Skizze. Schon deswegen ist László Nemes' Film Sunset für mich einer der inter­es­san­testen Filme des Jahres. Gerade auch weil ich alles andere als ein großer Fan des unisono gefei­erten Son of Saul war. Nemes' Statio­nen­drama wirkte wie ein KZ-Disney­land. Das kann einem nicht gefallen. Es war zudem extrem manie­riert, und ein gewollter Bruch mit den visuellen Konven­tionen. Im Fall der Shoah schien mir das obszön und moralisch verboten – aber für die Zeit der Jahr­hun­dert­wende funk­tio­niert die Methode. Dieser Film hat mich gepackt. Zögerlich, aber um so fester.

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Nemes ist zwar Ungar, hat aber fast sein ganzes Leben in Frank­reich verbracht. Wer ihn Fran­zö­sisch sprechen gehört hat, weiß, wo seine ästhe­ti­sche Heimat liegt. Hüten wir uns also vor national-fixierten, iden­ti­tären Ausle­gungen. Dies ist auch ein fran­zö­si­scher Regisseur.

Ein span­nendes Interview mit Nemes hat Ulrich Kriest für den Film­dienst geführt.

In Zeiten, in denen manche sehr gern und auch noch auftrump­fend den Unter­schied zwischen Kino und Fernsehen einebnen oder gleich leugnen, erklärt er dort: »Ich bin der Über­zeu­gung, dass sich das Kino vom Fernsehen unter­scheiden sollte. Im Kino werden die tieferen Fragen gestellt; im Fernsehen werden die Antworten geliefert. Was ein Gefühl von Sicher­heit vermit­telt. Man sollte das nicht unter­schätzen: das rührt tief und hat mit unseren Ängsten zu tun. Im Kino geht es aber immer auch um Kontroll­ver­lust und um die Erfahrung eines ganz subjek­tiven Raumes für Imagi­na­tion!«

Weil auch Nemes' Kommen­tare im Pres­se­heft alle Aufmerk­sam­keit wert sind, zitieren wir diese jetzt im Folgenden einfach ausführ­lich.

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»Heut­zu­tage wollen Filme­ma­cher die Zuschauer in eine Richtung lenken, sie unauf­hör­lich in Sicher­heit wiegen. Aber mein Ziel war es immer, neue Wege zu finden, wie ich dem Publikum eine subjek­tive Erfahrung von Unge­wiss­heit und Zerbrech­lich­keit vermit­teln kann. Meiner Meinung nach können wir mehr erreichen, indem wir einen flüch­tigen Eindruck von der Welt zeigen, aber nicht versuchen, sie volls­tändig sichtbar zu machen. Die Vorstel­lungs­kraft des Publikums tut dann schon den Rest.
Ich finde die Stan­dar­di­sie­rung von Film und Fernsehen zwei­fel­haft und ich bleibe entschlossen, neue Wege zu finden, Bilder und Geschichten zu erzählen. Dabei verlasse ich mich nicht auf Methoden, die eine Geschichte über­er­zählen und alles in einen über­ge­ord­neten Kontext bringen müssen.
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Ich habe das Gefühl, die Erfah­rungen, die das Publikum heut­zu­tage im Kino macht, werden zunehmend unbe­frie­di­gender. Filme werden, um ein leich­teres Vers­tändnis zu gewähr­leisten, auf eine indus­tria­li­sierte Sprache reduziert, wobei die eigene innere Reise des Zuschauers komplett ignoriert wird. Filme weigern sich, dem Publikum zu vertrauen.
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In der Film­branche verlässt man sich immer weniger auf reale Sets und greift immer öfter auf den Computer und visuelle Effekte zurück. Aber eigent­lich finde ich, hat Kino mit der Magie von Physik, Optik und Chemie zu tun. Es handelt sich beim Film um einen Trick in der Wahr­neh­mung, von Licht und Dunkel­heit. Wir entschieden uns daher, ein Set in einer echten Stadt zu bauen – Budapest. Wir verwen­deten photo­che­misch belich­teten und entwi­ckelten Film sowie echte Effekte. Außerdem haben wir kompli­ziert choreo­gra­phierte, lange Szenen gedreht, um Sunset in einer körper­li­chen, den Natur­ge­setzen folgenden Welt zu verankern. Einer Welt, an die das Publikum glauben kann.
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Es kommt mir so vor, als befinden wir uns wieder am Beginn einer neuen filmi­schen Ära, aber einer, die nicht mehr so leiden­schaft­lich ist. Mögli­cher­weise stehen wir wieder an einem Schei­deweg, und die Versu­chung könnte uns auf einen Weg führen, auf dem die Standards und Regeln des Filme­ma­chens starrer sind als jemals und nicht mehr hinter­fragt werden. Unsere bedin­gungs­lose Liebe zur digitalen Tech­no­logie und die gängige strom­li­ni­en­för­mige Drama­turgie bergen jedoch in sich das Risiko, dass die Magie und der nicht nach­las­sende Ideen­reichtum des Kinos verloren gehen.«

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Wie eine vorweg­ge­nom­mene Bestä­ti­gung dazu wirkt das Buch »Lob des Risikos« (»Eloge du Risque«) der 2017 verstor­benen fran­zö­si­schen Philo­so­phin und Psycho­ana­ly­ti­kerin Anne Dufour­man­telle, das nun auf Deutsch erschienen ist.
Für das, was man heute so für »riskant« hält, hat die Autorin nur Verach­tung übrig: Akti­vi­täten, Extrem­sport­arten – ein Symptom eines neuro­ti­schen Umgangs mit dem Unvor­her­ge­se­henen. Ebenso aber das Gegenteil: Der allge­gen­wär­tige Sicher­heits­wahn und die hyste­ri­schen Ängste der Mehr­heits­ge­sell­schaft – vom Über­wa­chungs­fa­na­tismus der soge­nannten »Sicher­heits­behörden« gar nicht zu reden.
Sie plädiert dafür, sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, sich selbst abhanden zu kommen, und das Risiko »als Lebende vom Leben her und nicht vom Tod her zu denken«.
Anne Dufour­man­telle: »Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse.« Aufbau Verlag, Berlin 2018

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»Vor einem Jahr­hun­dert beging Europa, als es auf seinem Zenit stand, Selbst­mord. Dieser Selbst­mord bleibt für mich bis heute ein Rätsel. Es ist, als würde eine Gesell­schaft, die auf ihrem Höhepunkt steht, bereits das Gift produ­zieren, das sie zu Fall bringt. Die Beschäf­ti­gung mit diesem Rätsel wurde zum Herzstück des Films. ... Ich glaube, wir leben in einer Welt, die nicht viel anders ist, als die kurz vor dem Ersten Weltkrieg 1914. Es ist eine Welt, die so gut wie blind für die Kräfte der Zers­törung ist, die sie selbst aus ihrem Inneren heraus nährt. Wir sind nicht weit entfernt von den Vorgängen, wie sie in der öster­rei­chisch-unga­ri­schen Monarchie statt­ge­funden haben. Geschichte passiert jetzt, und zwar in Mittel­eu­ropa.«
(László Nemes)

(to be continued)