01.08.2019
Cinema Moralia – Folge 200

Wann wird's mal wieder richtig Sommer?

The Go-Between
Ein Farbbild, sommerlich: The Go-Between von Joseph Losey

The Go-Between: Kybernetischer Realismus, Strand-Lektüren, Read on, Grütters: Es nimmt kein Ende – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 200. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Nachdem der Ingenieur sich das alles zum vierten Mal angesehen hatte, entschloss er sich, nicht wieder auszu­steigen, in der festen Hoffnung, die Polizei würde schon irgendwie mit dem Stau fertig werden. Die August­hitze nahm um diese Zeit in der Höhe der Reifen noch zu, so daß das Fest­ge­hal­ten­werden immer mehr an die Nerven ging. Das Ganze war Benzin­ge­ruch, unbe­herrschtes Geschrei der jungen Männer mit dem Simca, Sonnen­strahlen, die auf den Scheiben und Chrom­teilen lagen, und schier uner­träg­lich wurde es bei dem Gedanken, in einem Dschungel von Maschinen einge­schlossen zu sein, die für schnelles Fahren bestimmt waren.«
Julio Cortázar: »Südliche Autobahn«

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Es ist Sommer, und war für einer. Es ist August. Hitze! Ferien!! Film­kunst­wo­chen!!! Klar, wir könnten jetzt jammern, über den Klima­wandel, und sibi­ri­sche Kälte wünschen

Der Sommer gilt als ungüns­tige Zeit für das Kino, aber tatsäch­lich ist es die beste Zeit. Sie regt das Kino an, fordert es heraus, denn die groß­ar­tigsten, schönsten Geschichten auf der Leinwand sind Sommer­ge­schichten. Manche von ihnen laufen dieser Tage und noch bis zum 14. August bei den Münchner Film­kunst­wo­chen, andere sollte man beim Kino seines Vertrauens anfragen, und mit Freunden so lange betten, bis es mal ins Programm genommen wird.

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Zu den aller­besten Sommer­filmen gehört für mich The Go-Between von Joseph Losey. Ich kann diesen Film gar nicht und Regisseir kaum – bis zu der September-Woche vor zwei Jahren, als beim Film­fes­tival von San Sebastián eine Losey-Retro­spek­tive lief.

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»The past is a foreign country. They do things differ­ently there.« Das steht am Anfang als Motto.

Wir sehen britische Gesell­schaft, Silber, ein reiches Herren­haus, voller Pracht, alte Bilder, Dienst­booten. Zwei Jungen, raufen, spielen, gehören zusammen, gleichalt, keine Brüder, keine Verwandten, bald verstehen wir: Schul­freunde. Der eine reich, der andere arm. Geld unter­scheidet auch schon Kinder.
Die Rede kommt früh auf das Gift Bella­donna, und Losey schneidet schamlos auf die Groß­auf­nahme von Julie Christies Gesicht. »Schwester Marian«.

Zugrunde liegt ein Drehbuch von Harold Pinter, wesent­lich ist auch die Kamera von Gerry Fisher und der tolle Sound­track Michel Legrands. Ein Film der eigent­lich auf den ersten Blick ganz unzeit­gemäß ist für 1971, aber dann, auf den zweiten...
Die Haupt­rollen vom Kinder­star Dominic Guard abgesehen: Julie Christie, Alan Bates, Margaret Leighton, Michael Gough, Edward Fox, Michael Redgrave.

Die Perspek­tive ist die des Gast, des Schul­freunds Leo. Er verbringt seine Sommer­fe­rien im reichen Herren­haus des Freundes, bei Norwich. Er wird erwachsen werden in diesem Sommer.

Leo hört, wie sie über ihn sprechen. Die Mutter des Freundes nimmt seinen Arm. Er wird als Zauberer darge­stellt, toll hier der Diskurs über Macht, er ist versteckt, aber das Verhältnis zwischen den Freunden, es ist von Anfang an keines zwischen Gleichen
Marian fragt ihn: »You are not going to bewitch us here, are you?« – »No I dont think so.«

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Wir sehen seine gesell­schaft­liche Unsi­cher­heit. Am 27. (Juli) hat er Geburtstag: »born under the sign of Leo«. Der Erzähler (der nur ein, zweimal inter­ve­niert) sagt »You flew to near the sun and you were scorcged.«

Wir sehen eine Gesell­schaft voller Lügen, voller Verrat – hinter perfekten Formen. Leo wird benutzt, Marian, das stellt sich heraus, braucht einen Vorwand, um in die Stadt zu gehen.

Die Musik Legrands geht direkt in die Emotion. Immer wieder wird in Bildern erzählt, gibt es längere Passagen ohne Dialog. Man kann hier einiges lernen über gelun­genes Erzählen, effizient, aber im richtigen Moment gerade nicht.

Das Gewitter nach der Hitze, die Offenheit nach dem Geheimnis, reinigen nicht.

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Cortázars Geschichte »Südliche Autobahn« ist fesselnd in ihrer Nüch­tern­heit, in der sie eine völlig irre Geschichte beschreibt, ein modernes Märchen: Ein Stau, der einfach nicht mehr aufgelöst wird, der bleibt bis zum Winter. Und so die Menschen in den Autos. Man müsste sie verfilmen, wie fast alles von diesem Autor, hätte das schon längst in den Sechziger Jahren tun müssen, wo Cortázar atmo­sphärisch hingehört – bei ihm denkt man immer an Ziga­retten, Cabrios, Super-Constel­la­tion, an »Homo Faber«, Barthes, Antonioni (dessen Blow Up immerhin auf eine Cortázar-Story zurück­geht), fran­zö­si­sche Comics. Er ist absout modern auch in dem Sinn, dass er so fiktioonal, so reali­täts­ab­ge­löst und trotzdem wirk­lich­keits­ver­haftet ist, wie niemand sonst. Meine Lese­emp­feh­lung für alle Urlauber ist also: Cortázar lesen!

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Mein Lieb­lings­blogger, das kann ich zum 200. Jubiläum ja mal enthüllen, ist Bersarin. Ich kenne nichts was anre­gender wäre am Morgen, und besser formu­liert zu jeder Tageszeit. Der Mann hat Geschmack, intel­lek­tuell wie politisch. Und sogar zum Kino hat er zuletzt öfters was zu sagen, zum Beispiel zuletzt in seinen »lose Notizen zu The Big Lebowski« .
Heute hat Bersarin mich traurig gemacht und mir einigen Stoff zum Nach­denken gegeben: Denn in seinem neuesten Eintrag schreibt er über den Fall »Read on« aka Sophie Hingst und die »tragische Verqui­ckung sehr unter­schied­li­cher dispa­rater Umstände.« (Wer nicht weiß, worum es hier geht, muss jetzt mal kurz auf Wikipedia nachlesen). Gewohnt klug und diffe­ren­ziert.
In dem Text geht es einer­seits um Hoch­sta­pelei – und wer öfter mal in »Read On« rein­ge­schaut hat, konnte ahnen, dass da viel Fiktio­nales steht, das war ja auch der Reiz dieser Texte.

Vor allem schreibt er über das Dilemma eines Jour­na­listen zwischen Bericht­erstat­ter­pflicht und Humanität, zwischen Empathie/Mitgefühl und Abscheu.
»Ein Fall für die Literatur und doch ist es das ganz traurige, das schäbige Leben. Es ist eben leider doch keine Literatur. ... Der Titel ›Zum Fall Read on‹ ist nun doppel­sinnig geworden: Es wurde Marie Sophie Hingsts Fall, im wahrsten Sinne des Wortes. Schwierig dazu die passenden Gedanken zu finden.«

Über die gene­rellen Aspekte schreibt Bersarin einige Gedanken, die unbedingt und weit über den Fall hinaus beden­kens­wert sind: »Nun ist freilich nichts dagegen zu sagen, wenn sich Menschen Geschichten ausdenken oder sich ein anderes Leben erfinden, mithin Fiktionen produ­zieren. Sofern jedoch die Fiktion als eigene Vita ausge­geben wird und solcher­maßen ein Stück der fakti­schen Realität wird, dann fängt es an proble­ma­tisch zu werden, insbe­son­dere wenn daraus ein mora­li­scher Mehrwert geschlagen wurde oder man mit seinem eignen Leben als Beispiel anderen eine Mahnung sein will. Gut gemeint viel­leicht, aber schlecht gemacht. Daß das Spiel zwischen Literatur und Wirk­lich­keit durchaus auch eine lite­ra­ri­sche und damit auch eine ästhe­tisch legitime Dimension hat, indem bis ins Empirisch-Faktische hinein die Rollen von Autor, Roman­figur und Leben­s­en­semble ins Schwimmen geraten, ist uns schon früh von der Literatur her bekannt, gehört zum Reper­toire der Moderne, nicht nur der ästhe­ti­schen... Nun also das. Und wie immer die Frage nach dem Glashaus und nach den inhalt­li­chen Kriterien: die doppelten Standards. Darf man faken? Darf man das in einem Blog? Ja, grund­sätz­lich schon. Aber eben nur, sofern man gewisse Ansprüche und Standards durchhält. Beim Täuschen gibt es Grenzen. Nicht immer leicht auszu­ma­chen, fall­ab­hängig oft.«

Wir denken an Tom Kummer, sogar ein bisschen an Relotius, an Takis Würger.

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Der Hinrich­tungston mancher Kollegen, diese Bescheid­wis­serei einer Caroline Fetscher zum Beispiel geht mir wahn­sinnig auf die Nerven; der ist inhuman in seinem mora­li­sie­renden Aplomb – so schreiben Sans­cu­lotten. Und da bin ich immer an der Seite von Anastasia, der Zaren­tochter.

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Nochmal Bersarin: »Ich finde das Danach sehr viel tragi­scher. Da beginnt für mich die eigent­liche Geschichte. ... Ich will damit das Verhalten nicht entschul­digen, denn willig sahnte man die Preise ab, ließ sich belob­hu­deln, sonnte sich im Glanz, der anderen eben nicht zuteil wurde ... Dennoch: beim Steine-Schmeißen macht es sich diese Gesell­schaft viel zu leicht. ... Wir müssen lernen, kritisch zu lesen. Aber gegen Lügen, die glaub­würdig präsen­tiert werden, hat es eben auch das kritische Lesen schwer. Da lobe ich mir dann doch wieder die Literatur. Sie darf alles, sie kann alles. Nur eben darf sie nicht ästhe­tisch mißlingen.«

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Der Blogger Don Alphonso gehörte bisher nicht zu meinen Lieb­lings­au­toren, aber seine ungemein sympa­thi­sche Betrach­tung der Frau, die er kannte und des Falls (auf die Bersarin hinwies) schätze ich gerade wegen ihrer gnaden­losen Subjek­ti­vität und Unfair­ness (gegen die Über­le­benden) sehr.
Er trifft den Punkt mehr als einmal, wenn er schreibt: »Der Spiegel hatte die Fakten, aber kein Gefühl.«

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Über 440 Millionen Euro öffent­li­cher Film­för­de­rung werden pro Jahr ausge­geben. Aber die Besu­cher­zahlen im deutschen Kino sinken, für deutsche wie für auslän­di­sche Filme. Es kann also nicht alles richtig laufen im deutschen Film. Tut es auch nicht, wenn man der deutschen Film­branche glaubt.
Für Kultur­staats­mi­nis­terin Monika Grütters dagegen ist die Filmwelt weit­ge­hend in Ordnung. Das Geld werde sinnvoll genutzt, lautet ihr Fazit in einem umfang­rei­chen Interview, in dem sich Grütters jetzt von der Süddeut­schen Zeitung zur deutschen Filmkrise befragen ließ.

Auch sonst kommt die Staats­mi­nis­terin darin nicht auf richtig zündende Ideen. »Behutsam umsteuern« müsse man, als ob Behut­sam­keit nicht genau das falsche Signal wäre für eine deutsche Film­wirt­schaft die diesen Namen nicht verdient, weil sie seit Jahren am Tropf der Förderung hängt – also alles andere als wirt­schaft­lich arbeitet. Schock­the­rapie wäre besser.

In welche Richtung es mit der Film­för­de­rung nach Grütters Wunsch statt­dessen gehen soll, bleibt aber völlig unklar. Mutlos zeigt sich die Staats­mi­nis­terin, ein seichtes Einer­seits-Ande­rer­seits ist ihr Motto:
Einer­seits Stand­ort­för­de­rung, ande­rer­seits Film als Kulturgut. Einer­seits wird mehr Geld ausge­geben, um die krän­kelnden Kinos zu unter­s­tützen, ande­rer­seits schwa­dro­niert Grütters von der Förderung von Strea­ming­diensten – aus Kinosicht die größte Bedrohung. Inter­es­sant wäre es beides zu verbinden, also gemein­same Karten oder Abon­ne­ment­sys­teme zu kreieren, Kino­be­treiber als Kuratoren und Tipgeber für die Zuschauer einzu­setzen, wie es etwa der feine Strea­ming­an­bieter MUBI mit Erfolg in Groß­bri­tan­nien tut.
Die deutsche Film­för­de­rung aber, die offen­sicht­lich weder wirt­schaft­lich, noch künst­le­risch besonders erfolg­reich ist, soll nicht geändert werden
Ausge­rechnet »Flexi­bi­lität« ist Grütters Motto – das Lieb­lings­wort aller Neoli­be­ralen.

Da wo wirklich inter­es­sante Vorschläge gemacht werden – etwa vom baye­ri­schen Minis­ter­prä­si­denten Söder, der vor vier Wochen eine Bündelung der Länder­för­de­rung zu einer natio­nalen Film­agentur anregte – blockt Grütters ab.
Es ist ein merk­wür­dige Interview: Die Staats­mi­nis­terin redet von Stand­orten, von wirt­schaft­li­cher Faktoren, von Inves­ti­tionen, ein bisschen von Kultur. Von Kunst aber redet sie fast gar nicht.
Und wenn sie über Kultur spricht, dann wie eine Großraum­köchin über das Kanti­nen­essen. »Reich­haltig« sei der deutsche Film behauptet sie ausge­rechnet im Vergleich mit dem höchst erfolg­rei­chen Film­kul­tur­land Frank­reich. Dann müsste sie aber dazu sagen, dass im deutschen Kino fast nie Nouvelle Cuisine serviert wird, sondern deftige Haus­manns­kost mit viel Mehl­schwitze.
Viel­leicht sollte Grütters In Zukunft wenigs­tens konse­quent sein, und ihr Kultur­mi­nis­te­rium in Minis­te­rium für Kultur­wirt­schaft und Stand­ort­po­litik umzu­be­nennen.

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Shake­speare und das Kino – das ist ein unend­li­ches Thema. Die Frage ob es ihn überhaupt gegeben hat, und ob er nicht der Philosoph und Diplomat Francis Bacon war, lassen wir jetzt einmal beiseite. Denn jener Autor aus Stratford war eigent­lich ein Dreh­buch­autor, er schrieb für den Film, bevor es ihn gab: Voller schneller Schnitte, Über­blen­dungen, Rück­blenden, Traum­se­quenzen sind seine Stücke.
Bei den Film­kunst­wo­chen läuft jetzt eine Reihe, die daran erinnert, dass es nicht nur Laurence Olivier und Kenneth Brannagh waren, die Shake­speare ins Kino brachten: Besonders inter­es­sant finde ich immer die Über­tra­gung in fremde Kulturen wie vom Japaner Akira Kurosawa (der zweimal in der Reihe vertreten ist) oder Milieus. So zum Beispiel respekt­lose Shake­speare-Umset­zungen ins High-School-Milieu wie Gil Jungers »Zehn Dinge, die ich an Dir hasse«, eine Variante von »Der Wider­spens­tigen Zähmung«.
Ganz besonders wunderbar in der aktuellen Reihe ist Max Renhardts und Wilhelm Dieterles Verfil­mung Ein Sommer­nachts­traum von 1935, Al Pacinos Looking for Richard von 1996 und Alarm im Weltall von 1956 (Regie: Fred McLeod Wilcox, mit Walter Pidgeon, Anne Francis, Leslie Nielsen – eine Science-Fiction-Version von Shake­speares »The Tempest«.
Man könnte die Reihe bis Weih­nachten fort­setzen, Filme von Franco Zeffi­relli, Peter Brook und Derek Jarman zeigen. Viel­leicht ja bei den Film­kunst­wo­chen 2020?)