14.11.2019
Cinema Moralia – Folge 206

Expect the Unex­pected

Irishman
The Irishman: Kino und Kunst alter Männer
(Foto: Netflix)

Kino als Kunstform: Scorsese, Netflix, und die Verteidigung des Risikos – Cinema Moralia, Tagebuch eines Kinogängers, 206. Folge

Von Rüdiger Suchsland

»Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigen Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unter­ginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, daß ich viel­leicht von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwor­tete ich, weil alle Steine auf einmal eins­türzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbe­schreib­lich erqui­ckenden Trost, der mir bis zu dem entschei­denden Augen­blicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt.«

Heinrich von Kleist an Wilhel­mine von Zenge, 16.11.1800

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Er ist der fran­zö­sischste unter den deutschen Filme­ma­chern: Rudolf Thome. Der Regisseur so groß­ar­tiger Filme wie Rote Sonne, Berlin Chamis­so­platz, System ohne Schatten, Ins Blaue. Der war 2012 leider Thomes bislang letzter Film.

An diesem Donnerstag wird Rudolf Thome 80 Jahre alt. Wir gratu­lieren! Und hoffen wie er selbst darauf, dass er mal wieder einen Film machen darf. Die Tatsache, dass das nicht möglich ist, weil seine Verdienste nicht berück­sich­tigt werden, sein Werk und seine Art zu arbeiten zu wenig Aner­ken­nung finden, jeden­falls bei den Macht­ha­bern der deutschen Film- und Förder­szene, ist einer der großen Skandale in der schänd­li­chen Gegenwart unseres Betriebs. Die, die sich ihm verwei­gern, werden dafür zu Recht in der Hölle schmoren. Das Kino-Publikum aber muss schon heute büßen.

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»When you talk about film noir, for me I was born in ‘42, so 1945 I was being taken to the movies all the time, and I was just… taken to the movies. They were not noir, they were movies. ... And so I was very much exposed to this kind of thinking, and this darkness, early on – going from ›Out of the Past‹, which I saw in 1948, to ›Blood on the Moon‹ and the noir westerns. ...«

This tone. It’s something when you’re 11 or 12 years old and you go to theatres that are third-run or fourth-run on Second Avenue, and they’re showing beat-up prints, and you paid 15 cents to get in. And you keep seeing »The Big Heat«, because it’s on a double-bill.

Martin Scorsese

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Revision der Geschichte oder Abgesang fragt Verena Lueken in der FAZ ange­sichts The Irishman, Martin Scorseses neuen Films. Natürlich beides! lautet die Antwort.

Die eigent­liche Pointe dieser Frage ist aber die, dass sie von der FAZ gerade auch in ganz anderer Hinsicht gestellt wird, und dass man sie gleich­zeitig, wie das unter uns Dialek­ti­kern guter Brauch ist, auch gegen den Frage­steller selber wenden kann.

Denn der FAZ geht es nicht gut, in jedem Fall finan­ziell. Das hat die Feier­laune nicht getrübt, im Gegenteil: Zur Geburts­tags­party zum 70. Geburtstag Ende Oktober lud die FAZ neben vielen anderen auch Alexander Gauland ein, jenen rechts­extremen Politiker, über den FAZ-Mither­aus­geber Berthold Kohler noch vor einem knappen Jahr schrieb: »Brand­stifter im Bieder­mann-Sakko«. Jetzt ist dieser Zerstörer der Demo­kratie Gast der FAZ.

Jeder, der es wissen will, weiß natürlich, dass eine ganze Menge der AfD-Politiker der ersten Stunde frus­trierte Ex-Autoren der FAZ waren: Auch Gauland. Jeder weiß auch darum, dass die FAZ in den ersten Nach­kriegs­jahr­zehnten viele Nazis der Zeit vor ‘45 in der Redaktion aufnahm, die das Blatt bis in die 70er Jahre prägten.

Und man ahnt, wie viel AfD-Sympa­thi­santen heute unter den Abon­nenten und Lesern sind. Aber ist das Grund genug, die Feinde der Demo­kratie zu hofieren? Steht es schon so schlecht um die Zeitung, dass sie jetzt zum braunen Strohhalm greift?

Revision der Geschichte oder Abgesang, FAZ?

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Will wirklich noch jemand wissen, wie es damals war? fragt die FAZ zu Scorseses Film. Ja klar. Was für eine Frage! Und nicht nur von Scorsese will man Mafia-Geschichten und Männer-Geschichten im Kino hören. Man will aber auch noch etwas anderes wissen: Denn die FAZ-Kritik mündet leider auch in eine Litanei über das angeb­liche Ende des Kinos: »Insofern ist The Irishman, eine Netflix-Produk­tion, die ab Donnerstag in einigen Kinos läuft, bevor sie gegen Ende des Monats zum Streamen frei­ge­geben wird, auch ein Kommentar Martin Scorseses zu seinem eigenen Werk, seiner Kunst und dem Kino. Unsen­ti­mental, eine Art Summe des Ganzen, zu einem Zeitpunkt, da das Kino seine Macht an die Strea­ming­dienste abgegeben hat. Es ist ein langsamer Abschied, nicht endgültig, nicht radikal, aber deutlich eher dem Ende zugeneigt als den Anfang noch einmal herbei­seh­nend.«

Die Selbst­auf­gabe des Kinos, die in solchen Sätzen implizit beschworen wird, ist weit mehr als die Selbst­auf­gabe des Kinos. Sie passt zu dem, was in manchen Zeitungs­häu­sern gerade geschieht: Es ist die Aufgabe unserer Freiheit, unserer Lebens­form. Die Freiheit von Netflix ist das Ende unseres Denkens.

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Scorsese selbst sieht es offenbar anders. In einem Essay in der »New York Times« wettert er gegen Marvel-Filme: »When I was in England in early October, I gave an interview to Empire magazine. I was asked a question about Marvel movies. I answered it. I said that I've tried to watch a few of them and that they're not for me, that they seem to me to be closer to theme parks than they are to movies as I've known and loved them throug­hout my life, and that in the end, I don’t think they're cinema. ...«

For me, for the film­ma­kers I came to love and respect, for my friends who started making movies around the same time that I did, cinema was about reve­la­tion – aesthetic, emotional and spiritual reve­la­tion. It was about charac­ters – the comple­xity of people and their contra­dic­tory and sometimes para­do­xical natures, the way they can hurt one another and love one another and suddenly come face to face with them­selves.

... [today] there are some in the business with absolute indif­fe­rence to the very question of art and an attitude toward the history of cinema that is both dismis­sive and proprie­tary – a lethal combi­na­tion. The situation, sadly, is that we now have two separate fields: There’s worldwide audio­vi­sual enter­tain­ment, and there’s cinema. They still overlap from time to time, but that’s becoming incre­asingly rare. And I fear that the financial dominance of one is being used to margi­na­lize and even belittle the existence of the other.

Wenn Marvel nicht Kino ist – was zumindest in gewisser Weise stimmt – dann heißt das im Umkehr­schluss natürlich auch, dass es sehr wohl Kino außerhalb des Kinos gibt, auf Streaming-Servern.

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»Cinema is an art form that brings you the unex­pected. In superhero movies, nothing is at risk.«

Es geht also um die Abschaf­fung des Risikos. Wer das Risiko scheut, das gilt für Künstler wie für Demo­kraten, wird nicht unter­gehen. Er ist schon tot.

(to be continued)