Cinema Moralia – Folge 200
Wann wird's mal wieder richtig Sommer? |
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Ein Farbbild, sommerlich: The Go-Between von Joseph Losey |
»Nachdem der Ingenieur sich das alles zum vierten Mal angesehen hatte, entschloss er sich, nicht wieder auszusteigen, in der festen Hoffnung, die Polizei würde schon irgendwie mit dem Stau fertig werden. Die Augusthitze nahm um diese Zeit in der Höhe der Reifen noch zu, so daß das Festgehaltenwerden immer mehr an die Nerven ging. Das Ganze war Benzingeruch, unbeherrschtes Geschrei der jungen Männer mit dem Simca, Sonnenstrahlen, die auf den Scheiben und Chromteilen lagen, und schier unerträglich wurde es bei dem Gedanken, in einem Dschungel von Maschinen eingeschlossen zu sein, die für schnelles Fahren bestimmt waren.«
Julio Cortázar: »Südliche Autobahn«
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Es ist Sommer, und war für einer. Es ist August. Hitze! Ferien!! Filmkunstwochen!!! Klar, wir könnten jetzt jammern, über den Klimawandel, und sibirische Kälte wünschen
Der Sommer gilt als ungünstige Zeit für das Kino, aber tatsächlich ist es die beste Zeit. Sie regt das Kino an, fordert es heraus, denn die großartigsten, schönsten Geschichten auf der Leinwand sind Sommergeschichten. Manche von ihnen laufen dieser Tage und noch bis zum 14. August bei den Münchner Filmkunstwochen, andere sollte man beim Kino seines Vertrauens anfragen, und mit Freunden so lange betten, bis es mal ins Programm genommen wird.
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Zu den allerbesten Sommerfilmen gehört für mich The Go-Between von Joseph Losey. Ich kann diesen Film gar nicht und Regisseir kaum – bis zu der September-Woche vor zwei Jahren, als beim Filmfestival von San Sebastián eine Losey-Retrospektive lief.
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»The past is a foreign country. They do things differently there.« Das steht am Anfang als Motto.
Wir sehen britische Gesellschaft, Silber, ein reiches Herrenhaus, voller Pracht, alte Bilder, Dienstbooten. Zwei Jungen, raufen, spielen, gehören zusammen, gleichalt, keine Brüder, keine Verwandten, bald verstehen wir: Schulfreunde. Der eine reich, der andere arm. Geld unterscheidet auch schon Kinder.
Die Rede kommt früh auf das Gift Belladonna, und Losey schneidet schamlos auf die Großaufnahme von Julie Christies Gesicht. »Schwester Marian«.
Zugrunde liegt ein Drehbuch von Harold Pinter, wesentlich ist auch die Kamera von Gerry Fisher und der tolle Soundtrack Michel Legrands. Ein Film der eigentlich auf den ersten Blick ganz unzeitgemäß ist für 1971, aber dann, auf den zweiten...
Die Hauptrollen vom Kinderstar Dominic Guard abgesehen: Julie Christie, Alan Bates, Margaret Leighton, Michael Gough, Edward Fox, Michael Redgrave.
Die Perspektive ist die des Gast, des Schulfreunds Leo. Er verbringt seine Sommerferien im reichen Herrenhaus des Freundes, bei Norwich. Er wird erwachsen werden in diesem Sommer.
Leo hört, wie sie über ihn sprechen. Die Mutter des Freundes nimmt seinen Arm. Er wird als Zauberer dargestellt, toll hier der Diskurs über Macht, er ist versteckt, aber das Verhältnis zwischen den Freunden, es ist von Anfang an keines zwischen Gleichen
Marian fragt ihn: »You are not going to bewitch us here, are you?« – »No I dont think so.«
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Wir sehen seine gesellschaftliche Unsicherheit. Am 27. (Juli) hat er Geburtstag: »born under the sign of Leo«. Der Erzähler (der nur ein, zweimal interveniert) sagt »You flew to near the sun and you were scorcged.«
Wir sehen eine Gesellschaft voller Lügen, voller Verrat – hinter perfekten Formen. Leo wird benutzt, Marian, das stellt sich heraus, braucht einen Vorwand, um in die Stadt zu gehen.
Die Musik Legrands geht direkt in die Emotion. Immer wieder wird in Bildern erzählt, gibt es längere Passagen ohne Dialog. Man kann hier einiges lernen über gelungenes Erzählen, effizient, aber im richtigen Moment gerade nicht.
Das Gewitter nach der Hitze, die Offenheit nach dem Geheimnis, reinigen nicht.
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Cortázars Geschichte »Südliche Autobahn« ist fesselnd in ihrer Nüchternheit, in der sie eine völlig irre Geschichte beschreibt, ein modernes Märchen: Ein Stau, der einfach nicht mehr aufgelöst wird, der bleibt bis zum Winter. Und so die Menschen in den Autos. Man müsste sie verfilmen, wie fast alles von diesem Autor, hätte das schon längst in den Sechziger Jahren tun müssen, wo Cortázar atmosphärisch hingehört – bei ihm denkt man immer an Zigaretten, Cabrios, Super-Constellation, an »Homo Faber«, Barthes, Antonioni (dessen Blow Up immerhin auf eine Cortázar-Story zurückgeht), französische Comics. Er ist absout modern auch in dem Sinn, dass er so fiktioonal, so realitätsabgelöst und trotzdem wirklichkeitsverhaftet ist, wie niemand sonst. Meine Leseempfehlung für alle Urlauber ist also: Cortázar lesen!
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Mein Lieblingsblogger, das kann ich zum 200. Jubiläum ja mal enthüllen, ist Bersarin. Ich kenne nichts was anregender wäre am Morgen, und besser formuliert zu jeder Tageszeit. Der Mann hat Geschmack, intellektuell wie politisch. Und sogar zum Kino hat er zuletzt öfters was zu sagen, zum Beispiel zuletzt in seinen »lose Notizen zu The Big Lebowski« .
Heute hat Bersarin mich traurig gemacht und mir einigen Stoff zum Nachdenken gegeben: Denn in seinem neuesten Eintrag schreibt er über den Fall »Read on« aka Sophie Hingst und die »tragische Verquickung sehr unterschiedlicher disparater Umstände.« (Wer nicht weiß, worum es hier geht, muss jetzt mal kurz auf
Wikipedia nachlesen). Gewohnt klug und differenziert.
In dem Text geht es einerseits um Hochstapelei – und wer öfter mal in »Read On« reingeschaut hat, konnte ahnen, dass da viel Fiktionales steht, das war ja auch der Reiz dieser Texte.
Vor allem schreibt er über das Dilemma eines Journalisten zwischen Berichterstatterpflicht und Humanität, zwischen Empathie/Mitgefühl und Abscheu.
»Ein Fall für die Literatur und doch ist es das ganz traurige, das schäbige Leben. Es ist eben leider doch keine Literatur. ... Der Titel ›Zum Fall Read on‹ ist nun doppelsinnig geworden: Es wurde Marie Sophie Hingsts Fall, im wahrsten Sinne des Wortes. Schwierig dazu die passenden Gedanken zu finden.«
Über die generellen Aspekte schreibt Bersarin einige Gedanken, die unbedingt und weit über den Fall hinaus bedenkenswert sind: »Nun ist freilich nichts dagegen zu sagen, wenn sich Menschen Geschichten ausdenken oder sich ein anderes Leben erfinden, mithin Fiktionen produzieren. Sofern jedoch die Fiktion als eigene Vita ausgegeben wird und solchermaßen ein Stück der faktischen Realität wird, dann fängt es an problematisch zu werden, insbesondere wenn daraus ein moralischer Mehrwert geschlagen wurde oder man mit seinem eignen Leben als Beispiel anderen eine Mahnung sein will. Gut gemeint vielleicht, aber schlecht gemacht. Daß das Spiel zwischen Literatur und Wirklichkeit durchaus auch eine literarische und damit auch eine ästhetisch legitime Dimension hat, indem bis ins Empirisch-Faktische hinein die Rollen von Autor, Romanfigur und Lebensensemble ins Schwimmen geraten, ist uns schon früh von der Literatur her bekannt, gehört zum Repertoire der Moderne, nicht nur der ästhetischen... Nun also das. Und wie immer die Frage nach dem Glashaus und nach den inhaltlichen Kriterien: die doppelten Standards. Darf man faken? Darf man das in einem Blog? Ja, grundsätzlich schon. Aber eben nur, sofern man gewisse Ansprüche und Standards durchhält. Beim Täuschen gibt es Grenzen. Nicht immer leicht auszumachen, fallabhängig oft.«
Wir denken an Tom Kummer, sogar ein bisschen an Relotius, an Takis Würger.
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Der Hinrichtungston mancher Kollegen, diese Bescheidwisserei einer Caroline Fetscher zum Beispiel geht mir wahnsinnig auf die Nerven; der ist inhuman in seinem moralisierenden Aplomb – so schreiben Sansculotten. Und da bin ich immer an der Seite von Anastasia, der Zarentochter.
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Nochmal Bersarin: »Ich finde das Danach sehr viel tragischer. Da beginnt für mich die eigentliche Geschichte. ... Ich will damit das Verhalten nicht entschuldigen, denn willig sahnte man die Preise ab, ließ sich belobhudeln, sonnte sich im Glanz, der anderen eben nicht zuteil wurde ... Dennoch: beim Steine-Schmeißen macht es sich diese Gesellschaft viel zu leicht. ... Wir müssen lernen, kritisch zu lesen. Aber gegen Lügen, die glaubwürdig präsentiert werden, hat es eben auch das kritische Lesen schwer. Da lobe ich mir dann doch wieder die Literatur. Sie darf alles, sie kann alles. Nur eben darf sie nicht ästhetisch mißlingen.«
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Der Blogger Don Alphonso gehörte bisher nicht zu meinen Lieblingsautoren, aber seine ungemein sympathische Betrachtung der Frau, die er kannte und des Falls (auf die Bersarin hinwies) schätze ich gerade wegen ihrer gnadenlosen Subjektivität und Unfairness (gegen die Überlebenden) sehr.
Er trifft den Punkt mehr als einmal, wenn er schreibt: »Der Spiegel hatte die Fakten,
aber kein Gefühl.«
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Über 440 Millionen Euro öffentlicher Filmförderung werden pro Jahr ausgegeben. Aber die Besucherzahlen im deutschen Kino sinken, für deutsche wie für ausländische Filme. Es kann also nicht alles richtig laufen im deutschen Film. Tut es auch nicht, wenn man der deutschen Filmbranche glaubt.
Für Kulturstaatsministerin Monika Grütters dagegen ist die Filmwelt weitgehend in Ordnung. Das Geld werde sinnvoll genutzt, lautet ihr Fazit in einem umfangreichen Interview, in dem
sich Grütters jetzt von der Süddeutschen Zeitung zur deutschen Filmkrise befragen ließ.
Auch sonst kommt die Staatsministerin darin nicht auf richtig zündende Ideen. »Behutsam umsteuern« müsse man, als ob Behutsamkeit nicht genau das falsche Signal wäre für eine deutsche Filmwirtschaft die diesen Namen nicht verdient, weil sie seit Jahren am Tropf der Förderung hängt – also alles andere als wirtschaftlich arbeitet. Schocktherapie wäre besser.
In welche Richtung es mit der Filmförderung nach Grütters Wunsch stattdessen gehen soll, bleibt aber völlig unklar. Mutlos zeigt sich die Staatsministerin, ein seichtes Einerseits-Andererseits ist ihr Motto:
Einerseits Standortförderung, andererseits Film als Kulturgut. Einerseits wird mehr Geld ausgegeben, um die kränkelnden Kinos zu unterstützen, andererseits schwadroniert Grütters von der Förderung von Streamingdiensten – aus Kinosicht die größte
Bedrohung. Interessant wäre es beides zu verbinden, also gemeinsame Karten oder Abonnementsysteme zu kreieren, Kinobetreiber als Kuratoren und Tipgeber für die Zuschauer einzusetzen, wie es etwa der feine Streaminganbieter MUBI mit Erfolg in Großbritannien tut.
Die deutsche Filmförderung aber, die offensichtlich weder wirtschaftlich, noch künstlerisch besonders erfolgreich ist, soll nicht geändert werden
Ausgerechnet »Flexibilität« ist Grütters Motto –
das Lieblingswort aller Neoliberalen.
Da wo wirklich interessante Vorschläge gemacht werden – etwa vom bayerischen Ministerpräsidenten Söder, der vor vier Wochen eine Bündelung der Länderförderung zu einer nationalen Filmagentur anregte – blockt Grütters ab.
Es ist ein merkwürdige Interview: Die Staatsministerin redet von Standorten, von wirtschaftlicher Faktoren, von Investitionen, ein bisschen von Kultur. Von Kunst aber redet sie fast gar nicht.
Und wenn sie über Kultur spricht, dann
wie eine Großraumköchin über das Kantinenessen. »Reichhaltig« sei der deutsche Film behauptet sie ausgerechnet im Vergleich mit dem höchst erfolgreichen Filmkulturland Frankreich. Dann müsste sie aber dazu sagen, dass im deutschen Kino fast nie Nouvelle Cuisine serviert wird, sondern deftige Hausmannskost mit viel Mehlschwitze.
Vielleicht sollte Grütters In Zukunft wenigstens konsequent sein, und ihr Kulturministerium in Ministerium für Kulturwirtschaft und
Standortpolitik umzubenennen.
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Shakespeare und das Kino – das ist ein unendliches Thema. Die Frage ob es ihn überhaupt gegeben hat, und ob er nicht der Philosoph und Diplomat Francis Bacon war, lassen wir jetzt einmal beiseite. Denn jener Autor aus Stratford war eigentlich ein Drehbuchautor, er schrieb für den Film, bevor es ihn gab: Voller schneller Schnitte, Überblendungen, Rückblenden, Traumsequenzen sind seine Stücke.
Bei den Filmkunstwochen läuft jetzt eine Reihe, die daran erinnert, dass es
nicht nur Laurence Olivier und Kenneth Brannagh waren, die Shakespeare ins Kino brachten: Besonders interessant finde ich immer die Übertragung in fremde Kulturen wie vom Japaner Akira Kurosawa (der zweimal in der Reihe vertreten ist) oder Milieus. So zum Beispiel respektlose Shakespeare-Umsetzungen ins High-School-Milieu wie Gil Jungers »Zehn Dinge, die ich an Dir hasse«, eine Variante von »Der Widerspenstigen Zähmung«.
Ganz besonders wunderbar in der aktuellen Reihe ist Max
Renhardts und Wilhelm Dieterles Verfilmung Ein Sommernachtstraum von 1935, Al Pacinos Looking for Richard von 1996 und Alarm im Weltall von 1956 (Regie: Fred McLeod Wilcox, mit Walter Pidgeon,
Anne Francis, Leslie Nielsen – eine Science-Fiction-Version von Shakespeares »The Tempest«.
Man könnte die Reihe bis Weihnachten fortsetzen, Filme von Franco Zeffirelli, Peter Brook und Derek Jarman zeigen. Vielleicht ja bei den Filmkunstwochen 2020?)