Cinema Moralia – Folge 206
Expect the Unexpected |
||
The Irishman: Kino und Kunst alter Männer | ||
(Foto: Netflix) |
»Ich ging an jenem Abend vor dem wichtigen Tage meines Lebens in Würzburg spazieren. Als die Sonne herabsank, war es mir, als ob mein Glück unterginge. Mich schauerte, wenn ich dachte, daß ich vielleicht von allem scheiden müßte, von allem, was mir teuer ist. Da ging ich, in mich gekehrt, durch das gewölbte Tor, sinnend zurück in die Stadt. Warum, dachte ich, sinkt wohl das Gewölbe nicht ein, da es doch keine Stütze hat? Es steht, antwortete ich, weil alle Steine auf einmal einstürzen wollen – und ich zog aus diesem Gedanken einen unbeschreiblich erquickenden Trost, der mir bis zu dem entscheidenden Augenblicke immer mit der Hoffnung zur Seite stand, daß auch ich mich halten würde, wenn alles mich sinken läßt.«
Heinrich von Kleist an Wilhelmine von Zenge, 16.11.1800
+ + +
Er ist der französischste unter den deutschen Filmemachern: Rudolf Thome. Der Regisseur so großartiger Filme wie Rote Sonne, Berlin Chamissoplatz, System ohne Schatten, Ins Blaue. Der war 2012 leider Thomes bislang letzter Film.
An diesem Donnerstag wird Rudolf Thome 80 Jahre alt. Wir gratulieren! Und hoffen wie er selbst darauf, dass er mal wieder einen Film machen darf. Die Tatsache, dass das nicht möglich ist, weil seine Verdienste nicht berücksichtigt werden, sein Werk und seine Art zu arbeiten zu wenig Anerkennung finden, jedenfalls bei den Machthabern der deutschen Film- und Förderszene, ist einer der großen Skandale in der schändlichen Gegenwart unseres Betriebs. Die, die sich ihm verweigern, werden dafür zu Recht in der Hölle schmoren. Das Kino-Publikum aber muss schon heute büßen.
+ + +
»When you talk about film noir, for me I was born in ‘42, so 1945 I was being taken to the movies all the time, and I was just… taken to the movies. They were not noir, they were movies. ... And so I was very much exposed to this kind of thinking, and this darkness, early on – going from ›Out of the Past‹, which I saw in 1948, to ›Blood on the Moon‹ and the noir westerns. ...«
This tone. It’s something when you’re 11 or 12 years old and you go to theatres that are third-run or fourth-run on Second Avenue, and they’re showing beat-up prints, and you paid 15 cents to get in. And you keep seeing »The Big Heat«, because it’s on a double-bill.
Martin Scorsese
+ + +
Revision der Geschichte oder Abgesang fragt Verena Lueken in der FAZ angesichts The Irishman, Martin Scorseses neuen Films. Natürlich beides! lautet die Antwort.
Die eigentliche Pointe dieser Frage ist aber die, dass sie von der FAZ gerade auch in ganz anderer Hinsicht gestellt wird, und dass man sie gleichzeitig, wie das unter uns Dialektikern guter Brauch ist, auch gegen den Fragesteller selber wenden kann.
Denn der FAZ geht es nicht gut, in jedem Fall finanziell. Das hat die Feierlaune nicht getrübt, im Gegenteil: Zur Geburtstagsparty zum 70. Geburtstag Ende Oktober lud die FAZ neben vielen anderen auch Alexander Gauland ein, jenen rechtsextremen Politiker, über den FAZ-Mitherausgeber Berthold Kohler noch vor einem knappen Jahr schrieb: »Brandstifter im Biedermann-Sakko«. Jetzt ist dieser Zerstörer der Demokratie Gast der FAZ.
Jeder, der es wissen will, weiß natürlich, dass eine ganze Menge der AfD-Politiker der ersten Stunde frustrierte Ex-Autoren der FAZ waren: Auch Gauland. Jeder weiß auch darum, dass die FAZ in den ersten Nachkriegsjahrzehnten viele Nazis der Zeit vor ‘45 in der Redaktion aufnahm, die das Blatt bis in die 70er Jahre prägten.
Und man ahnt, wie viel AfD-Sympathisanten heute unter den Abonnenten und Lesern sind. Aber ist das Grund genug, die Feinde der Demokratie zu hofieren? Steht es schon so schlecht um die Zeitung, dass sie jetzt zum braunen Strohhalm greift?
Revision der Geschichte oder Abgesang, FAZ?
+ + +
Will wirklich noch jemand wissen, wie es damals war? fragt die FAZ zu Scorseses Film. Ja klar. Was für eine Frage! Und nicht nur von Scorsese will man Mafia-Geschichten und Männer-Geschichten im Kino hören. Man will aber auch noch etwas anderes wissen: Denn die FAZ-Kritik mündet leider auch in eine Litanei über das angebliche Ende des Kinos: »Insofern ist The Irishman, eine Netflix-Produktion, die ab Donnerstag in einigen Kinos läuft, bevor sie gegen Ende des Monats zum Streamen freigegeben wird, auch ein Kommentar Martin Scorseses zu seinem eigenen Werk, seiner Kunst und dem Kino. Unsentimental, eine Art Summe des Ganzen, zu einem Zeitpunkt, da das Kino seine Macht an die Streamingdienste abgegeben hat. Es ist ein langsamer Abschied, nicht endgültig, nicht radikal, aber deutlich eher dem Ende zugeneigt als den Anfang noch einmal herbeisehnend.«
Die Selbstaufgabe des Kinos, die in solchen Sätzen implizit beschworen wird, ist weit mehr als die Selbstaufgabe des Kinos. Sie passt zu dem, was in manchen Zeitungshäusern gerade geschieht: Es ist die Aufgabe unserer Freiheit, unserer Lebensform. Die Freiheit von Netflix ist das Ende unseres Denkens.
+ + +
Scorsese selbst sieht es offenbar anders. In einem Essay in der »New York Times« wettert er gegen Marvel-Filme: »When I was in England in early October, I gave an interview to Empire magazine. I was asked a question about Marvel movies. I answered it. I said that I've tried to watch a few of them and that they're not for me, that they seem to me to be closer to theme parks than they are to movies as I've known and loved them throughout my life, and that in the end, I don’t think they're cinema. ...«
For me, for the filmmakers I came to love and respect, for my friends who started making movies around the same time that I did, cinema was about revelation – aesthetic, emotional and spiritual revelation. It was about characters – the complexity of people and their contradictory and sometimes paradoxical natures, the way they can hurt one another and love one another and suddenly come face to face with themselves.
... [today] there are some in the business with absolute indifference to the very question of art and an attitude toward the history of cinema that is both dismissive and proprietary – a lethal combination. The situation, sadly, is that we now have two separate fields: There’s worldwide audiovisual entertainment, and there’s cinema. They still overlap from time to time, but that’s becoming increasingly rare. And I fear that the financial dominance of one is being used to marginalize and even belittle the existence of the other.
Wenn Marvel nicht Kino ist – was zumindest in gewisser Weise stimmt – dann heißt das im Umkehrschluss natürlich auch, dass es sehr wohl Kino außerhalb des Kinos gibt, auf Streaming-Servern.
+ + +
»Cinema is an art form that brings you the unexpected. In superhero movies, nothing is at risk.«
Es geht also um die Abschaffung des Risikos. Wer das Risiko scheut, das gilt für Künstler wie für Demokraten, wird nicht untergehen. Er ist schon tot.
(to be continued)